Zivilrechtliche Nebengebiete

Handelsrecht

Handelsregister und sonstige Rechtsscheintatbestände

Publizität des Handelsregisters, Negative Publizität, § 15 Abs. 1 HGB (Rosinentheorie)

Publizität des Handelsregisters, Negative Publizität, § 15 Abs. 1 HGB (Rosinentheorie)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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inkl. MoPeG

A und B sind Komplementäre der X-KG. Im Gesellschaftsvertrag ist gemeinschaftliche Vertretung durch A und B vorgesehen. B scheidet aus, sein Ausscheiden wird nicht zur Eintragung im Handelsregister angemeldet. A schließt nach Bs Ausscheiden einen Kaufvertrag mit V. V verlangt von B Zahlung des Kaufpreises.

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Einordnung des Falls

Publizität des Handelsregisters, Negative Publizität, § 15 Abs. 1 HGB (Rosinentheorie)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Bs Ausscheiden ist eine eintragungspflichtige Tatsache (§ 15 Abs. 1 HGB).

Genau, so ist das!

§ 15 Abs. 1 HGB schützt das Vertrauen in das Fehlen einzutragender Tatsachen. Damit sind eintragungspflichtige (und nach § 10 HGB bekannt zu machende) Tatsachen gemeint. Das Ausscheiden des Komplementärs einer KG ist zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§§ 161 Abs. 2 i.V.m. 106 Abs. 6 HGB). § 15 Abs. 1 HGB greift in der Regel bei deklaratorisch wirkenden Eintragungen, da bei konstitutiv wirkenden Eintragungen die Tatsache bei fehlender Eintragung gar keine Wirkung entfaltet. Im Zeitraum zwischen Eintragung und Bekanntmachung wirkt § 15 Abs. 1 HGB aber auch bei konstitutiv wirkenden Eintragungen.
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2. Bs Ausscheiden wurde nicht in das Handelsregister eingetragen (§ 15 Abs. 1 HGB).

Ja, in der Tat!

Entscheidend für die Rechtsscheingrundlage des § 15 Abs. 1 HGB ist, dass Eintragung in das Handelsregister oder/und Bekanntmachung fehlen. Ein Dritter wird bereits geschützt, wenn die Tatsache eingetragen und nur die Bekanntmachung unterlassen wurde. Ausschlaggebend ist also, ob die Bekanntmachung im Zeitpunkt des Vorgangs vollzogen war. Der Vertrauensschutz greift nicht, wenn eine Eintragung versäumt wurde, die Bekanntmachung aber ordnungsgemäß erfolgt ist. Bs Ausscheiden wurde nicht zur Eintragung in das Handelsregister angemeldet. Eine Bekanntmachung ist ebenfalls nicht erfolgt.

3. V wusste nichts von Bs Ausscheiden im Zeitpunkt des Vertragsschlusses (§ 15 Abs. 1 HGB).

Ja!

Bei positiver Kenntnis des Dritten von der nicht eingetragenen Tatsache scheidet der Vertrauensschutz aus. Die Gutgläubigkeit des Dritten wird widerlegbar vermutet. Geschützt wird ein abstraktes Vertrauen. Der Dritte muss also nicht gerade im Vertrauen auf das Fehlen der Eintragung und Bekanntmachung eine Handlung vorgenommen haben. Anzeichen dafür, dass V das Ausscheiden von B kannte, gibt es nicht. Es ist daher von seiner Unkenntnis auszugehen.

4. A und B können Vs Kaufpreisanspruch Bs Ausscheiden aus der KG nicht entgegenhalten (§ 15 Abs. 1 HGB).

Genau, so ist das!

Derjenige, in dessen Angelegenheit die Tatsache einzutragen war, kann diese einem Dritten nicht entgegenhalten. Betroffen ist, wem die Eintragung und Bekanntmachung einzuleiten oblag. Dem Dritten steht jedoch ein Wahlrecht zu: Er kann auch auf den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB verzichten und sich stattdessen auf die wirkliche Rechtslage berufen, wenn dies für ihn vorteilhaft ist. Das Ausscheiden eines Gesellschafters ist von sämtlichen Gesellschaftern zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden (§§ 161 Abs. 2, 106 Abs. 6 HGB). A und B können Vs Inanspruchnahme des B dessen Ausscheiden nicht entgegenhalten, V durfte auf das diesbezügliche Schweigen des Handelsregisters vertrauen (§ 15 Abs. 1 HGB).

5. Sich bezüglich einer Tatsache bei verschiedenen Sachverhalten einmal auf die wirkliche Rechtslage und einmal auf den Inhalt des Handelsregisters zu berufen, ist nach herrschender Meinung möglich (§ 15 Abs. 1 HGB).

Ja, in der Tat!

Nach einer Ansicht muss der Dritte hier eine generelle Entscheidung darüber treffen, ob er sich auf § 15 Abs. 1 HGB beruft. Argument: Würde dem Dritten gestattet, dies für einzelne Merkmale selektiv zu entscheiden, stehe er günstiger, als es dem Registerinhalt entspreche. Nach herrschender Rosinen- bzw. Meistbegünstigungstheorie kann sich der Dritte teilweise auf die Anwendung des § 15 Abs. 1 HGB und teilweise auf die wirkliche Rechtslage berufen. Argument: Dies entspreche dem alleinigen Zweck der Norm, den Dritten zu schützen (abstrakter Verkehrsschutz). Der Registerinhalt sei nicht in seiner Gesamtheit zu würdigen. Die Änderung, auf die sich der Dritte beruft, könnte sich auch durch einen anderen Vorgang als den nicht bekannt gemachten ergeben haben.

6. Bezüglich des Zustandekommens des Kaufvertrags ist es für V vorteilhaft, auf den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB zu verzichten und sich auf die wahre Rechtslage zu berufen.

Ja!

Dem Dritten steht ein Wahlrecht zu: Er kann auf den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB verzichten und sich stattdessen auf die wirkliche Rechtslage berufen. Im Gesellschaftsvertrag ist Gesamtvertretung vereinbart (§§ 161 Abs. 2, 124 Abs. 2 S. 1 HGB), beim Vertragsschluss mit V hat jedoch nur A gehandelt. Nach der sich aus dem Handelsregister ergebenden Rechtslage (=A und B sind Komplementäre) handelte A ohne Vertretungsmacht. Der Kaufvertrag wäre nicht zustande gekommen und V hätte keinen Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB. Es ist für V daher diesbezüglich vorteilhaft, sich auf die wahre Rechtslage zu berufen, nach der nur A Komplementär ist. Dann hätte A die X-KG wirksam vertreten (§ 164 Abs. 1 S. 1 BGB) und der Kaufvertrag wäre zustande gekommen.

7. Bezüglich der Haftung des B ist es für V vorteilhaft, den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB in Anspruch zu nehmen und das Ausscheiden nicht entgegenhalten zu lassen.

Genau, so ist das!

Dem Dritten steht ein Wahlrecht zu: Er kann auf den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB verzichten und sich stattdessen auf die wirkliche Rechtslage berufen. B ist aus der X-KG ausgeschieden, sodass eine Haftung für danach begründete Gesellschaftsschulden aus §§ 161 Abs. 2, 128 S. 1 HGB scheitert. Aus dem Handelsregister ergibt sich, dass B noch Komplementär ist und als solcher für Gesellschaftsschulden haftet (§§ 161 Abs. 2, 126 S. 1 HGB). Bezüglich der Geltendmachung des Anspruchs gegenüber B ist es für V daher vorteilhaft, den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB in Anspruch zu nehmen und sich auf das Schweigen des Handelsregisters zu berufen. Dann gilt B noch als Gesellschafter und haftet persönlich für Vs Kaufpreisanspruch (§ 433 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 161 Abs. 2, 126 S. 1 HGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

jeci

jeci

4.7.2024, 12:53:49

Ein gutes Beispiel dafür, wie eine recht abstrakte Aussage (hier die Möglichkeit des "Rosinenpickens") im weiteren Verlauf mit praktischen Beispielen unterlegt wird, damit man sich besser was darunter vorstellen kann.

Foxxy

Foxxy

19.7.2024, 15:02:00

Hallo, vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Foxxy, für das Jurafuchs-Team

Lord Denning

Lord Denning

27.7.2024, 20:34:54

Liebes Jurafuchs-Team, bei diesem Fall wäre es für das Verständnis ungemein hilfreich, wenn man ganz fallösungsorientiert die Fragen stellen würde. Denn erst so kommt man auf die Rosinenpickerei: „1. Gesellschaftsverbindlichkeit (wurde die Gesellschaft wirksam vertreten; eigentlich ja Gesamtvertretung formell aber materiell hat ja nur noch A Vertretungmacht) 2. Gesellschafterhaftung B eigentlich gar nicht mehr materiell Gesellschafter, aber formell gem. § 15 I HGB schon. Widerspruch?“ Vielen Dank :))

CR7

CR7

20.8.2024, 13:16:30

Im vorliegenden Fall geht es um die negative Publizität des Handelsregisters gemäß § 15 Abs. 1 HGB. Diese Norm schützt Dritte, wie V, vor nicht eingetragenen Tatsachen. Was nicht im Handelsregister steht, gilt im Rechtsverkehr als nicht geschehen. Das Ausscheiden von B aus der X-KG wurde nicht eingetragen, weshalb V sich darauf berufen kann, dass B weiterhin als Gesellschafter gilt und für die Verbindlichkeiten der KG haftet. Gleichzeitig könnte V vor dem Problem stehen, dass der Vertragsschluss durch A alleine unwirksam wäre, weil der Gesellschaftsvertrag eine gemeinschaftliche Vertretung von A und B vorsieht. A hätte also möglicherweise nicht alleine handeln dürfen, was für V nachteilig wäre. Hier kommt jedoch die sogenannte

Rosinentheorie

ins Spiel: V hat ein Wahlrecht und kann sich entscheiden, auf den Schutz des § 15 Abs. 1 HGB zu verzichten, wenn es für ihn nachteilig wäre. Er kann sagen, dass er in Bezug auf den Vertragsschluss die tatsächliche Rechtslage akzeptiert, also dass A die KG wirksam alleine vertreten hat, da B ausgeschieden ist. Gleichzeitig kann V sich hinsichtlich der Haftung von B auf § 15 Abs. 1 HGB berufen und behaupten, dass B noch als Gesellschafter gilt, da sein Ausscheiden nicht eingetragen wurde. Damit kann V den Vertragsschluss für wirksam erklären und trotzdem B in Anspruch nehmen – das ist der Kern der

Rosinentheorie

. Warum sagt die h.M., dass das möglich ist? § 15 Abs. 1 HGB ist eine Schutzvorschrift zugunsten des Rechtsverkehrs, also derjenigen Personen, die auf das Handelsregister vertrauen. Ihr Zweck ist es, Dritte vor negativen Folgen zu schützen, wenn eine eintragungspflichtige Tatsache nicht im Handelsregister steht. Der Gedanke dahinter ist, dass der Dritte nicht schlechter gestellt werden darf, nur weil eine Tatsache nicht eingetragen wurde. Die h.M. sagt daher, dass es im Interesse des Dritten liegt, sich selektiv auf den Inhalt des Handelsregisters oder die wahre Rechtslage zu berufen, je nachdem, was für ihn vorteilhafter ist. Da § 15 Abs. 1 HGB nur den Dritten schützt, steht es ihm frei, je nach Sachverhalt zu entscheiden, ob er den Schutz dieser Vorschrift in Anspruch nimmt oder nicht. Der Schutz soll letztlich nicht vom Zufall abhängen. Eine a.A. meint jedoch, dass sich der Dritte widersprüchlich verhalte und das Wahlrecht daher nur einheitlich auszuüben sei.


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