Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Stellvertretung

Handeln unter fremden Namen: Identitätstäuschung

Handeln unter fremden Namen: Identitätstäuschung

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
Tags
Klassisches Klausurproblem
streitig (Rechtsprechung vs. Lehre)
Examensklassiker

A möchte seine alte Miniatureisenbahn auf eBay verkaufen. Weil er keinen eigenen Account hat, nutzt er den gut bewerteten Account „Butterblume123“ seiner Freundin F ohne deren Wissen. Das Passwort lag offen auf dem Schreibtisch. B ist Höchstbietender und verlangt Lieferung von F.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

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Einordnung des Falls

Handeln unter fremden Namen: Identitätstäuschung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 12 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A hat durch Einstellen des Gebots eine Willenserklärung zum Verkauf der Miniatureisenbahn an den Höchstbietenden abgegeben.

Genau, so ist das!

Nach § 6 Nr. 2 eBay-AGB (Stand: 1.5.2018) gibt der Verkäufer durch Einstellen eines Artikels im Auktionsformat ein verbindliches Angebot zum Vertragsabschluss über diesen Artikel ab. Die Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) ergibt, dass A mit der Auktionseröffnung ein verbindliches Angebot (§ 145 BGB) unter der aufschiebenden Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB) abgegeben hat, dass der Mindestpreis erzielt wird.
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2. A hat in fremdem Namen gehandelt.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach dem Offenkundigkeitsprinzip wird der Geschäftspartner des Vertretenen in seiner Privatautonomie geschützt, indem der Vertreter nach § 164 Abs. 1 BGB entweder ausdrücklich (S. 2. Alt. 1) oder konkludent (S. 2 Alt. 2) beim Handeln gegenüber dem Erklärungsempfänger erkennen lässt, dass das Rechtsgeschäft Fremdwirkung hat. Hier möchte A die Miniatureisenbahn selbst verkaufen und dabei selbst Vertragspartner werden. Es handelt sich daher um ein Handeln unter fremdem Namen. Beim Handeln unter fremdem Namen sind Identitätstäuschung und eine bloße Namenstäuschung zu unterscheiden.

3. A war von F bevollmächtigt (§ 167 BGB analog).

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Vertretungsmacht kann sich (1) aus Rechtsgeschäft (gewillkürte Vertretung), (2) aus Gesetz oder (3) aus organschaftlicher Stellung in einer Gesellschaft (gesetzliche und organschaftliche Vertretung) ergeben. Vorliegend hat F den A nicht zur Stellvertretung berechtigt. Gleichzeitig kommt auch eine gesetzliche Stellvertretung nicht in Betracht. Damit lag keine Vollmacht des A zur Stellvertretung der F vor.

4. A ist durch den Rechtsschein der Duldungsvollmacht zur Stellvertretung berechtigt.

Nein, das trifft nicht zu!

Eine Duldungsvollmacht liegt vor, wenn (1) der Vertretene von dem Auftreten des unbefugten Dritten als Vertreter Kenntnis hat und (2) ihn dennoch gewähren lässt. Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ergibt sich, dass der Erklärungsempfänger, soweit er gutgläubig ist, die Duldung unter Berücksichtigung der Verkehrssitte auch dahin verstehen darf, dass der Handelnde eine Vollmacht habe. BGH: F weiß von der Benutzung des Accounts durch A nichts. Dementsprechend kann ihr Verhalten auch nicht als Duldung ausgelegt werden.

5. A ist durch den Rechtsschein der Anscheinsvollmacht zur Stellvertretung der F berechtigt.

Nein!

Eine Anscheinsvollmacht liegt vor, wenn (1) der Vertretene bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt das Verhalten des Vertreters hätte erkennen müssen und (2) dies hätte verhindern können. Das Verhalten muss außerdem (3) von einer gewissen Dauer und Häufigkeit sein. Der Geschäftspartner darf - wenn er gutgläubig ist - annehmen, der Vertretene dulde das Verhalten des vermeintlichen Vertreters. BGH: Dass F die Zugangsdaten im häuslichen Bereich nicht hinreichend vor dem Zugriff des A geschützt hat, heißt für sich genommen nicht, dass sie das Verhalten des A bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen müssen. Mit einer unbefugten Nutzung ihres Mitgliedskontos durch A musste sie nicht rechnen. Überdies fehlt es an der erforderlichen gewissen Häufigkeit oder Dauer der unbefugten Verwendung des Mitgliedskontos.

6. Wer beim Handeln unter fremden Namen aus dem Geschäft berechtigt und verpflichtet wird, richtet sich danach, wer aus Sicht des Erklärenden Vertragspartner werden soll.

Nein, das trifft nicht zu!

Maßgeblich ist die Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers. Entscheidend ist, ob bei der Art des konkreten Rechtsgeschäfts nach objektivem Empfängerhorizont die Identität des Vertragspartners von Bedeutung ist. Bei einem Geschäft, bei dem die Identität des Vertragspartners nicht relevant ist, erwartet ein objektiver Erklärungsempfänger, einen Vertrag mit der Person zu schließen, die vor ihm steht. Verwendet diese nicht ihren eigenen Namen, ist dies eine bloße Namenstäuschung und der Vertrag kommt zwischen dem Handelnden und dem Erklärungsempfänger zustande. Ist die Identität des Vertragspartners dagegen für ein Geschäft von Bedeutung, erwartet ein Erklärungsempfänger, mit dem wahren Namensträger zu kontrahieren. Ist dies nicht die Person, die den Namen für sich verwendet, liegt eine Identitätstäuschung vor, auf die die §§ 169 ff. BGB analog Anwendung finden. Mehr zur Abgrenzung und analogen Anwendung der §§ 169 ff. BGB hier.

7. Es liegt ein Fall der Identitätstäuschung vor.

Ja!

Entscheidend ist, ob bei der Art des konkreten Rechtsgeschäfts nach objektivem Empfängerhorizont die Identität des Vertragspartners von Bedeutung ist. Bei Käufen auf Internetplattformen hat der Käufer ein Interesse daran, mit einem bestimmten Accountinhaber zu kontrahieren, u.a. um durch Bewertungen Sicherheit über die ordnungsgemäße Abwicklung des Vertrags zu haben. Daher liegt hier ein Fall der Identitätstäuschung vor. Somit sind die §§ 164 ff. BGB analog anwendbar.

8. Nach Ansicht der Literatur ist die Anwendung der Grundsätze der Duldungs- und Anscheinsvollmacht auf den Fall der Nutzung eines fremden Kontos unpassend.

Genau, so ist das!

Die Rechtsprechung löst die Fälle der Nutzung eines fremden Kontos wie geprüft über die Grundsätze der Duldungs- und Anscheinsvollmacht. Eine verbreitete Ansicht in der Literatur hält dies für verfehlt: Duldungs- und Anscheinsvollmacht beruhen auf dem Vertrauen in die Vollmacht des Handelnden. Beim Handeln unter fremdem Namen ist das Handeln für einen Dritten dagegen nach außen nicht erkennbar. Wenn aber für den Geschäftspartner nicht einmal erkennbar ist, dass der Handelnde für einen Dritten handelt, kann sich auch kein Vertrauen in eine Bevollmächtigung ergeben. Selbst wenn die Voraussetzungen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht hier erfüllt wären, bestünde daher gar kein darauf basierender Rechtsschein.

9. Nach Ansicht der Literatur kommt eine Rechtsscheinhaftung daher nicht in Betracht.

Nein, das trifft nicht zu!

Dass die Grundsätze der Anscheins- und Duldungsvollmacht nach Ansicht der Literatur nicht passend sind, heißt noch nicht, dass nach dieser Ansicht insgesamt keine Rechtsscheinhaftung greifen kann. Vielmehr liegt nach Ansicht der Literatur gerade in der Tatsache, dass das Konto passwortgeschützt ist und deshalb normalerweise nur von seinem Inhaber genutzt werden kann, ein Rechtsschein vor. Wie bei der Vollmachtsurkunde (§ 172 BGB) könne der Rechtsverkehr bei einem passwortgeschützen Konto berechtigterweise darauf schließen und vertrauen, dass der Handelnde tatsächlich autorisiert ist (in diesem Fall sogar der Kontoinhaber selbst ist). Daher kommt eine Rechtsscheinhaftung analog § 172 BGB in Betracht. Rechtsfolge wäre, dass F wirksam nach §§ 433 I, 172 BGB analog verpflichtet wäre. Neben dem (1) Bestehen des Rechtsscheins wären dafür weitere Voraussetzungen: (2) Zurechenbarkeit des Rechtsscheins an F, (3) Ursächlichkeit des Rechtsscheins für die Disposition des B sein und (4) Gutgläubigkeit des B. Im Detail besteht in der Literatur Uneinigkeit darüber, wann ein Konto ausreichender Rechtsscheinsträger ist. Die überwiegende Auffassung lässt wie hier dargestellt den Passwortschutz genügen. Zum Teil wird ein Rechtsschein aber auch nur angenommen, wenn das Konto erst nach einer Identitätsprüfung (zB Post-Identverfahren) vergeben wird.

10. Nach Ansicht des BGHs ist das Konto dagegen kein tauglicher Rechtsscheinträger.

Ja!

Ein schutzwürdiger Rechtsschein, der zu einer Haftung des Vertretenen auf das positive Interesse führt, setzt einen Rechtsscheinträger voraus, auf den der Geschäftsgegner legitimerweise sein Vertrauen stützt. BGH: Zwar kommt den Zugangsdaten für eine Internetplattform eine Identifikationsfunktion zu, da das Mitgliedskonto nicht übertragbar und das ihm zugeordnete Passwort geheim zu halten ist. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten des Ausspähens und „Diebstahls“ von Zugangsdaten ("Phishing") kann aber nicht zuverlässig geschlossen werden, dass unter einem registrierten Mitgliedsnamen ausschließlich dessen tatsächlicher Inhaber auftritt. Hier ist ein anderes Ergebnis, das sich wie die Literatur auf den Vergleich zu § 172 BGB stützt, sehr gut vertretbar. Zu bedenken ist auch, dass heutzutage (anders als im Zeitpunkt der BGH-Entscheidung) die Zwei-Faktor-Authentisierung (2FA) weit verbreitet ist, was Konten zusätzlichen Schutz bietet.

11. Auch nach Ansicht der Literatur scheidet die Rechtsscheinhaftung analog § 172 BGB aber mangels Zurechenbarkeit hier im Ergebnis aus.

Genau, so ist das!

Neben dem (1) Bestehen eines Rechtsscheins sind weitere Voraussetzungen der Rechtsscheinhaftung (2) die Zurechenbarkeit des Rechtsscheins demjenigen gegenüber, zu dessen Lasten er wirken soll, (3) die Ursächlichkeit des Rechtsscheins für die Disposition des Dritten und (4) die Gutgläubigkeit des Dritten. Selbst wenn man mit der Literatur einen Rechtsschein bejaht (1), wäre für die Zurechenbarkeit (2) analog § 172 BGB ein bewusstes zur-Verfügung-stellen des Kontos (etwa durch die Weitergabe von Passwörtern) erforderlich. Nur dieses entspricht der Aushändigung einer Vollmachtsurkunde, § 172 Abs. 1 BGB. Ein bloßer Sicherungsmangel des Kontos kann die Zurechenbarkeit ebenso wenig begründen, wie es bei § 172 Abs. 1 BGB die bloß unsorgfältige Verwahrung einer Vollmachtsurkunde kann, die der Vertreter eigenmächtig an sich bringt. Hierin liegt ein Unterschied zur Rechtsfigur der Anscheinsvollmacht: Dort kann fahrlässiges Handeln für die Zurechenbarkeit genügen, da bei der Anscheinsvollmacht Rechtsschein das Handeln des Vertreters von einer gewissen Dauer und Häufigkeit ist. Bei § 172 Abs. 1 BGB und der hier diskutieren analogen Anwendung geht es dagegen um einen nur „punktuellen” Rechtsschein, also die einmalige Nutzung. Daher müssen an die Zurechenbarkeit höhere Anforderungen gestellt werden. Mangels bewussten zur-Verfügung-stellen scheidet die Zurechenbarkeit daher hier aus. Auch hier ist sich die Literatur teils uneins. Vereinzelt wird in der Literatur vertreten, es genüge für die Zurechenbarkeit, wenn der Kontoinhaber fahrlässig den Zugriff auf das Konto ermögliche. Angesichts des Vergleichs mit der Vollmachtsurkunde überzeugt dies aber nicht.

12. Es liegt keine Vollmacht vor und es greift kein Rechtsscheintatbestand. Der Vertrag ist schwebend unwirksam, § 177 Abs. 1 BGB analog.

Ja, in der Tat!

Bei der Identitätstäuschung kommt das Geschäft zwischen dem Vertragspartner und dem wahren Namensträger in analoger Anwendung des § 164 Abs. 1 BGB zustande, wenn die handelnde Person Vertretungsmacht hat. Besteht keine Vertretungsmacht, so sind die §§ 177, 179 BGB analog anzuwenden. Nach § 177 Abs. 1 BGB analog kann der wahre Namensträger den Vertrag genehmigen und somit an sich ziehen. A hatte weder Vollmacht noch greift ein Rechtsscheintatbestand. Somit handelte A ohne Vertretungsmacht. Wenn F den Vertrag genehmigt, wird sie dadurch Vertragspartnerin. Tut sie das nicht, haftet A nach § 179 BGB analog.
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