Strafrecht

Strafrecht Allgemeiner Teil

Subjektiver Tatbestand

Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit („besonders gefährliche Gewaltanwendung gegenüber Kind“)

Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit („besonders gefährliche Gewaltanwendung gegenüber Kind“)

22. November 2024

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

Aus Verärgerung, dass sich der zweijährige Sohn S seiner Freundin eingenässt hat, tritt T dem auf dem Rücken liegenden S mit seinem Fuß so auf den Bauch, dass die Bauchdecke 15 cm tief eingedrückt wird. Obwohl S schreit, dreht T seinen Fuß mehrfach. S erleidet massive innere Blutungen und stirbt.

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Einordnung des Falls

Abgrenzung Eventualvorsatz/ bewusste Fahrlässigkeit („besonders gefährliche Gewaltanwendung gegenüber Kind“)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Aus der offensichtlichen Lebensbedrohlichkeit des Verhaltens des T kann darauf geschlossen werden, dass T den Tod des S billigend in Kauf nahm (voluntatives Element des Vorsatzes).

Genau, so ist das!

BGH: Dem äußeren Tatgeschehen komme hier ein hoher Indizwert zu: T habe sich mit seinem Gewicht so auf den Bauch des Kindes gestellt, dass die Bauchdecke fast das Rückgrat berührte, und habe den Druck trotz der Schreie und Bitten des Kindes nicht nur nicht vermindert, sondern durch die Drehbewegung des Fußes noch verstärkt. Der Eintritt schwerer Verletzungen sei danach offensichtlich gewesen. Gerade das zusätzliche Drehen des Fußes - wie beim Zertreten eines Insekts - lasse den auf der Hand liegenden Schluss zu, dass T zu diesem Zeitpunkt so verärgert gewesen sei, dass er den Tod des Kindes billigend in Kauf genommen habe.
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2. Die Lebensgefährlichkeit einer Handlung belegt den mindestens bedingten Tötungsvorsatz.

Nein, das trifft nicht zu!

Die hM nimmt die Abgrenzung Vorsatz / Fahrlässigkeit anhand des voluntativen Elements vor: Der Täter hat bedingten Vorsatz, wenn er den Erfolg ernsthaft für möglich hält und sich mit ihm abfindet. (Ernstnahmetheorie der hL) bzw. den als möglich erkannten Erfolg billigend in Kauf nimmt (Billigungstheorie der Rspr.). Dabei müssen beide Elemente der inneren Tatseite, sowohl das Wissens- als auch das Willenselement, umfassend geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung ist zwar ein wesentlicher Indikator. Nichtsdestotrotz ist auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen eine Gesamtbetrachtung der Tat unter Einbeziehung aller – auch über den Gefahrengrad der Handlung hinausgehenden – Umstände erforderlich.

3. T hat erkannt, dass durch seine Einwirkung auf S die Gefahr lebensbedrohender Verletzungen bestand (kognitives Element des Vorsatzes).

Genau, so ist das!

BGH: T habe seinen Fuß ganz bewusst tief in den Bauch des S hineingedrückt und gedreht. Dass angesichts der massiven Einwirkung auf einen ungeschützten Körperteil eines Kindes, die durch die Drehbewegung noch intensiviert wurde, die Gefahr lebensbedrohender Verletzungen bestand, sei offensichtlich. Weder sei T's Schuldfähigkeit vermindert gewesen noch habe er sich sonst in einer psychischen Ausnahmesituation befunden. Er sei lediglich über eine an sich alltägliche Situation verärgert gewesen. Das Wissenselement des bedingten Tötungsvorsatzes sei damit ausreichend mit Tatsachen belegt.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Die Eule

Die Eule

6.5.2020, 15:02:29

Bei so einem Fall wünscht man sich, der wäre nur komplett erfunden... schreckliche Sache!

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

7.5.2020, 21:21:40

Absolut!!

Der BGBoss

Der BGBoss

29.11.2020, 20:46:48

Hab ich mir auch gerade gedacht!

IS

IsiRider

23.10.2022, 14:06:59

In solchen Fällen frage ich mich, ob diese Menschen überhaupt zurechnungsfähig sind. Ich hatte den Eindruck, dass der Täter so in seiner Wut war, genervt war, dass er seinen Verstand ausgeschaltet hat.

SHE

Shermy25

18.7.2020, 07:35:11

Ist nicht nach der neueren Rechtsprechung des BGH die offensichtliche Gefährlichkeit der Handlung gerade nicht mehr allein ausreichend? Sie ist zwar starkes Indiz für die Annahme eines Tötungs

vorsatz

es, es muss aber trotzdem im Einzelfall festgestellt werden, ober der Täter ernsthaft darauf vertraut haben könnte, dass das Opfer nicht zu Tode kommen werde.

Speetzchen

Speetzchen

4.4.2021, 22:45:44

Yes, da hast du Recht. z.B BGH, Urt.v. 18.06.2020 - 4 StR 482/19, bestätigt deine Auffassung noch mal !

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.5.2021, 10:22:09

Hallo ihr beiden, ihr habt absolut Recht, dass man grds. nicht allein auf die Handlung und deren Lebensgefährlichkeit abstellen kann, sondern eine Gesamtschau vornehmen muss. Deswegen ist hier die erste Frage auch mit "stimmt nicht" zu beantworten gewesen. Nichtsdestotrotz stellt die (offensichtliche) Lebensgefährlichkeit ein sehr starkes Indiz. Auch in der von Speetzchen zitierten Entscheidung billigt der BGH im Ergebnis, dass aufgrund der Gefährlichkeit der Rennfahrt auf dolus eventualis geschlossen wird (Rn. 30 ff). Voraussetzung hierfür ist lediglich, dass man sich daneben auch mit den sog. "

vorsatz

kritischen" Elementen auseinandersetzt. Das heißt, gibt es im konkreten Fall besondere Umstände, die es nahelegen, dass trotz der Lebensgefährlichkeit nicht einmal bedingter

Vorsatz

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.5.2021, 10:24:11

vorliegt. Dies hat der BGH im vorliegenden Fall nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass das Kind hier "wie ein Insekt" zertreten wurde, verneint. Insofern liegen keine ausreichenden Anhaltspunkte vor, die der Indizwirkung der Handlung hier entgegenstehen würden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Speetzchen

Speetzchen

6.5.2021, 13:32:28

super, vielen Dank für die ausführliche Antwort 🙆

I-m-possible

I-m-possible

14.7.2021, 21:35:35

Als Mutter eines Kleinkindes liest sich der Sachverhalt als schwere "Kost".

Wendelin Neubert

Wendelin Neubert

14.7.2021, 23:31:41

Hallo Im-possible, danke für deinen Kommentar. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass manche unserer Aufgaben im Strafrecht an die Substanz gehen. Die dahinter stehenden Lebenssachverhalte entstammen oft der Rechtsprechung des BGH, und leider hält die vom BGH zu behandelnde Realität unaussprechliche Grausamkeiten bereit. Wir hoffen, durch unsere Aufgaben das rechtliche Handwerkzeug sachlich zu vermitteln, ohne die Realität auszublenden. Dahinter steht auch unsere Überzeugung, dass die sachliche und realitätsbezogene juristische Ausbildung eine Voraussetzung dafür bildet, dass unser Rechtssystem materielle Gerechtigkeit gerade auch für die Opfer schwerer Straftaten und ihre Angehörigen gewährleisten kann. Hoffe das hilft! Herzliche Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team

Cosmonaut

Cosmonaut

19.2.2024, 09:29:42

Nur so lässt sich die vielzitierte „allgemeine Lebenserfahrung“, deren Grenzen wir in unseren Gutachten ständig abtasten sollen, wenigstens ansatzweise auch an Mittzwanziger-Studis vermitteln. Schrecklich, der Fall. @[Wendelin Neubert](409) Was ich mich fragte: Warum hat die StA nicht „Heimtücke-Mord“ angeklagt, dann in der Fallgruppe des schutzbereiten Dritten? Die Mutter hat ja nur deshalb ihren Sohn alleine gelassen, weil sie arglos darauf vertraute, dass ihm nichts geschehen würde.

BBE

bibu knows best

19.6.2022, 12:19:08

Kurze Frage am Rande: wäre

225 StGB

(Misshandlung von Schutzbefohlenen) tateinheitlich verwirklicht ? Also tritt nicht im Wege der Konkurrenz zurück ?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

20.6.2022, 10:31:39

Hallo bibu knows best, in der Tat ist hier auch § 225 Abs. 1 Nr. 1 StGB tateinheitlich verwirklicht. Aus Klarstellungsgründen tritt dies auch nicht im Rahmen der Konkurrenzen hinter das Tötungsdelikt zurück (vgl. MüKoStGB/Hardtung, 4. Aufl. 2021, StGB § 225 Rn. 40). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FUCH

Fuchsfrauchen

14.4.2023, 14:01:28

Was wäre, wenn T das Kind nicht töten wollte und auch wirklich vertraut hat, dass das nicht passiert? Ich kann mir schon vorstellen, dass es Menschen gibt, denen es nicht bewusst ist, wie schnell ein Kind sterben kann. Dann wäre es ja eigentlich nur eine

bewusst fahrlässig

e Handlung und kein bedingter

Vorsatz

mehr. Würde das dann vor Gericht "korrigiert" werden, indem man sagt, er hätte nicht darauf vertrauen dürfen, weil hier objektiv offensichtlich eine große Gefahr bestand, sodass man wieder beim bedingten

Vorsatz

landet?

EB

Elias Von der Brelie

10.6.2023, 20:49:49

Ich bin alles andere als ein Experte, aber so wie ich das verstanden habe gibt es bestimmte Umstände wo das Gericht Unterstellt, dass jeder voll zurechnungsfähige Mensch die Auswirkungen des Handelns erkennen müsste. Hier würde meiner Meinung nach Problemlos argumentiert werden, dass der Mann hätte erkennen müssen, dass seine Handlungen tödlich sein könnten, und würde dementsprechend verurteilt werden. Ist ja in vielen Fällen so, dass den Leuten Aufgrund ihrer Objektiven Handlungen bestimmte Gedankengänge unterstellt werden. Das lässt sich leider nicht vermeiden, da man nun mal keine Gedanken lesen kann. Er hätte es halt besser wissen sollen.

HEN

HenniPotter

29.2.2024, 09:38:37

Aber ist nicht gerade das "Er hätte erkennen müssen" das prägende Element der Fahrlässigkeit ? Ich glaube, dass es darum geht, dass das Gericht annimmt, dass jeder voll zurechnungsfähige Mensch diese Gefahr aus den Umständen "erkennt", also es tatsächlich tut und dann die Aussage "Ich habe es nicht erkannt" als Schutzbehauptung gewertet wird.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

13.9.2024, 11:12:04

Hallo @[Fuchsfrauchen](89264), eine gute und sehr praxisorientierte Frage! Danke auch an die anderen für die guten Hinweise. Im Ausgangspunkt geht es tatsächlich um die Abgrenzung von

Eventualvorsatz

und bewusster Fahrlässigkeit, von "und wenn schon" zu "wird schon gutgehen". Zur gerichtlichen Feststellung des

Vorsatz

es haben @[Elias Von der Brelie](209668) und @[HenniPotter](217971) schon viel Richtiges gesagt. Niemand kann dem Täter in den Kopf schauen, erst recht nicht in den Kopf zur Tatzeit. Deswegen kann man sich subjektiven Merkmalen oft nur durch objektive Anhaltspunkte annähern. Neben der Einlassung des Angeklagten (was hat er nach seiner Aussage gefühlt/gedacht) wird man sich also in unserem Fall vor allem anschauen: Wohin hat er getreten, wie fest, wie lange, mit was für Schuhwerk etc. Das Gericht trifft seine Entscheidung dann nach seiner richterlichen Überzeugung, §

261 StPO

. Nun mag es tatsächlich Menschen geben, die von ihrer Intelligenz und ihrem Gemüt her so einfach gestrickt sind, dass ihnen auch für andere Leute offensichtliche Sachen nicht einleuchten. In solchen Fällen darf man dem Angeklagten nicht pauschal

Vorsatz

unterstellen. Andererseits sind "Habe ich nicht gewusst." und "Wollte ich nicht." (zusammen mit "Ich stand unter dem Einfluss von Droge XYZ.") sicherlich die klassischen Schutzbehauptungen, die viele Angeklagte vorbringen werden. Je objektiv gefährlicher also das Verhalten des Angeklagten war, desto kritischer wird man seine Aussagen dahingehend würdigen, ob er WIRKLICH auf einen guten/glimpflichen Ausgang vertraut hat. Letztlich ist das natürlich eine Frage des Einzelfalls und der Beweiswürdigung in der Hauptverhandlung. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

FUCH

Fuchsfrauchen

22.10.2024, 13:58:08

Vielen Dank @[Sebastian Schmitt](263562) und den anderen für die Einordnung. Jetzt hätte ich noch eine klausurtaktische Anschlussfrage: Angenommen im SV steht in solch einem Fall "hat ernsthaft darauf vertraut, dass" können wir dann von bewusster Fahrlässigkeit ausgehen, weil der SV für uns wahr ist oder müsste man sich in dem Fall trotzdem für den bedingten

Vorsatz

entscheiden aus dem Grund "hätte wissen müssen"?

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

22.10.2024, 14:25:11

Hallo @[Fuchsfrauchen](89264), für die klassischen Prüfungsaufgaben auf dem Weg zum ersten Examen gilt: Sachverhaltsdarstellung (also Euer Aufgabentext) = tatsächlicher Sachverhalt. Es war also genau so, wie es in Eurer Aufgabe steht. Wenn da steht "hat ernsthaft vertraut, dass...", dann hat der Täter ernsthaft vertraut, keine Diskussion. Je nachdem, worauf der Täter vertraut hat, kann das eine klassische Formulierung sein, um klarzustellen, dass kein

Vorsatz

vorlag. In solchen Fällen trotzdem von bedingtem

Vorsatz

auszugehen oder auch nur in eine vertiefte Abwägung dahingehend einzusteigen, wäre bestenfalls überflüssig und schlimmstenfalls falsch. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

FUCH

Fuchsfrauchen

22.10.2024, 21:06:14

Vielen Dank @[Sebastian Schmitt](263562) !


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