Öffentliches Recht

VwGO

Vorläufiger Rechtsschutz (§§ 80, 80a VwGO)

Begründetheit bei § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2: Wiederherstellung (Fall 1)

Begründetheit bei § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2: Wiederherstellung (Fall 1)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Behörde B erlässt gegenüber Carlotta Calathea (C) die Anordnung, ihr Gewächshaus abzureißen. B ordnet die sofortige Vollziehung an, da das Gewächshaus Nachbarn übermäßig belästige. C braucht das Gewächshaus für berufliche Zwecke und hat es aufgrund einer rechtmäßigen Baugenehmigung errichtet. Schließlich stellt sie einen Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO. Der Antrag ist zulässig.

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Einordnung des Falls

Begründetheit bei § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2: Wiederherstellung (Fall 1)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage entfällt in diesem Fall von Gesetzes wegen.

Nein, das trifft nicht zu!

Widerspruch und Anfechtungsklage entfalten normalerweise aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO). In den Ausnahmefällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 - 3 VwGO besteht dieser Effekt allerdings schon aufgrund einer gesetzlichen Regelung von vornherein nicht. Im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO hätten Widerspruch und Anfechtungsklage zwar grundsätzlich aufschiebende Wirkung, die sofortige Vollziehung wird allerdings für den konkreten Einzelfall ausnahmsweise durch die Behörde angeordnet. Grundsätzlich würde die Anfechtungsklage gegen den Abrissbescheid aufschiebende Wirkung entfallen. Allerdings hat B die sofortige Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeordnet.
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2. Die Begründetheitsprüfungen des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 und nach Alt. 2 sind identisch.

Nein!

In § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO wird zwischen der Anordnung der aufschiebenden Wirkung und der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung unterschieden. Im Rahmen der Begründetheitsprüfung des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO prüft das Gericht nur, ob es einen Grund (= überwiegendes Aussetzungsinteresse) gibt, die aufschiebende Wirkung originär anzuordnen. In diesem Fall ist das Nichtbestehen der aufschiebenden Wirkung nämlich der gesetzliche Regelfall. Im Gegensatz dazu muss im Rahmen des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO geprüft werden, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtmäßig war. In diesen Fällen ist nämlich gesetzlich erst einmal die aufschiebende Wirkung vorgesehen. Sie fällt nur aufgrund der Entscheidung der Behörde weg. Diese Entscheidung muss daher geprüft werden.

3. Cs Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig war.

Genau, so ist das!

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO ist begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO formell rechtswidrig ist oder aber die Abwägung zwischen Vollzugsinteresse und Suspensivinteresse ergibt, dass das private Aussetzungsinteresse das behördliche Vollzugsinteresse überwiegt, wobei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache mit einzubeziehen sind. In diesem Fall wäre die Anordnung der sofortigen Vollziehung materiell rechtswidrig. Der Unterschied zur Prüfung des Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO besteht darin, dass Du nicht prüfst, ob die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung geboten ist, sondern "andersherum", ob das "Vernichten" der aufschiebenden Wirkung durch die Behörde rechtswidrig war und die aufschiebende Wirkung deswegen wiederhergestellt werden muss.

4. Die formelle Rechtmäßigkeit der sofortigen Vollziehung setzt voraus, dass diese nach den einschlägigen Zuständigkeits-, Verfahren- und Formvorschriften zustande gekommen ist.

Ja, in der Tat!

Die sofortige Vollziehung kann durch die Ausgangs-, aber auch durch die Widerspruchsbehörde angeordnet werden (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO). Bezüglich des Verfahrens ist zu beachten, dass die h.M. das Erfordernis einer eigenständigen Anhörung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung verneint. Es handele sich bei der Anordnung nur um einen Annex zum eigentlichen Verwaltungsakt, nicht um einen zusätzlichen Verwaltungsakt. Bei einem solchen Annex ist eine vorherige Anhörung nicht erforderlich. Im Rahmen der Form ist insbesondere § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO zu beachten. Danach muss die Anordnung schriftlich begründet sein. Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der Abrissanordnung bestehen nicht.

5. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung müsste auch materiell rechtmäßig sein.

Ja!

Rechtsgrundlage für die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO. Um materiell rechtmäßig zu sein, muss die Anordnung der sofortigen Vollziehung im "öffentlichen Interesse" oder im "überwiegenden Interesse eines Beteiligten" liegen und dabei das Aussetzungsinteresse des Betroffenen überwiegen. Es ist eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei sind die Folgen, die eintreten würde, wenn das Eilrechtsschutzbegehren abgelehnt, der Rechtsbehelf in der Hauptsache aber Erfolg haben würde, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die aufschiebende Wirkung angeordnet würde, die angegriffene Maßnahme sich aber später als rechtmäßig herausstellen würde.

6. Das Vollzugsinteresse überwiegt hier deutlich. Cs Antrag ist unbegründet.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist materiell rechtmäßig, wenn das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Klägers überwiegt. Die Abrissanordnung der B ist nicht offensichtlich rechtmäßig. C könnte Bestandsschutz aufgrund der ergangenen Baugenehmigung genießen. Außerdem würde der Abriss mit irreparablen Folgen für C verbunden sein. Zudem tangiert der Verwaltungsakt die Grundrechte der C aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG in nicht unerheblicher Weise. Es wäre daher schlimmer, wenn der Verwaltungsakt sofort vollziehbar bliebe und sich später herausstellt, dass er rechtswidrig war, als andersherum. Cs Aussetzungsinteresse überwiegt. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO ist begründet. Im Falle des § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO überwiegt im Zweifel das Aussetzungsinteresse. Im Gegensatz dazu überwiegt bei § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO im Zweifel das Vollzugsinteresse.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FI

Fischerino

16.8.2023, 20:50:29

Hier wurde angenommen, dass auch die

materielle Rechtmäßigkeit

der Anordnung gegeben sein muss. So findet man es auch in den meisten Kommentaren. Gibt es aber einen Grund, weshalb es in den meisten Prüfungen weggelassen wird?

PAT

Patrick4219

1.3.2024, 18:14:22

Die

materielle Rechtmäßigkeit

der Anordnung der sofortigen Vollziehung wird tatsächöich nicht weggelassen, sie findet nur unter dem Begriff "Interessenabwägung" oder "Rechtmäßigkeit des Grund-VA" statt. Im Ergebnis ist es jedoch das gleiche.

LEO

Leonie

22.1.2024, 20:29:49

In der vorletzten Antwort wurde iRv § 80 Abs. 2 S.1 Nr. 4 bzgl. der Interessenabwägung von „anordnen“ gesprochen. Es müsste „wiederherstellen“ heißen - insoweit nur eine Anmerkung zur Wortkorrektur :)

LEO

Leonie

22.1.2024, 20:34:21

Hatte mich vertan: habe nicht gesehen, dass es sich um die behördliche Anordnung handelt und eben nicht um die gerichtliche Widerherstellung

EL

Ella

17.4.2024, 12:02:38

Ist es nicht eigentlich falsch, von der “materiellen RMK der Anordnung der sofortigen Vollziehung” zu sprechen? Die Anordnung ist ja gerade kein VA, sondern nur ein Annex. Sie hat mithin keinen materiellen Inhalt.. Ich habe gelernt nach der Formellen RMK der Anordnung direkt in die Interessenabwägung zu gehen und dort die RMK des zugrundeliegenden VA zu pruefen.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

16.7.2024, 10:41:11

Hallo Ella, danke für Deine Nachfrage. Es ist richtig, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit kein eigenständiger

Verwaltungsakt

ist. Trotzdem kann diese Anordnung – als Handlung der Verwaltung – nicht nur formell, sondern auch materiell fehlerhaft sein. Materielle Rechtswidrigkeit liegt vor, wenn die Voraussetzungen der

Ermächtigungsgrundlage

nicht erfüllt sind. Die Behörde darf nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehbarkeit anordnen, wenn das öffentliche Vollzugsinteresse das Suspensivinteresse des Adressaten überwiegt. Die von Dir angesprochene Interessenabwägung erfolgt also im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit der Anordnung. Vergleiche hierzu auch Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, 19.A. 2019, RdNr. 963. Du hast aber Recht damit, dass in den meisten Prüfungen nicht zwischen formeller und materieller Rechtmäßigkeit unterschieden wird, sondern man direkt in die Abwägung einsteigt. Meines Erachtens kannst Du deswegen beides machen. Wichtig ist vor allem, dass Du bereits im Obersatz die Interessensabwägung als Maßstab für die Prüfung nennst. Ich hoffe, ich habe Dir damit weitergeholfen. Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team.

HAUKE

Hauke

16.7.2024, 12:12:17

Das ist mE nicht richtig @[Linne_Karlotta_](243622) - Soweit ich es sehe und gelernt habe, geht die h.M. davon aus, dass gerade keine Überprüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung stattfindet, sondern die Behörde eine eigene Ermessensentscheidung trifft (siehe nur Koehl, JA 2016, 610 (617)). Der Prüfungsmaßstab ist also aufgrund der Besonderheit des einstweiligen Rechtsschutzes in diesem Fall ein anderer - jedenfalls nach, freilich kritisierter, h.M.

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

16.7.2024, 12:55:03

Hallo Hauke, danke für den weitergehenden Hinweis! Ich verstehe, was Du meinst und denke, dass man nichts falsch machen kann, wenn man den Begriff der „materiellen Rechtmäßigkeit“ aus der Prüfung weglässt. Vertiefend aber folgende Hinweise: In der von Dir angegebenen Fundstelle ist die Thematik aus meiner Sicht etwas verkürzt dargestellt. Wenn man es ganz genau nehmen möchte, muss man unterscheiden, ob sich die Vollziehbarkeit aus dem Gesetz ergibt (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3a VwGO) oder aus einer Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO. Im ersten Fall trifft das Gericht uneingeschränkt eine eigene, originäre Entscheidung. Im zweiten Fall jedoch hat das Gericht zuerst die formelle und

materielle Rechtmäßigkeit

der behördlichen Vollziehungsanordnung zu prüfen und erst dann, wenn diese Überprüfung keine Fehler ergibt, eine eigene, originäre Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu treffen (Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 17.A. 2021, RdNr. 1077). Zudem schließt nur der Umstand, dass das Gericht eine eigene Abwägung macht, nicht aus, dass man von einer materiellen Rechtswidrigkeit der Vollziehungsanordnung spricht, sondern damit wird lediglich der Maßstab festgelegt, nach dem die materielle Rechtswidrigkeit beurteilt wird (siehe hierzu Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17.A. 2019, RdNr. 1508). Da in verschiedenen Lehrbüchern zwischen der formellen und der materiellen Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung unterschieden wird (siehe z.B. Detterbeck, 17.A. 2019, RdNr. 1508f.; Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, 19.A. 2019, RdNr. 963), ist es m.E. jedenfalls nicht falsch, eine solche Unterteilung auch in der Klausur vorzunehmen. Im Zweifel solltet ihr Euch aber danach richten, welche Meinung die Person, die Euch prüft, vertritt. ;) Viele Grüße, Linne - für das Jurafuchs-Team.


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