Vorverfahren Widerspruch (§§ 68 ff. VwGO): Standardfall - Widerspruchsverfahren als Voraussetzung der Anfechtungsklage


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Klassisches Klausurproblem

Bauherr B erhält eine Baugenehmigung für ein Haus in Mainz. Auf Protest des Nachbarn N wird die Baugenehmigung des B widerrufen. B ist wütend und will sofort Klage erheben, um seine Baugenehmigung wiederzuerlangen. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.

Einordnung des Falls

Vorverfahren Widerspruch (§§ 68 ff. VwGO): Standardfall - Widerspruchsverfahren als Voraussetzung der Anfechtungsklage

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. B kann geltend machen, durch den Widerrufsbescheid in einem seiner subjektiv-öffentlichen Rechte verletzt zu sein. Er ist klagebefugt.

Genau, so ist das!

Die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) beurteilt sich danach, ob der Kläger durch den angegriffenen Verwaltungsakt möglicherweise in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt ist (sog. Möglichkeitstheorie). Ist der Kläger Adressat eines belastenden Verwaltungsakts, ergibt sich die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) auch ohne Sachvortrag aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) (sog. Adressatentheorie). Als Adressat des an ihn gerichteten Widerrufsbescheids ist B klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO).

2. Erhebt B Klage und legt nicht ebenfalls fristgemäß Widerspruch gegen den Widerrufsbescheid ein, ist die Klage unzulässig.

Ja, in der Tat!

Das erfolglose Widerspruchsverfahren ist Prozessvoraussetzung (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO).Achtung: B kann direkt Klage erheben, ohne zuvor Widerspruch eingelegt haben zu müssen. Die Berechtigung des Klägers, Klage zu erheben, ist von der Erhebung des Widerspruchs unabhängig; der Wortlaut des § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO ist insofern missverständlich. Erhebt er aber Klage, ohne bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist, spätestens bis zur letzten mündlichen Verhandlung, Widerspruch eingelegt zu haben, ist die Klage als unzulässig abzuweisen.

3. Muss B den Widerrufsbescheid in einem Vorverfahren noch einmal überprüfen lassen (§ 68 Abs. 1 S. 2 VwGO)?

Ja!

Vor Erhebung der Anfechtungsklage muss grundsätzlich ein Vorverfahren erfolglos durchgeführt werden (§ 68 Abs. 1 S. 1 VwGO), soweit nicht eine Ausnahme vorliegt (§ 68 Abs. 1 S. 2 VwGO).In Rheinland-Pfalz (Baugenehmigung für Haus in Mainz) entfällt (anders als bspw. in Bayern, vgl. Art. 12 Abs. 2 BayAGVwGO) auch nicht nach den landesgesetzlichen Vorschriften die Pflicht zur Betreibung eines Vorverfahrens.Das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) ist Zulässigkeitsvoraussetzung. Es beginnt mit Erhebung des Widerspruchs (§ 69 VwGO). Im Vorverfahren ist der Verwaltungsakt erneut auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu überprüfen. Damit dient das Vorverfahren der Wahrung der Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Verwaltung, dem Rechtsschutz, der Entlastung der Gerichte und der Selbstkontrolle der Verwaltung. Der Widerspruch muss innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsakts bei der Behörde, die diesen erlassen hat, eingelegt werden (§ 70 Abs. 1 VwGO). Andernfalls ist die Klage unzulässig und wird durch Prozessurteil abgewiesen.

4. B begehrt die Aufhebung des Widerrufsbescheids. Die Anfechtungsklage ist statthaft.

Genau, so ist das!

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO). B begehrt, seine Baugenehmigung wiederzuerlangen. Dies kann er erreichen, indem er im Klagewege die Aufhebung des Widerrufsbescheids erstreitet. Der Widerrufsbescheid ist unstreitig ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG). Seine Klage ist mithin gerichtet auf die Aufhebung eines Verwaltungsakts. Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) ist statthaft.

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SARA

sarakw

8.6.2020, 08:42:54

Wieso ist die in § 68 I 2 Nr. 2 normierte Ausnahme hier nicht einschlägig? Enthält der Widerspruchs hier nicht erstmalig eine Beschwer, indem er dem B die Baugenehmigung wieder entzieht? Wann wäre § 68 I 2 Nr. 2 beispielsweise einschlägig?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

9.6.2020, 00:13:28

Hallo Sarakw, hier hat B ja noch gar keinen Widerspruch eingelegt, also kann dieser auch keine Beschwer enthalten. Hast du dich vielleicht verlesen und den Widerruf gemeint? Dieser richtet sich nach 49 VwVfG und hat nichts mit dem Widerspruch zu tun! Beispiel für 68 I 2 Nr. 2: Du beantragst eine Baugenehmigung. Du bekommst diese auch, aber mit einem Flachdach statt einem Satteldach, genehmigt. Dagegen legst du Widerspruch ein. Die Widerspruchsbehörde hebt nun im Widerspruchsverfahren deine Baugenehmigung auf, weil sie keine bauplanungsrechtliche Genehmigungsfähigkeit sieht. Dagegen musst du dank 68 I 2 Nr. 2 VwGO nicht erneut das Widerspruchsverfahren bestreiten, sondern kannst direkt Verpflichtungsklage auf Erlass einer Baugenehmigung mit Satteldach erheben.

SARA

sarakw

9.6.2020, 10:00:41

Danke für den Hinweis @Eigentum verpflichtet, ich habe mich leider tatsächlich verlesen. Damit hat sich die Frage geklärt :)

frausummer

frausummer

22.6.2021, 12:35:39

Aber der Widerspruchsbescheid bezieht sich doch auf den Widerspruch des N. B hätte als Begünstigter ja auch keinen Grund, einen einzulegen. Der Fall hier ist doch eine klassische

Drittanfechtung

, die nach § 68 I 2 Nr. 2 VwGO (Bund) den sofortigen Weg zu den Gerichten eröffnet, ohne Vorverfahren, da B durch den Widerspruch erstmalig beschwert ist. RLP regelt das vll anders, aber in Bezug auf den Bund, verstehe ich es so.

Isabell

Isabell

7.11.2020, 15:57:49

Es sollte wenigstens auf die länderspezifischen Abweichungen hingewiesen werden.

TJU

Tr(u)mpeltier junior

3.12.2020, 09:45:53

Absolut, in NRW ist das Widerspruchsverfahren zB weitgehend abgeschafft. Natürlich ist es richtig, dass die VwGO das vorverfahren grundsätzlich vorsieht, dennoch wäre im hinweistext eine Notiz dazu super :)

Foxtrot Bravo

Foxtrot Bravo

5.12.2020, 12:36:03

Einen obligatorischen Widerspruch nach § 68 VwGO gibt es in Bayern nicht (mehr), vgl. Art. 15 II AGVwGO. Ein kurzer Hinweis dazu wäre jedenfalls für alle bayerischen Nutzer hilfreich. Vgl. auch Kempen in Becker/ Heckmann/ Kempen/ Manssen Öffentliches Recht in Bayern, S. 72 Rn. 307.

TJU

Tr(u)mpeltier junior

5.12.2020, 12:49:33

In NRW regelt das § 110 JustG

AR

Arno

5.2.2021, 18:14:07

In Niedersachsen ist es die Norm des § 80 I NJG, die ein Wiederspruchsverfahren grds. unzulässig macht. Ausnahmetatbestäde sind in § 80 II geregelt. Außerdem regelt § 80 III den Sonderfall für VA's, die nicht auf § 80 I und II anwendbar sind und auf Grundlage der in § 80 III konkret aufgezählten Rechtsvorschriften erlassen wurden.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

31.3.2021, 17:29:11

Danke euch. Der Fall spielt jetzt in Mainz (Rheinland-Pfalz) wo ein Vorverfahren durchzuführen ist.

AN

Anonym

6.3.2022, 23:46:40

Würde die Fallfrage gestellt sein: Was würden Sie B raten? Bleibt es dann bei der Anfechtungsklage? Oder wäre ein Rat dahingehend eine Verpflichtungsklage einzulegen sinnvoller?

VIC

Victor

7.3.2022, 13:42:31

Auch hier wäre die Anfechtungsklage sinnvoll. Er will ja nicht den erneuten Erlass einer Baugenehmigung sondern den Zustand wieder als er die erteilte Genehmigung hatte. Dafür reicht es aus den Widerrufsbescheid aus der Welt zu schaffen. Oftmals wird hier auch der einstweilige Rechtsschutz relevant.

AN

Anonym

8.3.2022, 02:07:38

Vielen Dank für deine Antwort. Dann ist das wohl so, dass durch den Widerspruchsbescheid der Ausgangsbescheid wirksam bleibt, sofern der Widerspruchsbescheid wirksam angefochten wird. Das hatte ich bei meiner 1. Überlegung nicht zutreffend ausgeschlossen. An den Eilrechtsschutz hatte ich auch gedacht. Welcher Fall des 80 V 1 dann einschlägig wäre, richtet sich dann nach der (erstmaligen) Anordnung oder der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung unter Zugrundelegung näherer SV-Info. Eine Korrigierung: Oben meinte ich "erheben", die äußerst schmackhaften Heringe werden ja eingelegt... :)

Dominik Christu

Dominik Christu

9.7.2023, 15:33:49

In NRW entfällt das Vorverfahren $110 JustG NRW

L

L

31.7.2023, 18:20:54

Mainz ist nicht in NRW. Und iÜ entfällt das Widerspruchserfordnernis nicht ausnahmslos...

AN

anni0910

3.11.2023, 10:12:51

Finde die eine Fragestellung etwas irreführend bzw. falsch. Da wird gesagt "In den meisten Bundesländer müssen die Kläger noch zuvor ein Vorverfahren durchlaufen". Aber das Widerspruchsverfahren gibt es nur noch in 6 von 16 Bundesländern. Also tatsächlich ist es dann ja genau andersrum, dass die meisten es eben nicht mehr haben, oder?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

6.11.2023, 17:07:21

Hallo anni0910, in der Tat haben die meisten Bundesländer in irgendeiner Form Gebrauch von der Öffnungsklausel gemacht und damit den in der VwGO vorgeschriebenen Regelfall des Vorverfahrens in vielen Bundesländern zurückgedrängt (Übersicht zu den einzelnen Bundesländern bei: Porsch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 44. EL März 2023, VwGO § 68 Rn. 14f). Wir haben die Fragestellung entsprechend angepasst. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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