Zivilrecht

BGB Allgemeiner Teil

Abgabe und Zugang von Willenserklärungen

Zugang verkörperter Erklärungen unter Abwesenden – Einwurf zu gewöhnlicher Zustellzeit

Zugang verkörperter Erklärungen unter Abwesenden – Einwurf zu gewöhnlicher Zustellzeit

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

B will seiner Sekretärin S fristgerecht kündigen. Die Kündigung muss dazu spätestens am 14.11. erfolgen. B bringt das Schreiben am 12.11. zur Post. Der Postbote wirft den Brief des B am Vormittag des 14.11. in den Briefkasten der S. S ist – wie B weiß – krank.

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Einordnung des Falls

Zugang verkörperter Erklärungen unter Abwesenden – Einwurf zu gewöhnlicher Zustellzeit

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Kündigung an S ist wirksam geworden, als B sie am 12.11. zur Post gebracht hat.

Nein!

Beim Wirksamwerden einer Willenserklärung (WE) kann man vier Phasen unterscheiden: (1) Abschluss des Erklärungsvorgangs, (2) Abgabe, (3) Zugang und (4) tatsächliche Kenntnisnahme. Nach Abschluss des Erklärungsvorgangs (Phase 1) ist die Abgabe (Phase 2) erfüllt, wenn der Erklärende die Erklärung willentlich in Richtung auf den Empfänger in Bewegung setzt, sodass er bei Zugrundelegung normaler Verhältnisse mit dem Zugang beim Empfänger rechnen darf. Wirksamkeit setzt bei empfangsbedürftigen WE darüber hinaus Zugang voraus (§ 130 Abs. 1 S. 1 BGB).Indem B die an S gerichtete Kündigung bei der Post aufgegeben hat, hat er die Willenserklärung abgegeben. Mangels Zugang ist die Kündigung aber nicht wirksam geworden.
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2. Die Kündigung an S wird wirksam, wenn der Postbote sie in den persönlichen Briefkasten der S wirft und nach der Verkehrsanschauung mit der Leerung des Briefkastens zu rechnen ist.

Genau, so ist das!

Bei verkörperten (schriftlichen) WE erfolgt nach Abschluss des Erklärungsvorgangs (Phase 1) und Abgabe (Phase 2) der Zugang (Phase 3), wenn die Erklärung so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen.

3. Da S krank war, ist ihr die Erklärung erst zugegangen, als sie wieder gesund war.

Nein, das trifft nicht zu!

Werden Briefe zu den gewöhnlichen Zustellzeiten und damit vor dem üblichen Leerungszeitpunkt eingeworfen, ist mit Kenntnisnahme noch am selben Tag zu rechnen. Auf Hindernisse aus seinem Bereich kann sich der Empfänger nicht berufen, da er diesen durch geeignete Vorkehrungen begegnen kann und muss. Es steht dem Zugang auch nicht entgegen, wenn der Empfänger wegen Urlaub, Krankheit, Haft oder sonstiger Ortsabwesenheit nicht in der Lage ist, von der WE Kenntnis zu nehmen. Das gilt auch, wenn der Erklärende vom Hinderungsgrund wusste. Für den Zugang kommt es insofern nicht auf die tatsächliche Kenntnisnahme (Phase 4) an.Da der Brief vormittags eingeworfen wurde, ist noch am selben Tag mit der Kenntnisnahme zu rechnen. S kann sich nicht auf Ihre Krankheit berufen. Somit ist die Kündigung auch am Vormittag des 14.11. wirksam geworden.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MARC

Marcoyayo

24.10.2019, 15:04:52

Mit dem Rechtsgedanken des 162 II oder Verweis auf 242 kann man auch Gegenteiliges in bestimmten Konstellationen vertreten, soweit ich weiß; also eine treuwidrige Herbeiführung des Zugangs.

Dominik Rafanoharana

Dominik Rafanoharana

3.1.2020, 02:19:39

stimmt. Nur in vorliegendem Fall mangels entsprechender Anhaltspunkte im SV von geringer Bedeutung.

Finanztante

Finanztante

2.5.2021, 20:39:34

Ist die Antwort nicht etwas ungenau? „Die Kündigung ist am Vormittag des 14.11. wirksam geworden“. Wird sie nicht erst mit Zugang wirksam, sprich: sobald nach der Verkehrsanschauung mit Leerung zu rechnen ist?

TI

Timurso

30.12.2023, 12:40:54

Was wäre denn ein Beispiel für die treuwidrige Herbeiführung des Zugangs?

PLA

PlatschekJünger

3.6.2022, 12:48:06

Ist mit der hypothetischen Kenntnisnahme nicht erst um 18:00 zu rechnen und nicht vormittags?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.6.2022, 16:24:54

Hallo Jurajull, vielen Dank für die Nachfrage! In der Tat kommt es für die Wirksamkeit nicht auf den Zeitpunkt des Einwurfes an, sondern maßgeblich auf die Frage, wann nach der Verkehrsanschauung mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Hier musst Du aber aufpassen, dass Du nicht "pauschal" auch eine bestimmte Uhrzeit abstellst. Das BAG hatte kürzlich in einem Fall entschieden, dass eine um 14 Uhr zugestellte Kündigung erst am Folgetag wirksam wird. Der Grund? In der Region war es üblich, dass die Post schon um 11 Uhr kommt, deswegen sei eine spätere Leerung des Briefkastens hier nach der Verkehrsanschauung nicht zu erwarten (https://applink.jurafuchs.de/VWE22siOyqb). In dem Beispiel hier geht es dagegen primär um die Frage, ob trotz der Krankheit der Sekretärin und ihrer Unfähigkeit den Briefkasten zu leeren ein wirksamer Zugang vorliegt. Dies ist der Fall, da der tatsächliche Zugang nicht maßgeblich ist, sondern die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme. Ist es so etwas klarer? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PLA

PlatschekJünger

5.6.2022, 14:26:40

Super! Vielen Dank für die Antwort.

DO

Dominik

21.1.2023, 12:29:00

Welche Vorkehrungen hätte S denn vornehmen sollen?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

25.1.2023, 15:20:37

Hallo Dominik, meinst du Vorkehrung zum Kündigungsschutz? Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

DO

Dominik

25.1.2023, 15:56:12

Vorkehrungen zum Empfang der Willenserklärung. „Auf Hindernisse aus seinem Bereich kann sich der Empfänger nicht berufen, da er diesen durch geeignete Vorkehrungen begegnen kann und muss.“

MI

minhminh

8.2.2023, 13:09:22

nicht besonders lebensnah, aber z.B. eine befreundete Person bitten, den Briefkasten für sie zu leeren und ihr die Briefe ans Bett zu geben, falls die Post wichtig erscheint. Ähnliche Vorkehrungen sind ja in anderen Fällen z.B. für längere Urlaube tatsächlich üblich.

Francesca

Francesca

3.10.2023, 17:00:44

Gibt es denn einen allgemeinen Richtwert, was mit einer üblichen Zustellzeit gemeint ist? Ist dies tatsächlich ortsäbhängig? Wie bzw. an was kann ich mich in einer Klausur orientieren, wenn es im Sachverhalt keine näheren Angaben gibt?

CHEFM

ChefMarcelo

3.10.2023, 18:14:52

Ich würde da die

3-Tages-Fiktion

aufgreifen. Also Postweg in Deutschland sollte nie mehr als 3 Tage dauern. Aber im Endeffekt irrelevant denn es gilt ja in dem Fall der Zugang. Oder zielte deine Frage auf die Fristgerechte Kündigung ab? Das ist ja Arbeitsrechtlich geregelt

Nora Mommsen

Nora Mommsen

4.10.2023, 13:50:14

Hallo Francesca, danke für deine Frage und danke ChefMarcelo für die Antwort. Gerichte gehen in der Tat meistens von einer Dreitage-Dauer aus. Wenn die Zustellung erwiesenermaßen früher erfolgt ist, gilt der tatsächliche Zustellungszeitpunkt. In der Klausur wird es in aller Regel dazu genaue Sachverhaltsinformationen geben, wenn es darauf ankommt. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

ÖA

ÖA

10.7.2024, 18:32:03

Kann mir jemand erläutern, weshalb es auch gilt, wenn der Gegenüber vom Hinderungsgrund weiß?

FL

FloL

11.7.2024, 21:12:44

Kommt auf den Zustand der Person an denke ich. Wenn die Person so krank ist, dass sie es nicht einmal mehr zum Briefkasten schafft, wird man davon ausgehen dürfen, dass sie einen Freund oder Familienangehörigen dazu beauftragt hat mögliche Post ans Bett zu bringen (vergleichbar wenn die Person im Urlaub ist)


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