Abhandengekommene WE
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
M möchte eventuell aus seiner Wohnung ausziehen. Er verfasst und unterzeichnet eine Kündigung, schickt sie aber bewusst noch nicht ab. Ms Freundin F entdeckt den Brief. Sie möchte M einen Gefallen tun. Wie schon einige Male in der Vergangenheit bringt sie ihn zur Post. Vermieter V erhält die Kündigung.
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Einordnung des Falls
Abhandengekommene WE
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. M hat den Erklärungsvorgang abgeschlossen, obwohl er noch nicht endgültig entschieden war.
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. M hat die Willenserklärung (Kündigung) willentlich in Richtung auf den Empfänger in Bewegung gesetzt.
Nein, das trifft nicht zu!
3. Obwohl M die Kündigung nicht willentlich in Richtung auf den Empfänger in Bewegung gesetzt hat, gilt sie nach der Rechtsprechung und h.M. als wirksam abgegeben.
Nein!
4. Kann V Schadensersatz von M verlangen, wenn er auf die Wirksamkeit der Kündigung vertraut und ihm deshalb Kosten entstanden sind (z.B. für ein Zeitungsinserat)?
Genau, so ist das!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
AD23
22.9.2020, 17:10:52
Die Rspr geht doch aber von einer vermittelnden Ansicht aus und stellt darauf ab, ob der Erklärende fahrlässig, was hier wohl bejaht werden kann, das Inverkehrbringen zu verantworten hat
Eigentum verpflichtet 🏔️
23.9.2020, 22:30:08
Hallo AD23, danke für deine Frage. Ich habe einmal die einschlägige Rechtsprechung gesichtet. Beispielsweise in BGH NJW-RR 2006, 847 unter den Ziffern "II. 2." und "IV. 1." stellt der BGH klar, dass im Falle der willenlosen Absendung keine Abgabe vorliegt, weswegen der BGH die Existenz der Willenserklärung komplett verneint. Die Frage der Fahrlässigkeit spielt nach der Rechtsprechung daher nur noch eine Rolle für Ansprüche aus
culpa in contrahendo(§§ 311 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB).
AD23
30.9.2020, 17:47:32
Bei IV 1 handelt es sich ja eher um eine Ablehnung als um ein Unentschlossensein, II 2 mag insoweit stimmen. Allerdings stehen sowohl der MüKo/Armbrüster (§ 119 Rn. 96 ff.), als auch der Palandt/Ellenberger (Einführung § 116) eher auf Seiten der vermittelnden Ansicht. Auch die Rspr hat in einem grundsätzlichem Urteil diese Position bezogen. Ich meine ja auch nicht, dass die Ansichten grundsätzlich nicht nachvollziehbar oder zu bevorzugen sind, ich finde es nur problematisch, hier von Rspr und HL zu sprechen, wenn es doch einige andere Auffassungen gibt
Isabell
29.10.2020, 20:27:29
Hat er den Brief bereits in einem adressierten Briefumschlag getan? Oder wäre das im nicht geschäftlichen auch unerheblich?
Eigentum verpflichtet 🏔️
29.10.2020, 20:54:12
Hallo Isabel, danke für deine Frage. In BGH NJW-RR 2006, 847 unter den Ziffern II. 2. und IV. 1. hat der BGH auf das Vorliegen eines Begebungsakts, also auf das willentliche Inverkehrbringen abgestellt. Ohne dieses soll keine WE vorliegen, das müsste dann auch gelten egal ob der Brief schon in einem adressierten Umschlag ist, oder nicht.
Isabell
29.10.2020, 21:05:03
Lese ich mal nach und denke ein bisschen drauf herum. Für mich ist es etwas anderes, in ich einen versandfertigen Briefumschlag entdecke oder ein unbeschriebenes Blatt Papier. Letzteres muss ja auch erstmal noch lesen - obwohl er nicht von mir geschrieben wurde und auch nicht an mich ist; mit Blick auf das Briefgeheimnis würde ich da nicht so einfach drüber weggehen - und falls kein vollständiger Briefkopf vorhanden ist, ja noch selbständig die Adresse herausfinden, den Brief versandfertig machen und im Zweifel auch noch die Briefmarke besorgen. Wenn noch so viele Schritte erforderlich sind, finde ich es schwierig dem eigentlichen Verfasser hier einen Vorwurf zu machen.
Lenny
10.3.2022, 14:11:32
Die Subsumption der ersten Frage hat mich verwirrt. Kann man denn trennscharf zwischen der Abgabe einer (vorliegenden) Willenserklärung und dem Vorliegen ihres objektiven Tatbestandes unterscheiden? Wie kann man den sagen, dass der Brief des M bereits den Tatbestand einer WE erfüllt, wenn er ihn nur auf dem Tisch liegen lässt. Da ist ja noch nichts, was aus der objektivieren Empfängersicht als Willenserklärung auslegen könnte.
Lukas_Mengestu
15.3.2022, 16:23:07
Hallo Lenny, vielen Dank für Deine Frage. Bei einer verschriftlichten Willenserklärung kann man in der Tat trennen zwischen der Formulierung der Willenserklärung (Phase 1) und deren Abgabe, Zugang, Kenntnisnahme (Phase 2-4). In dem Moment, in dem die Erklärung fertig geschrieben ist, kann sie aus Sicht eines objektiven Empfängers bewertet werden. Würde man sich die Erklärung durchlesen, so wird direkt deutlich, dass hierdurch die Rechtsfolge "Kündigung" herbeigeführt werden soll. Die Erklärung wird allerdings erst dann wirksam, wenn sie auch abgegeben und zugegangen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
David.
26.5.2023, 13:01:04
Welches Gericht lässt denn die fahrlässige Abgabe gelten? Dachte der BGH geht davon aus, dass dann eben keine WE vorläge
Nora Mommsen
27.5.2023, 09:17:25
Hallo David., der BGH kennt diese Konstellation als "
abhandengekommene Willenserklärung". Im Sinne des Verkehrsschutzes ist es nach Ansicht der Rechtsprechung vorzugswürdig, den Empfänger einer Erklärung, die nach allem Anschein eine vollständige und bewusst abgegebene Erklärung darstellt zu schützen. Es kann danach an jeden die Anforderung gestellt werden, so zu agieren, dass keine vollständige Erklärung versehentlich in den Rechtsverkehr gelangt. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
David.
12.6.2023, 13:39:55
"Nach dem BGH (BGH NJW-RR 2006, 847 Rn. 29BGH NJW-RR 2006, 847 Rn. 29) hat die bloß fahrlässige Verursachung der Inverkehrbringung nicht zur Folge, dass die Erklärung als abgegeben gilt. Fahrlässigkeit könne nur einen Anspruch auf
Ersatz des Vertrauensschadensbegründen." Oder hat der BGH seine Rechtsprechung diesbezüglich geändert?
profost
6.7.2023, 00:26:16
Dass eine abhanden gekommene Willenserklaerung nach Auffassung der Rspr wirksam sein soll ist mir auch neu. Die hM duerfte das zu Recht anders sehen. Der Erklaerungsempfaenger wird durch para
122 BGBanalog geschuetzt.
JudgeFudge
14.9.2023, 00:18:50
Dass die Rspr. die Wirksamkeit von abhandengekommen WE verneint stimmt. Hier wird die Mindermeinung vertreten. Ansprüche werden von der Rspr. aber nicht wie beim potentiellen Erklärungswillen aus
§ 122 BGBanalog hergeleitet, sonder evtl. aus cic, §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB.
deliaco
9.1.2024, 00:05:55
Wie würde hier der subjektive Tatbestand der WE aussehen? Hier fehlt es bereits an einem subjektiven
Handlungswillen, richtig? Für Phase 1 (Abschluss des Erklärungsvorgangs) ist aber nur der objektive Tatbestand der WE maßgeblich, verstehe ich das richtig?
Leonie
13.2.2024, 17:23:28
Für Phase 1 ist sowohl der subjektive, als auch der objektive Tatbestand maßgebend. Es wird („wie immer“) geprüft, ob diese beiden Elemente wirksam vorliegen. Der subjektive
Handlungswilleliegt hier auch deswegen vor, weil M willentlich eine Kündigung aufgesetzt und unterschrieben hat (willentliche äußere Handlung). Er handelt auch in Bezug auf das Erklärungsbewusstsein und den
Geschäftswillewillentlich, bzw. diese liegen vor, da M bewusst ist, dass er etwas rechtlich Erhebliches erklärt (kein Mietverhältnis mehr) und dieser Wille sich auch in Bezug auf ein bestimmtes Geschäft bezieht (der Mietvertrag zwischen M und V). In Bezug auf die Abgabe (Phase 2) kommt es dann erst zu dem „Knackpunkt“ dass er diese nicht selbst willentlich vorgenommen, dh die tatbestandliche Willenserklärung in Richtung des V auf den Weg gebracht hat, sondern F. Dort ist dann die Problematik der
abhandengekommenen Willenserklärung zu klären.
Florian
1.2.2024, 21:59:17
„M hat die WE willentlich…“ müsste es hier nicht F heißen? Auf den Willen der M kommt es doch überhaupt nicht an.
Leo Lee
3.2.2024, 19:53:34
Hallo Florian, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat könnte man meinen, es müsse hier auf den Willen des F ankommen. Beachte allerdings, dass hier der „Absender“, sowie er wahrgenommen wird vom obj.
Empfängerhorizontaus nicht F, sondern immer noch M ist Denn die Kündigung bezieht sich auf die Wohnung, in der M wohnt. Auch hat M das Schreiben angefertigt; F gibt diese nur ab, die Willenserklärung ist immer noch eine des „M“. Und genau das ist das Problem, was hier diskutiert wird. Ist eine Willenserklärung, die M verfasst und erstmal nicht abschickt, immer noch wirksam, wenn F ohne/gegen den Willen des M abgibt? D.h. die Antwort auf die Frage „hat M willentlich“ ist die Antwort nein. Allerdings ist immer noch der Willen des M Dreh- und Angelpunkt, da wir hiervon ausgehend diskutieren, ob dem M – trotz fehlenden Abgabewillens – immer noch die WE zugerechnet werden kann. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von MüKo-BGB 9. Auflage, Einsele § 130 Rn. 13 f. sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Blotgrim
8.5.2024, 17:42:49
Liebes Jurafuchs Team, ich fände es super wenn hier (aber auch allgemein) auch die andere Ansicht dargestellt und mit Argumenten unterfüttert wird, insbesondere da die andere Ansicht jetzt nicht gerade eine kaum vertretene Mindermeinung darstellt LG
Mi. S.
30.9.2024, 13:08:56
Das würde mich auch freuen!
verLAWren
16.10.2024, 13:24:12
Mich auch!! :) (Push)
Niklas3461
3.6.2024, 10:40:26
Sehe ich das richtig, dass der Meinungsstreit für die Falllösung nur relevant wird, wenn Fahrlässigkeit des Erklärenden nicht vorliegt, dann keine Haftung nach der h.M. aber Haftung nach der m.M. denn, § 280 ff. ist Verschuldensabhängig und § 122 nicht.
Stella2244
2.9.2024, 20:41:04
@[Niklas3461](215434) Nein! bei Fahrlässigkeit des Erklärenden Gleichbehandlung mit den Fällen des fehlenden Erklärungsbewusstseins – Willenserklärung ist wirksam, aber analog § 119 I Var. 2 BGB anfechtbar. Unwirksamkeit (wie die Rspr. es sieht) nur dann, wenn der Erklärende das Inverkehrgelangen der Erklärung nicht verschuldet (also keine Fahrlässigkeit besteht)
Barbara Salesch
20.6.2024, 22:51:22
Warum wird hier für den SE Anspruch auf die
culpa in contrahendoabgestellt? Wenn M die Wohnung kündigen möchte besteht ja bereits ein Schuldverhältnis, müsste man dann nicht eher über §§ 280 I, 241 II, 535 gehen?
Trowa Barton
5.7.2024, 11:13:27
Die Frage stellt sich mir auch. Arbeitshypothese: Ein Fall von Definition blind kopiert.
in persona
30.8.2024, 07:28:45
push:)
M0NAC0
25.10.2024, 13:10:16
Frage stellt sich mir auch
Blotgrim
27.10.2024, 08:18:36
Ich fände die Beantwortung der Frage auch ganz interessant, da ich über eine schnelle Internetrecherche nichts heraus finden konnte. Ich finde den Gedanken hinter Frage zudem Recht schlüssig
Jurafuchsin
4.7.2024, 23:54:54
Die erste Frage lautet doch, ob der Erklärungsvorgang abgeschlossen ist und das habe ich auch mit richtig beantwortet, was auch in der Subsumtion so steht. Mir wurde das aber als Fehler angezeigt?
Jotus
11.10.2024, 13:51:43
Könnte bitte jemand nochmal erklären, weshalb es zu einer vorvertraglichen Verschuldenshaftung kommt, wenn die Willenserklärung nicht wirksam wird?
Jakob G.
11.10.2024, 20:15:01
Der Mietvertrag besteht ja schon.
Leo Lee
13.10.2024, 11:38:43
Hallo Jotus, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Die wohl h.M. nimmt eine CIC an bei
abhandengekommener WE aus den folgenden Gründen: Denn die h.M. lehnt die Zurechnung aufgrund der erwähnten Argumente ab. Allerdings kann es dann nicht sein, dass V dumm aus der Wäsche schaut, denn sie hat und durfte darauf vertrauen, dass die WE auch ernsthaft abgeschickt wurde (V sieht ja nur den Brief und nicht die Vorgeschichte). Und wenn der M dies durch Nachlässigkeit ermöglicht hat (weil er etwa nicht seine Freundin darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass er den Brief noch nicht abgeschickt sehen möchte), dann muss er auch hierfür haften, auch um den Rechtsverkehr zu schützen. Und dies wird dann durch CIC ermöglicht, weil nach h.M. aufgrund nicht wirksamer Abgabe KEIN Vertrag zustandegekommen ist. Und wenn kein vertraglicher Anspruch existiert mangels Vertrags, dann kann man nur noch auf die CIC (oder auf den
122 analog) rekurrieren. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre vom Beckonline-GK, Gomille § 130 Rn. 44 sehr empfehlen :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo