Abhandengekommene WE

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

M möchte eventuell aus seiner Wohnung ausziehen. Er verfasst und unterzeichnet eine Kündigung, schickt sie aber bewusst noch nicht ab. Ms Freundin F entdeckt den Brief. Sie möchte M einen Gefallen tun. Wie schon einige Male in der Vergangenheit bringt sie ihn zur Post. Vermieter V erhält die Kündigung.

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Einordnung des Falls

Abhandengekommene WE

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M hat den Erklärungsvorgang abgeschlossen, obwohl er noch nicht endgültig entschieden war.

Genau, so ist das!

Der objektive Tatbestand einer Willenserklärung liegt in einem äußerlich erkennbaren Verhalten, das auf das Vorliegen eines Handlungs-, eines Rechtsbindungs- und eines Geschäftswillen schließen lässt. Der Rechtsbindungswille liegt vor, wenn der Erklärende sich aus Sicht eines Dritten in irgendeiner Weise rechtlich erheblich erklären will.Dass M eine Kündigung verfasst und unterzeichnet, ist aus Sicht Dritter als Erklärung dahingehend zu verstehen, dass M sich rechtlich binden und eine Kündigung aussprechen möchte. Auch ein Handlungs- und Geschäftswille liegen damit aus Sicht eines Dritten vor. Der Tatbestand der Willenserklärung und damit Phase 1 (Abschluss des Erklärungsvorgangs) ist erfüllt.
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2. M hat die Willenserklärung (Kündigung) willentlich in Richtung auf den Empfänger in Bewegung gesetzt.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Abgabe einer empfangsbedürftigen WE (Phase 2) liegt grundsätzlich vor, wenn der Erklärende die Erklärung willentlich in Richtung Empfänger in Bewegung setzt, sodass er bei Zugrundelegung normaler Verhältnisse mit dem Zugang beim Empfänger rechnen darf.Nach Ms Vorstellung sollte die Kündigungserklärung so lange auf dem Schreibtisch liegen bleiben, bis er sich endgültig überlegt hat, ob er sie absenden möchte oder nicht. Er hat sie also gerade willentlich nicht in Richtung Empfänger in Bewegung gesetzt.

3. Obwohl M die Kündigung nicht willentlich in Richtung auf den Empfänger in Bewegung gesetzt hat, gilt sie nach der Rechtsprechung und h.M. als wirksam abgegeben.

Nein!

Bei der sog. abhandengekommenen Willenserklärung besteht ein Konflikt zwischen Verkehrsschutz (V hält die Kündigung für wirksam) und Privatautonomie (M wollte noch keine Willenserklärung abgeben). Nach der Rechtsprechung fehlt es mangels willentlicher Abgabe im Falle der abhanden gekommenen Willenserklärung an einer wirksamen Erklärung. Der Verkehr könne ausreichend über die vorvertragliche Verschuldenshaftung (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) geschützt werden. Nach der Rechtsprechung ist die Kündigung somit nicht wirksam abgegeben und hat das Mietverhältnis nicht beendet. Eine starke Auffassung in der Literatur, will den Fall dagegen mit dem fehlenden Erklärungsbewusstsein gleichstellen (vgl. Trierer Weinversteigerung). Die Willenserklärung soll zunächst wirksam sein, wenn der Erklärende bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können, dass die Erklärung in Richtung auf den Empfänger auf den Weg gebracht wird. Der Erklärende könne diese aber dann analog § 119 Abs. 1 BGB anfechten.

4. Kann V Schadensersatz von M verlangen, wenn er auf die Wirksamkeit der Kündigung vertraut und ihm deshalb Kosten entstanden sind (z.B. für ein Zeitungsinserat)?

Genau, so ist das!

Unabhängig davon, ob die Erklärung von Anfang an als unwirksam angesehen wird (so h.M.) oder als anfechtbar erachtet wird (so Teil der Literatur), soll der gutgläubige Erklärungsempfänger (also der Rechtsverkehr) geschützt werden. Er kann seinen Vertrauensschaden deshalb aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) bzw. aus § 122 BGB analog ersetzt verlangen.Da M damit rechnen konnte (Fahrlässigkeit), dass F für ihn die fertiggestellte Kündigung zur Post bringt, haftet er V für Schäden, die diesem dadurch entstehen, dass er auf die Kündigung vertraut.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

AD23

AD23

22.9.2020, 17:10:52

Die Rspr geht doch aber von einer vermittelnden Ansicht aus und stellt darauf ab, ob der Erklärende fahrlässig, was hier wohl bejaht werden kann, das Inverkehrbringen zu verantworten hat

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

23.9.2020, 22:30:08

Hallo AD23, danke für deine Frage. Ich habe einmal die einschlägige Rechtsprechung gesichtet. Beispielsweise in BGH NJW-RR 2006, 847 unter den Ziffern "II. 2." und "IV. 1." stellt der BGH klar, dass im Falle der willenlosen Absendung keine Abgabe vorliegt, weswegen der BGH die Existenz der Willenserklärung komplett verneint. Die Frage der Fahrlässigkeit spielt nach der Rechtsprechung daher nur noch eine Rolle für Ansprüche aus

culpa in contrahendo

(§§ 311 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB).

AD23

AD23

30.9.2020, 17:47:32

Bei IV 1 handelt es sich ja eher um eine Ablehnung als um ein Unentschlossensein, II 2 mag insoweit stimmen. Allerdings stehen sowohl der MüKo/Armbrüster (§ 119 Rn. 96 ff.), als auch der Palandt/Ellenberger (Einführung § 116) eher auf Seiten der vermittelnden Ansicht. Auch die Rspr hat in einem grundsätzlichem Urteil diese Position bezogen. Ich meine ja auch nicht, dass die Ansichten grundsätzlich nicht nachvollziehbar oder zu bevorzugen sind, ich finde es nur problematisch, hier von Rspr und HL zu sprechen, wenn es doch einige andere Auffassungen gibt

Isabell

Isabell

29.10.2020, 20:27:29

Hat er den Brief bereits in einem adressierten Briefumschlag getan? Oder wäre das im nicht geschäftlichen auch unerheblich?

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

29.10.2020, 20:54:12

Hallo Isabel, danke für deine Frage. In BGH NJW-RR 2006, 847 unter den Ziffern II. 2. und IV. 1. hat der BGH auf das Vorliegen eines Begebungsakts, also auf das willentliche Inverkehrbringen abgestellt. Ohne dieses soll keine WE vorliegen, das müsste dann auch gelten egal ob der Brief schon in einem adressierten Umschlag ist, oder nicht.

Isabell

Isabell

29.10.2020, 21:05:03

Lese ich mal nach und denke ein bisschen drauf herum. Für mich ist es etwas anderes, in ich einen versandfertigen Briefumschlag entdecke oder ein unbeschriebenes Blatt Papier. Letzteres muss ja auch erstmal noch lesen - obwohl er nicht von mir geschrieben wurde und auch nicht an mich ist; mit Blick auf das Briefgeheimnis würde ich da nicht so einfach drüber weggehen - und falls kein vollständiger Briefkopf vorhanden ist, ja noch selbständig die Adresse herausfinden, den Brief versandfertig machen und im Zweifel auch noch die Briefmarke besorgen. Wenn noch so viele Schritte erforderlich sind, finde ich es schwierig dem eigentlichen Verfasser hier einen Vorwurf zu machen.

LEN

Lenny

10.3.2022, 14:11:32

Die Subsumption der ersten Frage hat mich verwirrt. Kann man denn trennscharf zwischen der Abgabe einer (vorliegenden) Willenserklärung und dem Vorliegen ihres objektiven Tatbestandes unterscheiden? Wie kann man den sagen, dass der Brief des M bereits den Tatbestand einer WE erfüllt, wenn er ihn nur auf dem Tisch liegen lässt. Da ist ja noch nichts, was aus der objektivieren Empfängersicht als Willenserklärung auslegen könnte.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

15.3.2022, 16:23:07

Hallo Lenny, vielen Dank für Deine Frage. Bei einer verschriftlichten Willenserklärung kann man in der Tat trennen zwischen der Formulierung der Willenserklärung (Phase 1) und deren Abgabe, Zugang, Kenntnisnahme (Phase 2-4). In dem Moment, in dem die Erklärung fertig geschrieben ist, kann sie aus Sicht eines objektiven Empfängers bewertet werden. Würde man sich die Erklärung durchlesen, so wird direkt deutlich, dass hierdurch die Rechtsfolge "Kündigung" herbeigeführt werden soll. Die Erklärung wird allerdings erst dann wirksam, wenn sie auch abgegeben und zugegangen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DAV

David.

26.5.2023, 13:01:04

Welches Gericht lässt denn die fahrlässige Abgabe gelten? Dachte der BGH geht davon aus, dass dann eben keine WE vorläge

Nora Mommsen

Nora Mommsen

27.5.2023, 09:17:25

Hallo David., der BGH kennt diese Konstellation als "abhandengekommene Willenserklärung". Im Sinne des Verkehrsschutzes ist es nach Ansicht der Rechtsprechung vorzugswürdig, den Empfänger einer Erklärung, die nach allem Anschein eine vollständige und bewusst abgegebene Erklärung darstellt zu schützen. Es kann danach an jeden die Anforderung gestellt werden, so zu agieren, dass keine vollständige Erklärung versehentlich in den Rechtsverkehr gelangt. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

DAV

David.

12.6.2023, 13:39:55

"Nach dem BGH (BGH NJW-RR 2006, 847 Rn. 29BGH NJW-RR 2006, 847 Rn. 29) hat die bloß fahrlässige Verursachung der Inverkehrbringung nicht zur Folge, dass die Erklärung als abgegeben gilt. Fahrlässigkeit könne nur einen Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens begründen." Oder hat der BGH seine Rechtsprechung diesbezüglich geändert?

profost

profost

6.7.2023, 00:26:16

Dass eine abhanden gekommene Willenserklaerung nach Auffassung der Rspr wirksam sein soll ist mir auch neu. Die hM duerfte das zu Recht anders sehen. Der Erklaerungsempfaenger wird durch para

122 BGB

analog geschuetzt.

JudgeFudge

JudgeFudge

14.9.2023, 00:18:50

Dass die Rspr. die Wirksamkeit von abhandengekommen WE verneint stimmt. Hier wird die

Mindermeinung

vertreten. Ansprüche werden von der Rspr. aber nicht wie beim potentiellen Erklärungswillen aus

§ 122 BGB

analog hergeleitet, sonder evtl. aus cic, §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB.

DEL

deliaco

9.1.2024, 00:05:55

Wie würde hier der subjektive Tatbestand der WE aussehen? Hier fehlt es bereits an einem subjektiven

Handlungswille

n, richtig? Für Phase 1 (Abschluss des Erklärungsvorgangs) ist aber nur der objektive Tatbestand der WE maßgeblich, verstehe ich das richtig?

LEO

Leonie

13.2.2024, 17:23:28

Für Phase 1 ist sowohl der subjektive, als auch der objektive Tatbestand maßgebend. Es wird („wie immer“) geprüft, ob diese beiden Elemente wirksam vorliegen. Der subjektive

Handlungswille

liegt hier auch deswegen vor, weil M willentlich eine Kündigung aufgesetzt und unterschrieben hat (willentliche äußere Handlung). Er handelt auch in Bezug auf das Erklärungsbewusstsein und den Geschäftswille willentlich, bzw. diese liegen vor, da M bewusst ist, dass er etwas rechtlich Erhebliches erklärt (kein Mietverhältnis mehr) und dieser Wille sich auch in Bezug auf ein bestimmtes Geschäft bezieht (der Mietvertrag zwischen M und V). In Bezug auf die Abgabe (Phase 2) kommt es dann erst zu dem „Knackpunkt“ dass er diese nicht selbst willentlich vorgenommen, dh die tatbestandliche Willenserklärung in Richtung des V auf den Weg gebracht hat, sondern F. Dort ist dann die Problematik der abhandengekommenen Willenserklärung zu klären.

FL

Florian

1.2.2024, 21:59:17

„M hat die WE willentlich…“ müsste es hier nicht F heißen? Auf den Willen der M kommt es doch überhaupt nicht an.

LELEE

Leo Lee

3.2.2024, 19:53:34

Hallo Florian, vielen Dank für die sehr gute Frage! In der Tat könnte man meinen, es müsse hier auf den Willen des F ankommen. Beachte allerdings, dass hier der „Absender“, sowie er wahrgenommen wird vom obj.

Empfängerhorizont

aus nicht F, sondern immer noch M ist Denn die Kündigung bezieht sich auf die Wohnung, in der M wohnt. Auch hat M das Schreiben angefertigt; F gibt diese nur ab, die Willenserklärung ist immer noch eine des „M“. Und genau das ist das Problem, was hier diskutiert wird. Ist eine Willenserklärung, die M verfasst und erstmal nicht abschickt, immer noch wirksam, wenn F ohne/gegen den Willen des M abgibt? D.h. die Antwort auf die Frage „hat M willentlich“ ist die Antwort nein. Allerdings ist immer noch der Willen des M Dreh- und Angelpunkt, da wir hiervon ausgehend diskutieren, ob dem M – trotz fehlenden Abgabewillens – immer noch die WE zugerechnet werden kann. Hierzu kann ich i.Ü. die Lektüre von MüKo-BGB 9. Auflage, Einsele § 130 Rn. 13 f. sehr empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

BL

Blotgrim

8.5.2024, 17:42:49

Liebes Jurafuchs Team, ich fände es super wenn hier (aber auch allgemein) auch die andere Ansicht dargestellt und mit Argumenten unterfüttert wird, insbesondere da die andere Ansicht jetzt nicht gerade eine kaum vertretene

Mindermeinung

darstellt LG

Niklas3461

Niklas3461

3.6.2024, 10:40:26

Sehe ich das richtig, dass der Meinungsstreit für die Falllösung nur relevant wird, wenn Fahrlässigkeit des Erklärenden nicht vorliegt, dann keine Haftung nach der h.M. aber Haftung nach der m.M. denn, § 280 ff. ist Verschuldensabhängig und § 122 nicht.

STE

Stella2244

2.9.2024, 20:41:04

@[Niklas3461](215434) Nein! bei Fahrlässigkeit des Erklärenden Gleichbehandlung mit den Fällen des fehlenden Erklärungsbewusstseins – Willenserklärung ist wirksam, aber analog § 119 I Var. 2 BGB anfechtbar. Unwirksamkeit (wie die Rspr. es sieht) nur dann, wenn der Erklärende das Inverkehrgelangen der Erklärung nicht verschuldet (also keine Fahrlässigkeit besteht)

BASA

Barbara Salesch

20.6.2024, 22:51:22

Warum wird hier für den SE Anspruch auf die

culpa in contrahendo

abgestellt? Wenn M die Wohnung kündigen möchte besteht ja bereits ein Schuldverhältnis, müsste man dann nicht eher über §§ 280 I, 241 II, 535 gehen?

Trowa Barton

Trowa Barton

5.7.2024, 11:13:27

Die Frage stellt sich mir auch. Arbeitshypothese: Ein Fall von Definition blind kopiert.

in persona

in persona

30.8.2024, 07:28:45

push:)

JURAFU

Jurafuchsin

4.7.2024, 23:54:54

Die erste Frage lautet doch, ob der Erklärungsvorgang abgeschlossen ist und das habe ich auch mit richtig beantwortet, was auch in der Subsumtion so steht. Mir wurde das aber als Fehler angezeigt?


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