Fragerecht des Arbeitgebers – Generell unzulässige Frage (Schwangerschaft)


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Klassisches Klausurproblem

Lawra (L) ist schwanger. Sie bewirbt sich in einem Labor, in dem an Corona-Viren geforscht wird. Forscherin F befragt die L nach einer etwaigen Schwangerschaft, da Schwangere nicht ins Labor dürfen. L behauptet wahrheitswidrig, nicht schwanger zu sein.

Einordnung des Falls

Fragerecht des Arbeitgebers – Generell unzulässige Frage (Schwangerschaft)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Müssen Bewerberinnen sämtliche Fragen der Arbeitgeber wahrheitsgemäß beantworten?

Diese Rechtsfrage lösen 96,8 % der Jurist:innen in Studium und Referendariat richtig.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach der Rechtsprechung des BAG steht der Arbeitgeberin bei der Anbahnung des Arbeitsverhältnisses (=vorvertragliche Pflichten) nur dann ein Fragerecht zu, wenn und soweit die Art des zu besetzenden Arbeitsplatzes dies „erfordert“. Hierfür bedarf es eines berechtigten, billigenswerten, schutzwürdigen Interesses. Dieses muss so stark sein, dass dahinter das Interesse des Arbeitnehmers am Schutz seines Persönlichkeitsrechtes und an der Unverletzbarkeit seiner Individualsphäre zurücktritt. Bei der Interessenabwägung sind auf Seiten des Arbeitnehmers auch die geltenden Datenschutzbestimmungen (BDSG, DSGVO), Antidiskriminierungsvorschriften (AGG, § 75 Abs. 1 BetrVG) und die Wertentscheidungen des Bundeszentralregisters (BZRG) zu berücksichtigen.

2. Kann F den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten?

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Nein, das trifft nicht zu!

Die Bewerberin ist bei einer unzulässigen Frage nicht nur berechtigt, zu schweigen. Vielmehr darf sie auf eine unzulässige Frage auch die Unwharheit sagen, ohne dass der Arbeitgeber zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung berechtigt ist. Denn es fehlt insoweit an dem ungeschriebenen Merkmal der widerrechtlichen Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB).Da die Frage nach der Schwangerschaft unzulässig ist, ist Ls falsche Antwort zulässig. Es fehlt damit an einer widerrechtlichen Täuschung und somit an einem Anfechtungsgrund.Auch eine Kündigung scheidet aus, da zugunsten von Schwangeren das Mutterschutzgesetz einen besonderen Kündigungsschutz vorsieht (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG).Praktisch folgt daraus, dass sich Schwangere also auch dann bewerben können, wenn ihnen klar ist, dass sie erstmal keinen einzigen Tag arbeiten können. Über das Umlageverfahren wird dieses Risiko der Arbeitsunfähigkeit gesellschaftlich verteilt.

3. Die mit einer Schwangerschaft verbundenen Ausfallzeiten stellen eine organisatorische Belastung des Arbeitgebers dar, weswegen er ein Interesse an dieser Information hat.

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Ja!

Grundsätzlich besteht ein berechtigtes, billigenswertes, schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers, wenn die Beantwortung der Frage für den angestrebten Arbeitsplatz und die zu verrichtende Tätigkeit selbst von Bedeutung ist.Die Verfügbarkeit und Einsetzbarkeit der Arbeitnehmerin ist für den Arbeitgeber zwangsläufig eine wesentliche Voraussetzung für die ordnungsgemäße Erfüllung des Arbeitsvertrags. Entsprechend hat er ein Interesse daran, Informationen über Umstände zu erhalten, die der uneingeschränkten Verfügbarkeit entgegenstehen. Allein schon wegen der gesetzlichen Schutzfristen vor und nach der Entbindung ist eine Schwangerschaft mit Ausfallzeiten verbunden (§ 3 Abs. 1, 2 MuSchG). Je nach Art der Tätigkeit kommen weitere Einschränkungen der Einsatzmöglichkeit hinsichtlich Art und Umfang hinzu (vgl. § 11 MuSchG).

4. F erleidet im Hinblick auf das Entgelt, dass sie L während ihrer Schwangerschaft zahlen muss, obwohl L nicht im Labor arbeiten darf, einen finanziellen Nachteil.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Die Belastung des Arbeitgebers beschränkt sich primär auf die Organisation einer Vertretung bzw. die Umverteilung der Arbeit. Während der gesetzlichen Schutzfristen erhält die Schwangere bzw. junge Mutter Mutterschaftsgeld (§ 19 Abs. 1 MuSchG) von der Krankenkasse. Soweit der Arbeitgeber hierzu einen Zuschuss zahlen muss (§ 20 Abs. 1 MuSchG) bzw. er Mutterschutzlohn für Freistellungszeiträume außerhalb der Mutterschutzfristen zu zahlen hat (§ 18 MuSchG), so erhält er die geleisteten Zahlungen in vollem Umfang von den Krankenkassen zurück (§ 1 Abs. 2 Nr. 1+2 AAG).F wird für alle zu leistenden Lohnfortzahlungen finanziell entschädigt.Es handelt sich hierbei um ein Umlageverfahren. Alle Arbeitgeber sind gemeinschaftlich verpflichtet, die von den Krankenkassen hierfür aufgewendeten Mittel aufzubringen (§ 7 Abs. 1 AAG). Dadurch soll das „Risiko Schwangerschaft“ gleichmäßig auf alle verteilt werden.

5. Die Frage nach der Schwangerschaft stellt eine unmittelbare Benachteiligung schwangerer Bewerberinnen wegen ihres Geschlechts dar (§ 3 Abs. 1 AGG).

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Ja, in der Tat!

§ 3 Abs. 1 AGG: Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts liegt in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AGG auch im Falle einer ungünstigeren Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft vor.Die Verweigerung einer Einstellung wegen Schwangerschaft kommt nur gegenüber Frauen in Betracht und stellt daher eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Aus diesem Grund stellt bereits eine hierauf zielende Frage nach der Schwangerschaft im Berwerbungsgespräch eine unmittelbare Diskriminierung dar.

6. Ist die Benachteiligung gerechtfertigt (§ 8 Abs. 1 AGG), weil L aufgrund ihrer Schwangerschaft von Anfang an nicht im Labor arbeiten kann (§ 11 Abs. 2 S. 1 MuSchG)?

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Nein!

Das BAG hatte bis 2003 vertreten, dass für die Frage nach der Schwangerschaft zumindest dann ein sachlicher Rechtfertigungsgrund vorliege, wenn für die Arbeitnehmerin von vornherein ein gesetzliches Beschäftigungsverbot eingreifen würde (vgl. § 8 Abs. 1 AGG).Im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH (NZA 2000, 255) ist das BAG (NZA 2003, 848) davon mittlerweile abgerückt. Jedenfalls bei unbefristeten Arbeitsverhältnissen trete das vorübergehende Beschäftigungshindernis hinter dem Schutzzweck der Antidiskriminierungsvorschriften zurück. Denn für die Tätigkeit selbst sei das Geschlecht insoweit nicht entscheidend. Im Anschluss an den Mutterschutz könne die Bewerberin ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Das deutsche AGG dient der Umsetzung einer Reihe von europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien. Aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht folgt, dass deutsche Gerichte sich bei der Auslegung des AGG am Wortlaut und Zweck der europäischen Richtlinien orientieren müssen. Da die Auslegung europäischen Rechts wiederum allein dem EuGH obliegt (Art. 267 Abs. 1 AEUV), ist seine diesbezügliche Rechtsprechung von den nationalen Gerichten zu beachten.

7. Darf F die L nach ihrer Schwangerschaft fragen?

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Nein, das ist nicht der Fall!

Der Arbeitgeberin steht beim Bewerbungsgespräch nur dann ein Fragerecht zu, wenn ihr Interesse an der Information das Interesse der Arbeitnehmerin an der Geheimhaltung überwiegt. L kann aufgrund ihrer Schwangerschaft zunächst nicht im Labor arbeiten kann (§ 11 Abs. 2 S. 1 MuSchG iVm § 2 Abs. 3 BioStoffV). Fs Informationsbedürfnis steht aber das Interesse der L an diskriminierungsfreier Einstellung gegenüber. Da das Beschäftigungshindernis lediglich temporär ist, überwiegen insoweit die Wertungen des Antidiskriminierungsrechts (AGG). Entsprechend ist die Frage unzulässig.Da das Antidiskriminierungsrecht die Interessenabwägung stets zugunsten der Arbeitnehmerin ausfallen lässt, wird die Frage nach der Schwangerschaft auch als generell unzulässig bezeichnet.Entsprechend trifft L auch keine Aufklärungspflicht aus Treu und Glauben.

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FML

FML

2.3.2022, 18:45:43

Gibt es hierzu evtl auch Fundstellen von deutschen Arbeitsgerichten? Das wurde mir im Rep noch anders beigebracht.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

3.3.2022, 00:02:10

Hallo FML, inwiefern wurde euch denn etwas Abweichendes im Rep beigebracht? Das BAG hat früher in der Tat einmal vertreten, dass die Frage nach der Schwangerschaft zulässig sei, wenn für die Arbeitnehmerin von vorneherein ein Beschäftigungsverbot eingegriffen hätte (BAG, Urt. v. 01.07.1993 - 2 AZR 25/93). Davon hat es sich später aber ausdrücklich distanziert (BAG, Urt. v. 06.02.2003 - 2 AZR 621/01) und festgestellt, dass die Frage nach der Schwangerschaft regelmäßig unzulässig sei - selbst dann wenn von Anfang an ein Beschäftigungsverbot greift. Denn jedenfalls nach Ablauf des Mutterschutzes stünde die Bewerberin voll zur Verfügung. Da diese Rechtsprechungsänderung nun bald 20 Jahre alt ist, haben wir die frühere Rechtsprechung in der Aufgabe nicht gesondert angeführt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FML

FML

3.3.2022, 12:58:13

Vielen Dank für die Antwort. So wie es aussieht hatte ich die alte Rechtsprechung im Kopf. Ich habe die Diskussion darüber bildlich vor Augen, finde derzeit meine alten Unterlagen aber nicht mehr. Vermutlich hat sich da etwas beim lernen falsch abgespeichert.

Roxxi

Roxxi

1.5.2022, 20:45:04

Ich finde die erste Frage etwas verwirrend. Prinzipiell "darf" F ja fragen, ob L schwanger ist. Sie muss nur nicht drauf antworten bzw. darf auch lügen. Oder ist es wirklich explizit verboten diese Frage als solche zu stellen ? Danke :)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.5.2022, 09:57:16

Hallo KatzenKing, vielen Dank für Deinen Hinweis. Im Ergebnis sehen wir dies in diesem Kontext allerdings etwas anders. Bloß weil der Arbeitgeber es mal "versuchen" kann, heißt dies nicht, dass dies rechtlich gesehen zulässig ist und er dies auch "darf". Vielmehr ist die Frage schlechthin unzulässig. Aus diesem Grund besteht für die Bewerberin das Recht zu lügen, da es sich aufgrund der unzulässigen Frage nicht um eine rechtswidrige Täuschung handelt. Ist es so verständlicher? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Roxxi

Roxxi

2.5.2022, 10:02:36

Hi Lukas, ja, vielen Dank :)!. LG KK

Yinan Zou

Yinan Zou

3.1.2023, 21:35:09

Schwangere dürfen das Labor nicht betreten. Wenn sie ihre Schwangerschaft verheimlicht oder lügt und im Labor arbeitet, wer ist dann für die daraus resultierenden Schäden verantwortlich?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.1.2023, 14:34:38

Hallo Yinan Zou, den Arbeitgeber trifft in diesem Fall kein Verschulden. Denn er kann seine Schutzpflichten nur erfüllen, wenn ihm die Schwangere über ihre Schwangerschaft informiert. Allerdings unterfallen die Schwangere sowie ihr ungeborenes Kind (§ 12 SGB VII) der Unfallversicherung. Diese ist verschuldensneutral ausgestaltet (§ 7 Abs. 2 SGB VII). Das heißt, auch wenn L entgegen eines gesetzlichen Verbots im Labor arbeitet und hierdurch Schäden erleidet, sind sie und ihr Kind versichert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Nico

Nico

3.7.2023, 15:27:16

Liebes Jurafuchs-Team, mein erster Kommentar, daher zunächst ein großes Lob für die smarten Lektionen, tollen Zeichnungen und eure mühevollen und hilfreichen Antworten. In dem Fall ist bei der Erklärung zur Umlage U2 statt § 7 AAG versehentlich § 7 AGG verlinkt worden. Vielleicht könntet ihr das noch korrigieren. Liebe Grüße

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.8.2023, 15:57:02

Lieber Nico, erst einmal vielen lieben Dank für das tolle Lob! Mit etwas Verspätung haben wir das nun hier behoben. Viel Spaß und Erfolg wünsche ich Dir weiterhin! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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