+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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T stößt versehentlich und fahrlässig den betrunkenen O in das Gleisbett am Bahnhof. O bleibt dort liegen, was T auf die Trunkenheit des O zurückführt. T weiß, dass in einer Stunde der nächste Zug eintritt und unternimmt nichts. Nach einer halben Stunde besinnt er sich und holt O aus dem Gleisbett.

Einordnung des Falls

Bei versuchter Unterlassung 9

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der versuchte Totschlag durch Unterlassen ist strafbar (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

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Genau, so ist das!

Der Versuch durch Unterlassen ist dann strafbar, wenn es sich um ein Delikt handelt, bei dem der Versuch auch durch Handlung strafbar ist. Rechtsfolge des § 13 Abs. 1 StGB ist die Gleichstellung des Unterlassens mit einer Handlung im engeren Sinne. Dabei ist wie sonst auch der Versuch eines Verbrechens stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1 StGB). Totschlag ist ein Verbrechen, da die angedrohte Mindestfreiheitsstrafe 5 Jahre beträgt (§§ 212 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB).

2. T hatte „Tatentschluss“ bezüglich der objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB).

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Ja, in der Tat!

Es gelten die Maßstäbe, die auch sonst für den Versuch gelten, wobei der Täter die Merkmale der unechten Unterlassungstat ebenfalls in den Vorsatz aufgenommen haben muss. T hatte Vorsatz in Bezug auf die objektiven Merkmale des Totschlags (§ 212 Abs. 1 StGB), also die Tötung eines Menschen, da er erkennt, dass O vom Zug überfahren werden würde. Die hier vorliegende Zweiteilung dient der Verständlichkeit.

3. T hatte „Tatentschluss“, den Totschlag durch Unterlassen zu begehen.

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Ja!

T erkannte, dass er O aus dem Gleisbett holen könnte und diese Handlung unterlassen, wobei er weiß, dass der Tod von O dadurch ausbleiben würde (Quasi-Kausalität). T erkannte, dass er die Gefährdung durch das fahrlässige Stoßen des O in das Gleisbett verursacht hat und daher für diese verantwortlich ist. Damit hat er Vorsatz bezüglich seiner Garantenposition durch Ingerenz in Form der Parallelwertung in seiner Laiensphäre. Die Entsprechungsklausel ist bei § 212 StGB nach herrschender Meinung nicht relevant.

4. Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt gleicht dem unmittelbaren Ansetzen durch Tätigkeit.

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Nein, das ist nicht der Fall!

Das unmittelbare Ansetzen beim Unterlassungsdelikt weicht vom unmittelbaren Ansetzen beim Handlungsdelikt ab, da beim Handlungsdelikt am Vorgehen des Täters angeknüpft wird. Zwar lässt sich die gleiche Definition anwenden, allerdings sind die Kriterien beim Unterlassungsdelikt noch weniger greifbar, da regelmäßig nur an einen Zeitablauf angeknüpft wird und nicht an eine vom Täter vorgestellte Handlungskette.

5. T hat nach herrschender Meinung unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt.

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Nein, das trifft nicht zu!

Die herrschende Meinung geht daher von einem unmittelbaren Ansetzen (§ 22 StGB) aus, wenn die erste mögliche Rettungshandlung nicht vorgenommen wird und eine unmittelbare Gefahr für das geschützte Rechtsgut entsteht. T hat den O nicht aus dem Gleisbett geholt, obwohl er wusste, dass ein Zug kommen würde. Eine unmittelbare Gefährdung erfordert nach der Vorstellung des T jedoch das baldige Eintreffen des Zuges. T setzt daher erst dann unmittelbar an, wenn das Eintreffen unmittelbar bevorsteht. Dabei kommt es auch darauf an, wie lange er nach seiner Vorstellung für die Rettungshandlung braucht.

6. Andere Theorien stellen auf absolute Zeitpunkte ab.

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Ja!

Andere Theorien orientieren sich nicht an der Gefährdung, sondern an Zeitpunkten zwischen Vorsatz und Vollendung oder Fehlschlag. Dabei stellt eine Theorie auf die letzte Handlungsmöglichkeit ab und eine andere auf die erste Handlungsmöglichkeit. Zwar werden die Theorien beide abgelehnt, in der Praxis wird jedoch im Ergebnis häufig auf die erste Handlungsmöglichkeit abgestellt, da das Kriterium der unmittelbaren Gefährdung wertungsoffen ist. Daneben wird teilweise vertreten, dass die letzte sichere Handlungsmöglichkeit ausschlaggebend ist. Bei der Argumentation für oder gegen eine Theorie muss man sich auch an der Wertung für das unmittelbare Ansetzen durch Handlung orientieren, da das Gesetz gerade keine Sonderregelungen für das Unterlassen vorsieht.

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LH

L. H.

8.1.2021, 01:53:30

Hat T hier denn wirklich Tatentschluss? Er trat ja schließlich bereits eine halbe Stunde vor dem potenziellen Taterfolg vom Versuch zurück, da er dann kein Delikt mehr verwirklichen wollte. Entspricht das nicht eher einer etwas unkonventionellen Tatgeneigtheit, welche sich letztendlich aber nicht zu einem Tatentschluss konkretisiert? Oder ist es irrelevant, WANN GENAU der Tatentschluss einmal vorlag, so lange er es ÜBERHAUPT tat?

TJU

Tr(u)mpeltier junior

10.1.2021, 01:53:29

Hier musst du meiner Ansicht nach aufpassen, die verschiedenen Stufen zu vermengen. Ohne einen tatentschluss kommst du im Ergebnis gar nicht zur Rücktrittsprüfung, gleiches gilt - wenn wie hier - das unmittelbare ansetzen verneint wird. Aber in dem moment, in dem er positive Kenntnis von der Tatsache hat, dass der Betrunkene dort bis zum Eintreffen des Zuges sich eigenständig nicht wegbewegen wird, dürfte tatentschluss zu bejahen sein (dolus eventualis). Aber deine Bauchschmerzen sind absolut nachvollziehbar, da hier die Strafbarkeit natürlich weit vorgelagert wird. Deswegen wird teilweise von einer mindermeinung als Anknüpfungspunkte des Unmittelbaren ansetzens der Zeitpunkt der letzten rettungshandlung gewählt.

LH

L. H.

10.1.2021, 02:07:36

Danke für die Antwort! Ich sehe hier (wohl entsprechend der Mindermeinung) tatsächlich den Zeitpunkt sowohl von unmittelbarem Ansetzen als auch (dementsprechend) vom Tatentschluss noch gar nicht erreicht als das potenzielle Opfer bereits außer Gefahr gebracht wird. Gerade dass T sich eine geraume Zeit vor der Möglichkeit eines unmittelbaren Ansetzens doch noch gegen die Tat entschieden hat, spricht für mich dafür, dass es sich bei seinem bis dahin bestandenen Sentiment lediglich um eine Tatgeneigtheit und noch keinen endgültigen Tatentschluss gehandelt hat. Daher würde ich im Ergebnis einen Versuch sowohl objektiv als auch subjektiv verneinen.

LH

L. H.

10.1.2021, 02:09:25

Und gegen ein unmittelbares Ansetzen spricht für mich, dass die Gefahr noch so weit weg und T noch in der Nähe und eben doch noch nicht ganz zur Tat entschlossen war.

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

23.1.2021, 15:26:48

Ich würde tatsächlich Tatentschluss und unmittelbares Ansetzen stärker voneinander trennen. Selbstverständlich muss der Tatentschluss auch im Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens vorliegen. Allerdings kann bereits vorher Tatentschluss vorliegen, wobei dann trotzdem keine Strafbarkeit vorliegt. Das Problem beim Unterlassen ist dann, anders als beim Tätigkeitsdelikt, dass nicht an eine konkrete Handlung angeknüpft werden kann und die Frage daher so wie vorliegend gestellt werden kann ob Tatentschluss bestand und den Zeitpunkt daher zunächst außen vor lassen, auch wenn klar ist, dass dieser dann auch noch im Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens vorliegen muss. Das Argument dass er später hilft und dann doch nicht unmittelbar ansetzt wirkt sich auch auf den Tatentschluss nicht aus.

EB

Elias Von der Brelie

31.5.2023, 12:00:24

Um ehrlich zu sein wirkte der Sachverhalt hier für mich eher so als würde der T davon ausgehen, dass der O selbst rauskommen wird. Ich persönlich würde selbst bei einem Betrunkenen stark davon ausgehen, dass dieser es Schafft innerhalb einer vollen Stunde die Gleise zu verlassen. Hier war nirgends im Sachverhalt erwähnt, dass der T von Anfang an davon ausging, oder auch nur ernsthaft in Betracht zog, dass der O es nicht innerhalb von einer Stunde von den Gleisen schaffen würde. Nach einer Halben Stunde dämmerte es ihm dann, dass der O möglicherweise vom Zug überfahren werden könnte und handelte. Ich weiß, dass wir normalerweise niemals den Sachverhalt interpretieren sollen, aber hier ist die nötige Information ja nicht gegeben. Bedeutet, dass man den Sachverhalt so oder so ein Stück weit Interpretieren muss.

Sambajamba10

Sambajamba10

22.10.2023, 13:53:26

@L.H. du missachtest total das Koinzidenzprinzip. Der Tatentschluss (auch Vorsatz) müsste bei Begehung der Tat(Handlung) (vgl. §§ 8, 16) vorliegen. Die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne ist die im Tatbestand festgelegte Tathandlung (Unterlassen) und ihr tatbestandlicher Erfolg (Totsein eines anderen Menschen). Das heißt, dass der Täter Vorsatz haben müsste, als er das Opfer auf dem Bahngleis ließ und es danach verließ. Zu diesem Zeitpunkt sah T die Möglichkeit, dass O aufgrund fehlender Unterstützung und Betrunkenheit von einem Zug überrollt werden könnte und fand sich damit ab. Demnach liegt Eventualvorsatz, mithin Tatentschluss, vor. Fraglich ist allein, ob er den Tatentschluss ausgeführt hat (unmittelbar angesetzt hat). Stellte man auf die hM ab, dann läge kein unmittelbares Ansetzen vor. Legte man eine Mindermeinung zugrunde, so hätte T unmittelbar angesetzt. Mit der Mindermeinung könnte man daraufhin aber anbringen, dass kein Fehlschlag vorliegt und dass T freiwillig eine adäquate Rücktrittshandlung unternommen hat und damit vom Versuch zurückgetreten ist. Wie bereits angemerkt worden ist, darf man die verschiedenen Ebenen der Versuchsprüfung also nicht vermengen.


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