Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2022
Behandlung unnötig: Bis zu 10 Jahre Freiheitsstrafe für fachgerechte Entfernung eines Zahns?
Behandlung unnötig: Bis zu 10 Jahre Freiheitsstrafe für fachgerechte Entfernung eines Zahns?
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Zahnarzt T erklärt O, dass eine Zahnextraktion nötig sei, obwohl es aussichtsreiche Behandlungsalternativen gibt. T will mit Os anschließender Zahnersatzbehandlung einen finanziellen Vorteil erlangen. O willigt im Vertrauen auf die falschen Angaben ein. T entfernt Os Zähne fachgerecht.
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Einordnung des Falls
In dem Beschluss wird der Fall eines Zahnarztes behandelt, der in zahlreichen Fällen bei Patienten und Patientinnen unnötige Zahnextraktionen durchgeführt hatte. Der BGH hatte früher unter Geltung des alten § 223a StGB die Einordnung der Zahnarztinstrumente als gefährlichen Werkzeuge und damit die Qualifizierung der Körperverletzung noch abgelehnt. Unter der seit 1998 geltenden Rechtslage bejaht nun das OLG Karlsruhe die Qualifikation. Denn Zahnarztinstrumente seien in der Lage, Patienten erhebliche Verletzungen und Schmerzen zuzufügen. Auch wenn das Werkzeug also von einem lizensierten Fachmann geführt werde, kann es sich dabei um ein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 224 StGB handeln.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat T den O körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt (§ 223 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Ist die tatbestandsmäßige Körperverletzung des O durch seine Einwilligung in die Behandlung gerechtfertigt?
Nein, das trifft nicht zu!
3. Könnte T sich zudem wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht haben, wenn die zur Zahnextraktion verwendeten Instrumente gefährliche Werkzeug sind (§224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB)?
Ja!
4. Hat der BGH im Hinblick auf § 223a StGB a.F. geurteilt, dass die zahnärztliche Zange kein gefährliches Werkzeug darstellt?
Genau, so ist das!
5. Kommt es bei dem neugefassten § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB im Hinblick auf das Vorliegen des gefährlichen Werkzeuges noch darauf an, ob der Gegenstand als Angriffs- oder Verteidigungsmittel verwendet wird?
Nein, das trifft nicht zu!
6. Hat T durch den Einsatz der Zange die Qualifikation der gefährlichen Körperverletzung verwirklicht (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB)?
Ja!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Sadaf K
3.9.2022, 15:02:45
Was ist mit Betrug?
Nora Mommsen
4.9.2022, 11:50:51
Hallo Sadaf K, in einem Gutachten wäre dies noch zu prüfen. Vorliegend ging es darum, die Reichweite und Grenzen der Einwilligung sowie den Begriff des gefährlichen Werkzeugs darzustellen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Timurso
13.12.2022, 22:07:02
Stellt dieses Urteil eine Rechtsprechungsänderung des BGH dar? Ich war bisher auf dem Stand, dass lege artis verwendete medizinische Geräte keine gefährlichen Werkzeuge darstellen, da sie weder Angriffs- noch Verteidigungszwecken dienen und auch nicht die Gefährlichkeit des Eingriffs erhöhen. Im Gegenteil wäre derselbe Eingriff ohne Werkzeuge für die Gesundheit des Patienten gefährlicher.
Timurso
13.12.2022, 22:07:49
sehe gerade, das es ein Urteil vom OLG, nicht vom BGH ist. Frage bleibt aber bestehen
Lukas_Mengestu
14.12.2022, 11:25:34
Hallo Timurso, der BGH hat 1978 (BGH, Urt. v. 22.02.1978 - 2 StR 372/77) tatsächlich einmal entschieden, dass medizinisches Gerät in den Händen Fachkundiger keine gefährlichen Werkzeuge sind. Die entsprechende Entscheidung haben wir jetzt auch noch einmal verlinkt. Seit der Neufassung des § 223a StGB hat er zu dieser Frage keine Stellung nehmen müssen (s. verlinktes Urteil). Mit den vom OLG angeführten Argumenten lässt sich nach heutiger Rechtslage aber sehr gut vertreten, dass eine gefährliche Körperverletzung vorliegt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
philosophe
19.5.2024, 11:57:39
kommt hier auch schwere Körperverletzung in Betracht?
Maximilian Puschmann
20.5.2024, 13:24:32
Hallo philosophe, Einzig prüfungswürdig wäre wohl § 226 I Nr. 2 ein "wichtiges Glied des Körpers". Was hierunter zu verstehen ist, ist schon sehr strittig. Die Rechtssprechung definiert "Glied" als nach außen in Erscheinung tretender Körperteil, der eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus erfüllt. Folglich würde es je nach Auslegung schon am §nach außen in Erscheinung tretend" fehlen, jedoch definitiv an der abgeschlossenen Existenz mit besonderer Funktion, da man noch viele weitere Zähne hat. "Wichtig" ist es unstreitig nicht, dadurch, dass man noch zwischen 27 und 31 weitere hat. Beste Grüße Max - Für das Jurafuchs-Team
philosophe
23.5.2024, 21:23:16
Danke für die Antwort! Ich dachte aber eher an Nr. 3 Var. 1. Dadurch, dass es m
ehrere Zähne sind, scheint mir das Entfernen von gesunden Zähnen schon erheblich 🤔
Simon
21.10.2024, 23:05:45
Ich finde die Entscheidung wenig überzeugend. Der Unterschied zwischen Waffe und einem gefährlichen Werkzeug ist m.E. nicht, dass das eine als Angriffs- oder Verteidigungsmittel eingesetzt wird und das andere nicht. Vielmehr geht es doch darum, dass eine Waffe schon nach ihrer objektiven Zweckbestimmung und somit losgelöst vom Einzelfall dazu bestimmt ist, Menschen (erheblich) zu verletzen. Ausschlaggebend ist bei §
224 StGBeine erhöhte Gefährlichkeit der Körperverletzung. Diese ist aber gerade nur gegeben, wenn das medizinische Werkzeug eingesetzt wird, um dem Patienten einen besonderen Schaden zuzufügen. Hier wird im Gegenteil die Gefährlichkeit im Vergleich zur alternativen Begehungsweise (Ausschlagen der Zähne) verringert. Die Ärztin nutzte die Werkzeuge hier also, um den Schaden möglichst gering zu halten und "nur" auf den Verlust der Zähne zu beschränken. Prinzipiell halte auch ich nichts davon, lege artis eingesetzte medizinische Instrumente per se aus dem Anwendungsbereich des gefährlichen Werkzeugs auszuklammern, da dies mMn an die (überholte) Auffassung anknüpft, eine fachgerechte medizinische Behandlung könne keine Körperverletzung sein. Stattdessen sollte man allein auf die erhöhte Gefährlichkeit abstellen. Die Situation hier ist aber nicht vergleichbar mit z.B. der Entnahme eines Organs mittels eines Skalpells. Denn dort diente das Skalpell dazu, eine Verletzung herbeizuführen, welche sonst gar nicht möglich wäre. Im vorliegenden Fall geht es darum aber nicht, da die Ärztin die Zähne auch durch einen Faustschlag "entfernen" könnte.
kithorx
24.10.2024, 20:05:25
In der zweiten Frage würde ich vor "Einwilligung" ein "wirksame" einfügen. Das verhindert in meinen Augen Missverständnisse. Ich habe die Frage nämlich zuerst abstrakter verstanden, also ob eine Rechtfertigung durch (irgendeine wirksame) Einwilligung des O grundsätzlich möglich ist, was dann ja zu bejahen wäre.