Klassiker: Gubener Hetzjagdfall

3. Dezember 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

O flieht aus Todesangst vor den Skinheads T, A und B, die ihn zuvor massiv beleidigt und ihm Faustschläge angedroht hatten. Obgleich die Skinheads die Verfolgung schon aufgegeben haben, versucht sich O, der dies nicht bemerkt hatte, in panischer Angst durch einen Sprung durch eine Glastür in Sicherheit zu bringen. O zieht sich tödliche Schnittverletzungen zu.

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Einordnung des Falls

Bei der Gubener Hetzjagd-Fall setzt der BGH seine Rechtsprechung zu der Erfolgsqualifikation des § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) fort, die er bereits durch den Pistolenschlag-Fall (BGHSt 14, 110) und den Rötzel-Fall (NJW 1971, 152) begründet hat. Dabei stellt er einerseits klar, dass ein erfolgsqualifizierter Versuch auch dann angenommen werden kann, wenn das Grunddelikt (hier die Körperverletzung nach § 223 StGB) lediglich versucht wurde. Andererseits präzisiert er seine Rechtsprechung zur Frage des Unmittelbarkeitszusammenhangs. Im Rötzel-Fall hatte er noch ausgeführt, dass der für die Erfolgsqualifikation notwendige Unmittelbarkeitszusammenhang fehle, wenn der Tod des Opfers durch sein eigenes (Flucht-) Verhalten herbeigeführt wird. Nunmehr stellte er klar, dass der Unmittelbarkeitszusammenhang aber jedenfalls dann nicht ausgeschlossen sei, wenn die Panikreaktion des Opfers, die zu seiner Selbstverletzung führt, geradezu deliktstypisch sei.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 11 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Die Panikgefühle, die bei O durch die Verfolgung ausgelöst wurden, stellen eine Körperverletzung dar (§ 223 Abs. 1 StGB).

Nein, das ist nicht der Fall!

Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Unter Gesundheitsschädigung ist jedes Hervorrufen oder Steigern eines auch nur vorübergehenden heilungsbedürftigen (pathologischen) Zustands zu verstehen. Psychische Empfindungen und Panikreaktionen begründen dabei nach der Rechtsprechung nur dann eine Gesundheitsschädigung, wenn sie einen körperlich bedeutsamen Krankheitswert besitzen. Während bei Schockzuständen ein hinreichender Krankheitswert regelmäßig zu bejahen ist, genügen Schreck und Panik für sich betrachtet noch nicht, um bereits einen pathologischen Zustand anzunehmen. 
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2. Die Schnittverletzungen bei O stellen eine Körperverletzung dar (§ 223 Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Bei den Schnittverletzungen des O handelt es sich um einen heilungsbedürftigen Zustand, sodass eine Gesundheitsschädigung nach § 223 Abs. 1 StGB angenommen werden kann. Nimmt man mit der hM an, dass für eine körperliche Misshandlung auch eine bloß mittelbare Einwirkung auf den Körper ausreicht, so liegt auch diese vor.

3. Die Tathandlung der Verfolgung ist kausal für den Körperverletzungserfolg.

Ja!

Eine Ursache ist nach der conditio-sine-qua- non Formel kausal für einen Erfolg, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann , ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Würde man sich die Verfolgung hinwegdenken, wäre O nicht geflohen. Er hätte zudem nicht die Glastür eingetreten, um sich zu verstecken und wäre somit nicht verblutet. Das Verfolgen war mithin kausal für den Verletzungserfolg.

4. Handelt es sich bei Os Sprung durch die Glastür um einen atypischen Kausalverlauf, sodass die objektive Zurechnung entfällt?

Nein, das ist nicht der Fall!

Der Erfolg ist objektiv zurechenbar, wenn durch die Handlung ein rechtlich missbilligtes Risiko für das geschützte Rechtsgut geschaffen wurde und sich dieses Risiko im tatbestandlichen Erfolg verwirklicht hat. Von atypischen Kausalverläufen spricht man, wenn der eingetretene Erfolg völlig außerhalb dessen liegt, was nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung noch in Rechnung zu stellen ist. Es ist gerade die spezifische Gefahr eines Angriffs, dass das Opfer versucht durch Flucht oder Gegenwehr Schäden von sich abzuwenden.Auch wird der objektive Zurechnungszusammenhang nicht durch Os eigenverantwortliches Handeln durchbrochen. Dafür müsste er freiverantwortlich gehandelt haben, während er sich hier infolge des Angriffs zur Flucht gezwungen sah.

5. Abweichungen vom Kausalverlauf sind stets unbeachtlich für den Vorsatz des Täters (§ 16 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Vorsätzlich handelt, wer mit dem Willen zur Verwirklichung des Tatbestandes in Kenntnis aller objektiven Tatumstände handelt. Nach der Rechtsprechung sind Abweichungen zwischen dem vorgestellten und dem tatsächlichen Kausalverlauf für den Vorsatz nur dann „unwesentlich“, wenn sie sich noch in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren halten und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigen. Eine andere Bewertung ist gerechtfertigt, wenn der Erfolg auf einer Handlung beruht, die nicht zur tatbestandlichen Ausführungshandlung zählt.

6. Haben T, A und B im Hinblick auf Os Schnittverletzungen vorsätzlich gehandelt (§ 16 StGB)?

Nein!

Es fehlt am Vorsatz, wenn der vorgestellte und der tatsächlichen Kausalverlauf derart voneinander abweichen, dass eine andere Bewertung der Tat gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn der Erfolg auf einer Handlung beruht, die nicht zur vorgestellten tatbestandlichen Ausführungshandlung zählt.Die Täter kannten die Umstände ihrer Mittäterschaft und wollten O verletzen. Die Verletzung sollte allerdings allein durch ihre Schläge erfolgen sollte, nicht durch den Sprung durch die Scheibe. Bei der Flucht und den tödlichen Schnittverletzungen, handelte es sich dabei um eine wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf, die nicht mehr vom Vorsatz der Täter umfasst war. Sie haben sich deshalb nicht wegen vollendeter, vorsätzlicher Körperverletzung strafbar gemacht.

7. T, A und B könnten zudem die Erfolgsqualifikation des § 227 StGB verwirklicht haben.

Genau, so ist das!

Die Erfolgsqualifikation setzt zunächst die Verwirklichung des Grunddelikts voraus. Die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen der Erfolgsqualifikation sind sodann: (1) Tod der verletzten Person (=Eintritt der schweren Folge), (2) Kausalität zwischen Körperverletzung und Folge (3) Tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang zwischen Körperverletzung und Folge (4) Fahrlässigkeitsvorwurf hinsichtlich der eingetretenen Folge (§ 18 StGB).

8. Nach dem BGH kann die Erfolgsqualifikation des § 227 StGB nur verwirklicht werden, wenn die zugrundeliegende Körperverletzung vollendet wurde.

Nein, das trifft nicht zu!

Bei der Frage, ob ein erfolgsqualifiziertes Delikt auch verwirklicht werden kann, wenn das Grunddelikt lediglich versucht wurde (sog. erfolgsqualifizierter Versuch), differenziert die herrschende Meinung: (1) Knüpft der qualifizierende Erfolg an die bloße Tathandlung an, so sei auch ein erfolgsqualifizierter Versuch möglich. (2) Knüpfe der qualifzierende Erfolg dagegen an den Erfolgseintritt an, so sei hierfür kein Raum und es sei allein aus dem versuchten Grunddelikt zu bestrafen. BGH: Die Erfolgsqualifikation des § 227 StGB soll allein der mit der Körperverletzung verbundenen Gefahr des Eintritts der qualifizierenden Todesfolge entgegenwirken. Eine solche deliktsspezifische Gefahr könne bereits von der Körperverletzungshandlung ausgehen, sodass hier ein erfolgsqualifizierter Versuch möglich sei.Ein Teil der LIteratur fordert dagegen unter Berufung auf den Wortlaut, dass der Tod unmittelbar auf dem Körperverletzungserfolgs beruhen müsse (=Letalitätsthese) und der erfolgsqualifizierter Versuch deshalb ausscheide.

9. Genügt für den tatbestandsspezifischen Gefahrzusammenhang zwischen Körperverletzung und Folge jede kausale Verknüpfung?

Nein!

Aufgrund der Verknüpfung zweier Unrechtselemente (Körperverletzung und schwerer Folge, hier: Todesfolge) ist der Unrechtsgehalt bei Erfolgsqualifikationen wie § 227 StGB höher. Damit einhergehend auch das angedrohte Strafmaß. Die hohen Strafandrohungen führen dazu, die Tatbestände eng („restriktiv”) auszulegen, denn die Strafe muss zu ihrem Anlass, der Tat, in einem angemessenen Verhältnis stehen. Es bedarf deshalb nicht nur eines kausalen Zusammenhangs. In der schweren Folge muss sich vielmehr genau die spezifische Gefahr verwirklichen, die mit dem Grunddelikt verbunden ist.

10. Nach dem BGH liegt ein tatbestandsspezifischer Gefahrenzusammenhang vor, obwohl hier ein selbstgefährdendes Verhalten des O zum Tod geführt hat.

Genau, so ist das!

Erforderlich ist, dass gerade zwischen der Verwirklichung des Grunddelikts und dem Eintritt der schweren Folge (Tod) ein Zusammenhang besteht (sog. tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang). In der schweren Folge muss sich gerade eine der Verwirklichung des Grundtatbestands typischerweise und spezifisch anhaftende Gefahr verwirklicht haben. BGH: Bei durch Gewalt und Drohung geprägten Straftaten ist eine Panikreaktion des Opfers, welche zu einer Selbstverletzung führt, deliktstypisch. Es entspringe dem elementaren Selbsterhaltungstrieb des Menschen, dass das Opfer aufgrund der einschüchternden Wirkung der Drohung eine Flucht “Hals über Kopf” unternehme (RdNr. 54). Somit liege der erforderliche Unmittelbarkeitszusammenhang hier vor.

11. T, A und B haben zumindest fahrlässig im Hinblick auf die eingetretene schwere Folge gehandelt.

Ja, in der Tat!

Schließlich ist erforderlich, dass der Täter hinsichtlich des Erfolges wenigstens fahrlässig gehandelt hat, insbesondere muss der Todeserfolg vorhersehbar gewesen sein. Hierfür reicht es aus, daß der Erfolg nicht außerhalb aller Lebenserfahrung liegt; alle konkreten Einzelheiten brauchen dabei nicht voraussehbar zu sein.Wie dargelegt, gehört zur spezifischen Gefahr eines Angriffs grundsätzlich auch, dass das Opfer versucht durch Flucht oder Gegenwehr Schäden von sich abzuwenden. Der Sprung durch die Glastür war insoweit objektiv auch subjektiv vorhersehbar. Damit haben die Täter sich wegen versuchter Körperverletzung mit Todesfolge nach §§ 227, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Ebenfalls verwirklicht ist auch die fahrlässige Tötung nach § 222 StGB, die aber auf Konkurrenzebene hinter der versuchten Körperverletzung mit Todesfolge zurücktritt (Spezialität). Tateinheitlich verwirklicht ist aber noch die vollendete Nötigung (§ 240 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB).
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