Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2021
Unterlassungsanspruch ggü staatlicher Berichterstattung bzgl. AfD-Prüfverfahren
Unterlassungsanspruch ggü staatlicher Berichterstattung bzgl. AfD-Prüfverfahren
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Die Presse berichtet, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) stehe davor, die Partei Alternative für Deutschland (AfD) als extremistische Bestrebung i.S.d. § 3 BVerfSchG einzustufen. Das Bundesministerium des Innern (BMI) schreibt auf seinem Twitter-Account, dass es ein BfV-Gutachten über die AfD ergebnisoffen prüfe.
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Einordnung des Falls
Unterlassungsanspruch ggü staatlicher Berichterstattung bzgl. AfD-Prüfverfahren
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 15 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Im Eilrechtsschutz fordert die AfD gegenüber dem BMI die Löschung des Tweets. Statthafter Eilrechtsschutz ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO.
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Im Rahmen ihres Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO muss die AfD einen Anordnungsanspruch glaubhaft machen. Dieser könnte hier aus dem öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch folgen.
Genau, so ist das!
3. Bei der Äußerung des BMI handelt es sich um hoheitliches Handeln.
Ja, in der Tat!
4. Der Tweet könnte auch in ein subjektiv-öffentliches Recht der AfD eingegriffen haben.
Ja!
5. Um zu ermitteln, ob die Äußerung einen Eingriff in subjektive Recht der AfD darstellt, ist die subjektive Absicht des sich Äußernden maßgeblich.
Nein, das ist nicht der Fall!
6. Aus dem Tweet, dass das BfV-Gutachten über die AfD im BMI ergebnisoffen geprüft werde, kann geschlussfolgert werden, dass geprüft wird, die AfD als extremistische Bestrebung i.S.d. § 3 BVerfSchG einzustufen.
Ja, in der Tat!
7. Sofern in der Äußerung deutlich wird, dass das Ergebnis der Prüfung über die Einstufung der AfD als extremistische Bestrebung i.S.d. § 3 BVerfSchG noch offen ist, liegt kein Eingriff in die nach Art. 21 Abs. 1 GG geschützte Parteienfreiheit vor.
Nein!
8. Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch setzt ferner voraus, dass der Eingriff rechtswidrig ist. In Betracht kommt eine Rechtfertigung aus der Befugnis des BMI zur Information der Öffentlichkeit gemäß § 16 Abs. 2 BVerfSchG.
Genau, so ist das!
9. Vorliegend sind die Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 S. 1 BVerfSchG erfüllt. Damit ist die Äußerung des BMI aufgrund von § 16 BVerfSchG gerechtfertigt und rechtmäßig.
Nein, das trifft nicht zu!
10. Äußerungen von Staatsorganen können aber aufgrund ihrer allgemeinen Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit gerechtfertigt sein.
Ja!
11. Vorliegend kann das BMI auf die allgemeine Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zurückgreifen. Dass die Voraussetzungen von § 16 BVerfSchG nicht erfüllt sind, ist unerheblich.
Nein, das ist nicht der Fall!
12. Wenn das BMI sich auf die allgemeine Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit stützen könnte, wäre der Eingriff gerechtfertigt.
Nein, das trifft nicht zu!
13. Die AfD kann weiter einen Anordnungsgrund, der die Eilbedürftigkeit begründet, glaubhaft machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Ja!
14. Weiterhin fordert die AfD im Eilantrag von dem BMI, derartige Äußerungen künftig zu unterlassen. In Betracht kommt auch in Bezug hierauf ein öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch.
Genau, so ist das!
15. Im Rahmen ihres Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO muss die AfD einen Anordnungsanspruch glaubhaft machen. Dieser könnte hier aus dem Folgenbeseitigungsanspruch folgen.
Ja, in der Tat!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Jana-Kristin
23.11.2021, 18:39:35
Falls es jemand sucht: Das BVerfSchG ist im Sartorius die Ordnungsnummer 80.
Phoenix
27.11.2021, 12:12:50
Sehr gute Darstellung! Nur zur Info: Im Rahmen der Anspruchsgrundlage könnte man den öffentlich-rechtlichen
Unterlassungsanspruch (Abwehr des Eingriffs) kurz zum sog.
Folgenbeseitigungsanspruch(Wiederherstellung des status quo ante) abgrenzen.
Lukas_Mengestu
30.11.2021, 11:30:39
Vielen Dank für den super Hinweis, Phoenix. Wir haben nun eine entsprechende Frage ergänzt :). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Sambadi
23.3.2022, 01:23:08
Danke für die super Darstellung. Zwar verstehe ich, dass §16 BVerfSchG eine Sperrwirkung enthält und dass dort die Vorraussetzungen nicht erfüllt wären. Allerdings würde ich in dem Tweet kein gezielten „Angriff“ auf die Chancengleichheit sehen. Wie ihr selbst schreibt, können sich Äußerungen im Rahmen der Allgemeinen Informationsarbeit seitens Hoheitsträger z.T auch erheblich auf die Wahlchancen auswirken. Sie müssen nur sachlich sein. Hier gibt das BMI doch ohne Wertung die tatsächlichen Umstände wieder oder verstehe ich da was falsch? (In dem genauen Fall eh nicht relevant, wegen der Sperrwirkung der Spezialnorm aber würde das trotzdem gerne verstehen). Danke!
Lukas_Mengestu
23.3.2022, 17:15:28
Hallo sambody2love, das VG Berlin hat vor allem damit argumentiert, dass die Befugnis- zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit nicht einseitig für oder gegen einzelne Parteien eingesetzt werden darf. Auch wenn die Informationen hier also sachlich neutral formuliert waren, so ergäbe sich allein durch den Tweet eine einseitige Parteinahme gegen eine Oppositionspartei. Eine solche sei im Ergebnis aber unzulässig (vgl. RdNr. 20). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Cecilie
2.6.2022, 15:21:41
Nur eine Frage bzgl der Terminologie :) Als Anordnungsanspruch greift ja der öff. Rechtliche Abwehranspruch. Hier ist aber immer vom öff rechtlichen
Unterlassungsanspruch die Rede, obwohl der Eingriff noch fortdauert und am Ende gehts dann nochmal um einen (nicht begründeten)
Unterlassungsanspruch und da muss dann die Voraussetzung „Wiederholungsgefahr“ vorliegen. Meint ihr am Anfang „Abwehranspruch“ statt „
unterlassungsanspruch“ oder ist es egal wie man es nennt, Hauptsache man versteht den Unterschied in der Rechtsfolge und damit die Abgrenzung fortdauernder Angriff/ Wiederholungsgefahr?
Lukas_Mengestu
7.6.2022, 12:06:27
Hallo Cecilie, das VG Berlin hat an dieser Stelle sowohl die Abwehr der bestehenden Störung, als auch die Unterlassung der zukünftigen Beeinträchtigung (zB erneute Äußerung) einheitlich unter dem Begriff "
Unterlassungsanspruch" geprüft. Geht es in einem Fall dagegen allein um eine aktuelle Störung (ohne Besorgnis zukünftiger Beeinträchtigung), so kannst Du hier auch differenzieren und für die gegenwärtige Beeinträchtigung den Begriff "öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch" und für zukünftige Beeinträchtigungen "
öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch" verwenden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Cecilie
2.6.2022, 19:32:51
Und noch eine Frage: warum ist hier der verwaltungsgerichtsweg eröffnet und bei der Äußerung von Seehofer über die afd auf der bmi Internetseite ein organstreitverfahren statthaft? Es sind ja im Grunde die gleichen argumentationssturkuren Chancengleichheit der Partei vs. Informations- und Öffentlichkeitsarbeit als Teil der Staatsleitung. Wieso liegt hier
doppelte verfassungsunmittelbarkeitvor? Macht hier der Post über Twitter den Unterschied oder der Gegenstand der Äußerung? Danke!
Lukas_Mengestu
7.6.2022, 12:08:55
Hallo Cecilie, der Unterschied besteht hier darin, dass einmal gegen Seehofer als Mitglied des Staatsorgans "Bundesregierung" geklagt wird und die Klage sich das andere Mal gegen das BMI als oberste Bundes
behörderichtete. Somit liegt nur im ersten Fall "
doppelte Verfassungsunmittelbarkeit" vor, weswegen hier der Verwaltungsrechtsweg nicht statthaft ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
hannahlouisa
18.8.2022, 21:57:58
Hey :) Könntest du das vielleicht noch einmal weiter ausführen? Weil das BMI ist ja trotzdem ein Bundesorgan, und soweit Parteien in Art. 21 verletzt sind, sind sie ja auch beteiligtenfähig im Organstreitverfahren. Also sind ja trotzdem Bundesorgane beteiligt, warum also wird das nicht dann zumindest über 32 BVerfGG geregelt? Ich schreibe Montag Examen und bin jetzt mega verwirrt 😅 Danke schonmal!
Sambadi
16.4.2023, 02:39:22
Das BMI ist eben kein Bundesorgan sondern die oberste Bundes
behörde. Allerdings sind die einzelnen BUNDESminister wiederum Teil der Bundesregierung (Art. 62 GG) und somit Teile eines obersten Bundesorgans iSs § 63 BVerfGG. Im Bundesministerium des Innern ist aber nur ein Bundesminister nämlich die Faeser (damals Seehofer). Die restlichen Mitarbeiter sind jedoch nicht Teil der Bundesregierung und handeln grds. Verwaltungsrechtlich :) Wird dir jetzt wahrscheinlich nichts mehr bringen, aber dadurch hab ich es mir jetzt gemerkt 😅😅
Sambadi
16.4.2023, 02:44:18
Und das Seehofers Aussage damals auch auf der Homepage des BMI veröffentlicht wurde, ist nur insoweit relevant, als das es für eine Äußerung als „Amtsträger“ spricht um diese von einer etwaigen - in die Chancengleichheit nicht eingreifende - Äußerung als „Parteipolitiker“ bzw „Privatperson“ abzugrenzen.