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Kein Unterlassungsanspruch der Anwohner bei Verstoß gegen LKW-Durchfahrtverbot

Kein Unterlassungsanspruch der Anwohner bei Verstoß gegen LKW-Durchfahrtverbot

31. Mai 2025

12 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Die S-Straße ist von einem durch die Stadt S für das gesamte Stadtgebiet erlassenen Luftreinhalteplan erfasst. Trotz des darauf gestützten LKW-Durchfahrtsverbots fahren die LKWs von Logistiker L täglich dort. Erhöhte Immissionswerte gibt es nicht. Bewohner B fürchtet dennoch um seine Gesundheit und die Gesundheit seiner Kinder.

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Einordnung des Falls

Kein Unterlassungsanspruch der Anwohner bei Verstoß gegen LKW-Durchfahrtverbot

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ein Unterlassungsanspruch von B gegen L könnte sich auf § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB i.V.m. § 906 BGB stützen.

Ja!

Der Anspruch nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB setzt voraus, dass (1) der Anspruchsteller Eigentümer ist oder bei Eintritt der Beeinträchtigung die Beseitigung verlangen könnte, (2) eine Eigentumsbeeinträchtigung vorliegt oder kurz bevorsteht, (3) Wiederholungsgefahr besteht, (4) der Anspruchsgegner Störereigenschaft hat und (5) keine Pflicht zur Duldung der Störung besteht.
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2. Mangels erhöhter Schadstoffimmissionen fehlt es für einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB an der wesentlichen Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung.

Genau, so ist das!

Nach h.M. ist eine Beeinträchtigung jede rechtliche oder tatsächliche, von außen kommende Einwirkung auf die Sache. Teilweise hat der Beeinträchtigte die Einwirkungen aber auch zu dulden. Eine Duldungspflicht kann sich aus Vertrag oder Gesetz ergeben; so kann der Eigentümer gemäß § 906 Abs. 1 S. 1 BGB Einwirkungen auf sein Grundstück nicht verbieten, sofern sie die Benutzung des Grundstücks nur unwesentlich beeinträchtigen. Die Wesentlichkeit einer Beeinträchtigung beurteilt sich nach dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen und dem, was diesem unter Würdigung anderer öffentlicher und privater Belange zuzumuten ist. Es liegen keine erhöhten Schadstoffimmissionen vor sodass der Ausstoß nicht außergewöhnlich hoch ist und mithin das Grundstück des B nicht wesentlich beeinträchtigt wird.

3. B könnte gegen L aber einen Anspruch auf Unterlassung aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB haben.

Ja, in der Tat!

Der Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, §§ 823ff. BGB (quasi-negatorischer Unterlassungsanspruch) setzt (1) eine Verletzung der durch §§ 823ff. BGB geschützten Rechte und Rechtsgüter, (2) Wiederholungsgefahr, (3) Rechtswidrigkeit (keine Duldungspflicht (§ 1004 Abs. 2 BGB)) und (4) die Störereigenschaft des Anspruchsgegners voraus. Ein Verschulden ist - anders als im Falle eines Schadensersatzanspruchs - nicht erforderlich.

4. Reicht eine lediglich abstrakte Gesundheitsgefahr aus, um eine Verletzung und damit einen Unterlassungsanspruch zu begründen?

Nein!

Unter Verletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB ist der Eingriff in den Schutzbereich des jeweiligen in § 823 Abs. 1 BGB enumerierten Rechtsguts zu verstehen. Dabei muss tatsächlich eine Verletzung festgestellt werden können, der bloße Verdacht ist nicht ausreichend.Vorliegend fürchtet der B zwar um seine Gesundheit, bringt aber noch keine konkreten Beschwerden vor und auch erhöhte Schadstoffimmissionen wurden nicht gemessen. Mangels Gesundheitsverletzung scheidet ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB aus.Für einen vorbeugenden Unterlassungsanspruch braucht es nach ständiger BGH-Rechtsprechung ebenfalls eine konkret drohende Beeinträchtigung, eine bloß potenzielle Gefahr genügt nicht.

5. B könnte gegen L jedoch einen Unterlassungsanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog haben.

Genau, so ist das!

Der Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, § 823 Abs. 2 BGB setzt (1) eine Beeinträchtigung eines Schutzgesetzes i.S.d. § 823 Abs. 2, (2) Wiederholungsgefahr, (3) Rechtswidrigkeit (keine Duldungspflicht (§ 1004 Abs. 2 BGB)) und (4) die Störereigenschaft des Anspruchsgegners voraus.Ein Verschulden ist - anders als im Falle eines Schadensersatzanspruchs - nicht erforderlich.

6. Die Schutzgesetzeigenschaft einer Norm setzt voraus, dass sie ausschließlich den Schutz von Individualinteressen bezweckt.

Nein, das trifft nicht zu!

Schutzgesetz ist eine materielle Rechtsnorm (Art. 2 EGBGB), die nach ihrem Zweck und Inhalt zumindest auch dazu bestimmt ist, den Einzelnen oder einzelne Personenkreis gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes zu schützen. Es reicht daher aus, dass die Norm neben dem Allgemeinschutz auch Einzelne schützen soll. Ausgeschlossen sind dagegen solche Normen, die nur die Allgemeinheit schützen sollen.

7. Das auf der Grundlage von § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG in Verbindung mit dem Luftreinehalteplan für die Stadt S angeordnete Durchfahrtsverbot ist zumindest allgemeinschützend.

Ja!

Der § 40 Abs. 1 BImSchG dient der Durchsetzung von Verkehrsbeschränkungen, die in EU-rechtlich bedingten Luftreinhalteplänen gem. § 47 Abs. 1, 2 BImSchG festgelegt wurden und dient somit auch mittelbar der Einhaltung von Grenzwerten und Alarmschwellen aus dem EU-Luftqualitätsrecht. BGH: Dies diene letztlich auch dem Gesundheitsschutz der Allgemeinheit (RdNr. 16ff.).

8. Das auf der Grundlage von § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG in Verbindung mit dem Luftreinehalteplan angeordnete Durchfahrtsverbot bezweckt auch den Gesundheitsschutz jedes einzelnen Anwohners.

Nein, das ist nicht der Fall!

Schutzgesetz ist eine materielle Rechtsnorm (Art. 2 EGBGB), die nach ihrem Zweck und Inhalt zumindest auch dazu bestimmt ist, den Einzelnen oder einzelne Personenkreis gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes zu schützen.BGH: Im vorliegenden Fall sei das LKW-Durchfahrtsverbot nicht nur für die einzelne Straße zur Reduzierung der Schadstoffkonzentration angeordnet, sondern für das gesamte Stadtgebiet mit dem Zweck, die Luftqualität zu verbessern. Schon angesichts der Größe der Verbotszone könne man nicht annehmen, dass an einer beliebigen Stelle verursachte Immissionen für jeden Anlieger die unmittelbare Gefahr einer Überschreitung der Grenzwerte verursachen. Es sei nicht jeder Bewohner einzeln begünstigt, sondern bloß als Teil der Allgemeinheit (RdNr. 20). Somit bezweckt das auf der Grundlage von § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG in Verbindung mit dem Luftreinehalteplan angeordnete Durchfahrtsverbot nicht den Schutz von Individualinteressen, sondern bloß den Schutz der Allgemeinheit. Es liegt kein Schutzgesetz vor.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CitiesOfJudah

CitiesOfJudah

22.8.2023, 10:27:55

Die letzte Frage wäre präziser beantwortbar, wenn im Sachverhalt noch stünde, dass sich der Luftreinhalteplan auf das gesamte Stadtgebiet erstreckt. Denn je kleiner das Gebiet des Luftreinhalteplan, desto eher ließe sich doch ein Schutz von Individualinteressen begründen. Die Argumentation des BGH nach der letzten Antwort ist so grundsätzlich auch nachvollziehbar, die Info, auf der der BGH seine Begründung aufbaut, nämlich, dass sich der Plan auf das ganze Stadtgebiet erstreckt, fehlt im Sachverhalt aber.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

22.8.2023, 15:24:37

Vielen Dank für den Hinweis, CitiesofJudah! Das haben wir noch im Sachverhalt noch präzisiert :-) Beste Grüße, Lukas

GO

GO

10.12.2023, 22:51:32

Woher leite ich einen Unterlassungsanspruch wegen Verletzung eines

Schutzgesetz

tes iSv §

823 II

ab? Bzw. weshalb ist ein solcher Anspruch anerkannt? Das ist mir leider noch etwas neu und unklar.

Simon Wessel

Simon Wessel

23.12.2023, 10:46:54

Hallo Go, das wird nur ersichtlich, wenn man sich das Urteil des BGH durchliest. Tatsächlich wird das Vorliegen eines

Schutzgesetz

es im konkreten Fall aber abgelehnt. Abstrakt heißt es: "(...) eine im Gesetz angelegte drittschützende Wirkung der Norm [kann] auch zu deliktischen Ansprüchen führen, wenn sie in Bezug auf die im Einzelfall zu erlassenden Ge- und Verbote noch der

Konkretisierung

durch einen Verwaltungsakt bedarf. Als

Schutzgesetz

betrachtet wird dabei nicht der Verwaltungsakt als solcher, sondern die jeweilige Eingriffsnorm, auf der er beruht. Ein gesetzliches Gebot oder Verbot ist als

Schutzgesetz

nur geeignet, soweit das geschützte Interesse, die Art seiner Verletzung und der Kreis der geschützten Personen hinreichend klargestellt und bestimmt sind." Im konkreten Fall wird als

Schutzgesetz

§ 40 I 1 BImSchG i. V. m. Lufteinhaltungsplan angeprüft, aber abgelehnt. Es kann kein individualschützender Charakter angenommen werden, da das LKW-Durchfahrtsverbot nur besteht, um im gesamten Stadtgebiet allgemein die Luftqualität zu verbessern. Anders (darauf verweist das Urteil, Rn. 16):

quasinegatorisch

er Anspruch auf Einhaltung der zu Gunsten des Klägers getroffenen Anordnung in Form eines drittbegünstigenden VA, da sich "aus der jeweils nachbarschützenden Norm in der

Konkretisierung

durch den VA eine hinreichend bestimmte Schutzrichtung des verletzten nachbarschützenden Gebots in den jeweiligen Anordnungen der

Behörde

n ergibt".

GO

GO

25.12.2023, 11:16:05

Hallo Simon Wessel, vielen Dank für deine ausführliche Erklärung!

DDoubleYou

DDoubleYou

1.7.2024, 11:34:59

Liebes Jurafuchs-Team, muss das Ergebnis dieses Urteil, dass kein

Schutzgesetz

vorliege, in Folge der Entscheidungen EuGH C-100/21 und BGH VIa ZR 335/21 anders bewertet werden? (Dort wurde Richtlinienvorgaben auch als

Schutzgesetz

e qualifiziert). Danke!

Tim Gottschalk

Tim Gottschalk

5.5.2025, 09:45:02

Hallo @[DDoubleYou](155636), meines Erachtens macht das für diesen Fall keinen Unterschied. Hier im Fall wurde ein

Schutzgesetz

nicht deshalb abgelehnt, weil die Regelung auf EU-Richtlinien basiert, sondern einfach weil der konkrete Luftreinhalteplan ein zu großes Gebiet abdeckt, als dass dieser noch als individualschützend anzusehen sein könnte. Dabei setzt sich der BGH in Rn. 19 auch damit auseinander, wie das Verhältnis zum EU-Recht ist und dass Richtlinien zwar grundsätzlich drittschützend sein können, das hier aber aus bestimmten Gründen nicht sind und auch die öffentlich-rechtlichen Möglichkeiten dem effet utile Genüge tun. Insofern widerspricht es sich nicht, wenn in einem anderen Fall eine Richtlinie als drittschützend eingestuft wurde. Liebe Grüße Tim - für das Jurafuchs-Team

DDoubleYou

DDoubleYou

5.5.2025, 15:07:31

Vielen Dank für die Antwort!

EN

Entenpulli

24.8.2024, 10:21:40

Liebes JF -Team, dieser Fal würde sich mMn auch gut dau eignen, ihn auch noch aus der öffentlich-rechtlichen Sicht zu betrachten (VK auf Erlass einer

Nutzungsuntersagung

gegen das Logistikunternehmen). Könntet ihr das bitte (idealerweise im selben Fall zwecks besserer Vergleichbarkeit) einfügen? Im Ergebnis wird sich mangels Drittschutz der Norm nichts anderes ergeben, oder? Danke im Voraus

Foxxy

Foxxy

31.8.2024, 11:16:18

Hallo Entenpulli, vielen Dank für Deinen Vorschlag! Wir haben ihn notiert und werden in einer der nächsten Redaktionssitzungen prüfen, inwiefern wir hierzu unsere Lerninhalte entsprechend anpassen bzw. noch weitere Aufgaben mit aufnehmen können. Beste Grüße, Foxxy, für das Jurafuchs-Team

VALA

Vanilla Latte

7.10.2024, 04:45:25

Also fliege ich schon bei ETbeeinträchtigung raus und nicht erst bei der Duldungspflicht?

FalkTG

FalkTG

12.1.2025, 14:23:00

Es hieß bei -

§ 1004 BGB

direkt: Beeinträchtigung Eigentum -

§ 1004 BGB

, 823 I BGB: Verletzung Rechtsgut - § 1004,

823 II BGB

: Beeinträchtigung durch

Schutzgesetz

Ich verstehe jetzt nicht ob dies Zufall ist oder wirklich einen Unterschied gibt (Verletzung wegen Rahmenrecht?).


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