Kein Inhaltsirrtum – Vorrang der Auslegung nach obj. Empfängerhorizont


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

K kauft beim international tätigen Großhändler V „50 pound“ Kakao. Bei Lieferung ist K empört und ficht „den Kaufvertrag“ an. Er dachte er hätte 50 deutsche Pfund, also 500g, und nicht 50 angloamerikanische Pound à 453g bestellt.

Einordnung des Falls

Kein Inhaltsirrtum – Vorrang der Auslegung nach obj. Empfängerhorizont

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K und V haben einen Kaufvertrag über 50 angloamerikanische „Pound“ Kakao geschlossen.

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Ja, in der Tat!

Vor einer Anfechtung ist die Erklärung des Anfechtenden auszulegen, um zu ermitteln, ob tatsächlich ein Irrtum vorliegt. Der Vertrag ist so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern (§ 157 BGB). Kommen unterschiedliche regionale Verkehrssitten in Betracht, so geht grundsätzlich die am Ort der Erklärungsabgabe geltende vor. Jedoch ist mit Pound im internationalen Handelsverkehr einheitlich nicht die englische Übersetzung von Pfund (500g), sondern eine Mengeneinheit von 453g gemeint. Diese Verkehrssitte hätte K kennen können und müssen. Es kam somit objektiv ein Kaufvertrag über 50 Pound Kakao zustande.

2. K kann seine Erklärung anfechten (§§ 142 Abs. 1, 119 Abs.1 Alt. 1 BGB).

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Ja!

Angefochten wird die Willenserklärung, nicht der Vertrag. Wer bei der Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war, kann die Erklärung anfechten, wenn anzunehmen ist, dass er sie bei Kenntnis der Sachlage nicht abgegeben hätte (§ 119 Abs. 1 S. 1 BGB; sog. Inhaltsirrtum). K dachte, er gäbe eine Willenserklärung gerichtet auf Abschluss eines Kaufvertrages über 50 Pfund, und nicht 50 Pound, ab. Er war also über den Inhalt seiner Erklärung im Irrtum. Wenn er die 50 Pound für den vereinbarten Kaufpreis nicht gekauft hätte, kann er seine Erklärung gem. § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB anfechten.

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AM

Amelie

20.6.2020, 09:25:50

Bei der letzten Frage zu diesem Fall könnte die Frage schon „Vertrag” und nicht „Erklärung” lauten. Das würde das Konzept, dass man keinen Vertrag anfechtet sondern eine Willenserklärung, vielleicht besser testen. Das Bild passt mE nicht genau zum Text, weil der Mann mit der Krawatte eher für mich der international tätige Großhändler ist, aber das ist natürlich nicht schlimm!

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

21.6.2020, 12:08:13

Hi Amelie, Danke für die Anmerkungen! Wir haben die Personen in der Illustration als „K“ und „V“ gekennzeichnet. Dann dürfte es keine Verwechslungen geben. Wenn wir in der letzten Antwort auf den Vertrag abstellen würden, statt auf die Willenserklärung, würde das unserer Erfahrung nach ein Teil der Nutzer als Fangfrage wahrnehmen. Die Aussage ließe sich nicht für alle 100% eindeutig beantworten. Denn in der Umgangssprache ist nicht selten davon die Rede, dass ein „Vertrag“ angefochten wird, auch wenn rechtsdogmatisch die einzelne Willenserklärung anzufechten ist.

FA

Faby

2.4.2022, 17:46:35

Was ist genau mit „Ort der Erklärungsabgabe“ gemeint? K rief ja scheinbar bei V an, wobei nicht hervorgeht, an welchem Ort sich K aufhält 🤔

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.4.2022, 20:51:36

Hallo Faby, bei der Auslegung einer Erklärung kann der Verkehrskreis und eben auch der Ort des Vertragsschlusses berücksichtigt werden. Konkret ging es im Fall aber um die Verwendung einer im internationalen Handel gebräuchlichen Maßeinheit, weswegen letztlich irrelevant war, wo sich die Parteien konkret befanden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Eileen112358

Eileen112358

26.4.2023, 16:38:32

Bei dem letzten Fall hätte ich wieder einen Erklärungsirrtum gem. 119 I Alt. 2 angenommen, also kein verschreiben, versprechen etc. Wenn das nicht stimmt, hab ich, glaube ich, den Fall davor mit der sorgfältigen Abgrenzung nicht ganz verstanden. Kann mir da jemand helfen?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

27.4.2023, 13:31:25

Hallo Eileen112358, der § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB erfasst den Erklärungsirrtum. Dieser meint verschreiben, versprechen etc., der Erklärende wollte eine "Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben". Vorliegend wollte K aber "Pfund" sagen, er irrte nur über den Inhalt seiner Erklärung gem. § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB. Er dachte er würde deutsche Pfund sagen und wusste nicht, dass er mit "pound" nach dem objektiven Empfängerhorizont von englischen Pfund sprach die eben keinem halben Kilo entsprechen. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

SI

silasowicz

6.8.2023, 16:29:18

Ich fände es toll, wenn ihr spätestens in diesem Kapitel auch eine Erläuterung der Abgrenzung von positivem/negativem Interesse einbauen könntet :-)

QU

QuiGonTim

11.9.2023, 08:38:52

Dieser Bitte schließe ich mich gerne an. :)

SvzW

SvzW

8.8.2023, 15:11:04

Und woher sollten wissen das im internationalen Handelsverkehr 50 pound = 453g sind? Hab ich noch nie von gehört!

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

8.8.2023, 15:21:35

Hallo SvzW, in der Klausur erhältst Du solche Angaben durch den Sachverhalt. In der Praxis obliegt es Geschäftsleuten sich die notwendigen Informationen zu besorgen und gerade bei der Verwendung von ausländischen/übersetzten Begriffen aufzupassen, dass sie sich auch tatsächlich darüber im Klaren sind, was der Begriff für einen objektiven Erklärungsempfänger bedeutet. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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