TKÜ – Voraussetzungen
2. April 2025
9 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
B hat durch einen Betrug (§ 263 StGB) des Investors I 100.000 Euro erlangt. I ist seither in starken wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Staatsanwältin S verdächtigt B und will die Überwachung seiner Telekommunikation anordnen. Alle anderen Beweismittel sind bereits ausgeschöpft.
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Einordnung des Falls
TKÜ – Voraussetzungen
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Ein Richter müsste die Überwachung der Telekommunikation (TKÜ) des B anordnen (§ 100e Abs. 1 StPO).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Der Richter kann die TKÜ mündlich anordnen (§ 100e Abs. 3 StPO).
Nein, das ist nicht der Fall!
3. Für die Anordnung der TKÜ genügt ein Anfangsverdacht für irgendeine Straftat (§ 100a Abs. 1 StPO).
Nein, das trifft nicht zu!
4. In diesem Fall liegt der Anfangsverdacht einer Katalogtat des § 100a Abs. 2 StPO vor.
Ja!
5. Die Katalogtat müsste weiterhin auch im konkreten Fall besonders schwer wiegen (§ 100a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO).
Genau, so ist das!
6. Vorliegend erscheint die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos (§ 100a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO).
Ja, in der Tat!
7. Mittels der TKÜ darf Bs gesamter privater Lebensbereich ausgeforscht werden.
Nein!
8. Die TKÜ gegen B muss darüber hinaus verhältnismäßig sein.
Genau, so ist das!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Simon
4.9.2023, 19:03:58
Denkbar wäre doch ein Betrug in einem besonders schweren Fall, was nach § 100a II Nr. 1 lit. n StPO für eine TKÜ ausreicht. Bei der Variante des Vermögensverlustes von großem Ausmaß: Wie verhält es sich, wenn der Wert der durch den Betrug erlangten Gegenstände (wie bei Bitcoins) schwankt? Reicht dann die potentielle Möglichkeit, dass ein hoher Wert erreicht werden kann, um den
Vermögensverlust großen Ausmaßeszu bejahen (quasi wie bei einem
Gefährdungsschaden)?

Nocebo
13.6.2024, 12:30:20
10.000 Bitcoins sind aktuell rund 600.000.000 wert ... hier geht defintiv die TKÜ durch. Die Aufgabe ist falsch gelöst.

dario.b
22.6.2024, 12:03:16
Um die Frage von Simon noch zu beantworten; damit ein
Vermögensverlust großen Ausmaßesangenommen werden kann, genügt nach bisheriger stRspr (vgl. nur BGHSt 48, 354 (356ff.)) keine Vermögensgefährdung in entsprechender Höhe (über 50.000,00 EUR), es muss der
Schadenbereits eingetreten sein. Ein Argument hierfür liegt im Wortlaut "VermögensVERLUST", der impliziert, dass der
Schadenbereits eingetreten sein muss. Allerdings könnte der BGH mit der Aufgabe der strikten Trennung von Gefährdungs- und End
schaden(BGHSt 53, 199 = NJW 2009, 2390) hier eine Kehrtwende eingeleitet haben. Nach meiner Kenntnis ist die Frage damit weiterhin offen. In Bezug auf den schwankenden Wert dürfte tatsächlich Bitcoin eine schwierige Ausnahme sein. Im Sinne des
Koinzidenzprinzips und unter Rückgriff auf § 8 StGB würde ich auf den Wert im Zeitpunkt der Tathandlung abstellen.
L.Goldstyn
17.7.2024, 12:28:57
Zu beachten ist noch, dass es für einen
Vermögensverlust großen Ausmaßes(§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 Fall 1 StGB) nicht auf den erlangten Vorteil des Täters, sondern auf die individuelle, opferseitig erlittene Vermögenseinbuße an. Eine Addition der Einzelschäden kommt nur in Betracht, wenn sie dasselbe Opfer betreffen. (BeckOK StGB/Beukelmann, 61. Ed. 1.5.2024, StGB § 263, Rn. 103) Damit ist entweder § 263 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Fall 1 StGB (
Vermögensverlust großen Ausmaßesfür jeden der Investoren) oder bei einer sehr großen Anzahl von Investoren, sodass bei jedem einzelnen die 50.000-€-Schwelle nicht erreicht wird, § 263 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Fall 2 StGB (große Zahl von Menschen) erfüllt. Auch aus meiner Sicht ist die Aufgabe/Lösung daher fehlerhaft.

Linne_Karlotta_
5.12.2024, 13:05:45
Hallo in die Runde, danke für eure Fragen und Anmerkungen. Zunächst einmal ist es richtig, dass hier ein
Vermögensverlust großen Ausmaßesund damit eine Katalogtat i.S.v. § 100a Abs. 2 Nr. 1 lit. n StPO gegeben ist. Wir haben den Fall jetzt entsprechend angepasst. Bzgl. eurer weitergehenden Überlegungen müssen wir drei G
esichtspunkte differenzieren: 1. Ein
Vermögensverlust großen Ausmaßesgem. § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB liegt vor, wenn die
Schadenshöhe außergewöhnlich hoch ist, nach der h.M. ist die Grenze bei 50.000 Euro (Perron, in: Schönke/Schröder, 30.A. 2019, § 263 RdNr. 188c). Ein Vermögens
schadenliegt dann vor, wenn der Gesamt
geldwert verringert ist. Man vergleicht also den Wert des Gesamtvermögens vor und nach der
Vermögensverfügung. Hierbei ist der Wert der Zu- und Abflüsse anhand des jeweiligen Verkehrs- oder Marktwerts zu bestimmen (Perron, in: Schönke/Schröder, 30.A. 2019, § 263 RdNr. 99) Das heißt, es kommt entscheidend auf den Wert des Bitcoins zur Zeit der
Vermögensverfügungan. Das heißt, würde der Geschädigte dem Täter heute (05.12.2024) 10.000 Bitcoin überweisen, läge ein Vermögens
schadeniHv 974.477,81 Euro vor. 2. Für die TKÜ genügt ein
Anfangsverdachteiner Katalogtat. Ein solcher liegt vor, wenn nach allgemeiner kriminalistischer Erfahrung möglich erscheint, dass eine Straftat vorliegt. Dieser Verdacht muss auf bestimmte
Tatsachengestützt sein (Henrichs/Weingast, in: KK-StPO, 9.A. 2023, § 100a RdNr. 30). Dasselbe gilt auch für die Höhe des Vermögensverlustes. Man muss also schauen, ob
Tatsachendarauf hindeuten, dass ein Vermögensverlust in einer Höhe eingetreten ist, die den § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB erfüllt. Kommt also das Opfer zur Polizei und berichtet, dass er am 05.12. 10.000 Bitcoin an den Täter überwiesen hat und bis heute seine Gegenleistung nicht bekommen hat, dann sieht die Polizei/Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, dass hier ein Betrug vorliegt, der auch einen Vermögens
schadengroßen Ausmaßes nach sich gezogen hat. Absolute Sicherheit über die
Schadenshöhe muss hier noch nicht bestehen. 3. Die Figur des
Gefährdungsschadens spielt hier keine Rolle. Die Theorie des
Gefährdungsschadens besagt, dass ein Vermögens
schadennicht nur die effektive, rechnerisch nachweisbare
Vermögensminderung, sondern u. U. auch schon die bloße konkrete Gefährdung von Vermögenswerten ist. Es genügt danach, wenn die
Vermögensverfügung(häufig ein Vertragsschluss) nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise bereits eine Verschlechterung der gegenwärtigen Vermögenslage bedeutet (Perron, in: Schönke/Schröder, 30.A. 2019, § 263 RdNr. 143). Hier haben wir aber bereits einen rechnerischen Vermögens
schaden, nämlich die 10.000 Bitcoin, die 974.477,81 Euro wert sind. Somit brauchen wir die Figur des
Gefährdungsschadens nicht. Ein
Gefährdungsschadenwird i.d.R. dann wichtig, wenn es nicht zu einem Vermögensaustausch kommt. Bsp.: Der arbeits- und vermögenslos A eröffnet mit gefälschten Unterlagen ein Konto bei der B-Bank. Er lässt sich eine Giro-Karte aushändigen und einen Dispo-Rahmen von 2000 Euro einräumen. Von Anfang an ist ihm bewusst, dass er die Schulden bei Kontoüberziehung nicht zahlen kann. Dies will er auch gar nicht tun. Hier soll bereits ein vollendeter und kein versuchter Betrug zu Lasten der Bank vorliegen, da es i.E. nur noch vom Zufall abhängt, ob der A den Dispo-Kredit antastet, was bei der Bank einen rechnerischen Vermögens
schadenherbeiführen wird, oder nicht. Entscheidend ist hier, dass das Vermögen der Bank bereits so gefährdet ist, dass es sich vom eigentlichen Vermögens
schadennur noch quantitativ, nicht qualitativ unterscheidet. Im Einzelfall sind die Konturen zur Abgrenzung hier eher unscharf. Ich hoffe, damit alle Fragen geklärt zu haben. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team