Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2022

Kein Tatbestandsausschließendes Einverständnis zur Freiheitsberaubung bei Täuschung oder List

Kein Tatbestandsausschließendes Einverständnis zur Freiheitsberaubung bei Täuschung oder List

9. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Eine Frau sitzt unwissend in einem Auto, dass die aus Deutschland bringen soll. Neben ihr sitzen ihre Familienmitglieder, die sie dazu überlistet haben.

Os Familie will O nach Georgien bringen, da O in Deutschland nicht nach dem Werteverständnis der Familie lebt. Sie spiegeln O vor, diese müsse in Polen ihren russischen Pass erneuern. O willigt in die Reise ein. O fährt mit ihrem Bruder B und anderen Familienmitgliedern zum Flughafen, wobei B eine Flucht notfalls gewaltsam verhindert hätte. In Georgien bemerkt O die Täuschung.

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Einordnung des Falls

Der BGH stellte in dieser Entscheidung seine Rechtsprechung noch einmal klar, dass im Falle der Freiheitsberaubung kein tatbestandsausschließendes Einverständnis vorliege, wenn dieses durch List oder Täuschung erlangt wurde. Der Entscheidung lag der Fall einer Frau zugrunde, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von ihrer Familie nach Tschetschenien verbracht wurde. Da bereits die potentielle Bewegungsfreiheit geschützt sei, läge bei Täuschung oder List im Fall der Freiheitsberaubung – anders als zB beim Hausfriedensbruch – kein wirksames Einverständnis vor.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte B sich einer Freiheitsberaubung strafbar gemacht haben, indem er O bei der Fahrt und im Flug bewachte (§ 239 Abs. 1 StGB)?

Genau, so ist das!

§ 239 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter einen Menschen vorsätzlich dessen Fortbewegungsfreiheit beraubt, indem er ihn einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt. Achtung: Bei § 239 StGB werden in Klausuren häufig die Qualifikationen des Abs. 3 und die Erfolgsqualifikationen des Abs. 4 vergessen.
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2. Schützt § 239 StGB nach hM die Fortbewegungsfreiheit in Form des potenziellen Fortbewegungswillens?

Ja, in der Tat!

BGH: § 239 StGB schütze die potenzielle persönliche Fortbewegungsfreiheit. In sie werde schon eingriffen, wenn der Geschädigte sich gar nicht wegbewegen wolle. Entscheidend sei nur, ob es ihm unmöglich gemacht werde, seinen Aufenthalt beliebig zu verändern, wenn er es denn wollte. Ob er seine Freiheitsbeschränkung überhaupt realisiert, sei ohne Belang. (RdNr. 25) In der Literatur wird dagegen teilweise auf den aktuellen Fortbewegungswillen abgestellt (Spezialfall der Nötigung). Dieser werde nur dann beeinträchtigt, wenn sich der Geschädigte zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt wegbewegen will, aber nicht kann.

3. Kann man für die Ansicht der hM anführen, dass § 239 StGB ein Spezialfall der Nötigung ist?

Nein!

Die hM stützt sich u.a. auf zwei Aspekte: (1) Der „Freiheit beraubt“ sei objektiv bereits, wer sich aufgrund des Verhaltens eines Dritten nicht wegbewegen könne, wenn er dies wollte. Ein aufgezwungenes Verhalten setze der Wortlaut des § 239 StGB anders als § 240 StGB gerade nicht voraus. (2) Die Fortbewegungsfreiheit sei ein hohes Gut (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und werde mit einem eigenständigen Delikt umfassend geschützt. § 239 StGB als bloßen Spezialfall der Nötigung zu betrachten werde der Bedeutung der Fortbewegungsfreiheit nicht gerecht und sei systemwidrig, weil der Strafrahmen höher ist und § 239 StGB vor § 240 StGB steht.

4. Wurde O durch das Verhalten des B ihrer potenziellen Fortbewegungsfreiheit beraubt?

Genau, so ist das!

B bewachte die O, wodurch O nicht nach freiem Belieben ihren Aufenthaltsort verändern konnte. Dass O tatsächlich nicht versucht hat, ihren Ort zu wechseln, ist ohne Belang, da schon die nur potenzielle Fortbewegungsfreiheit geschützt wird: Hätte O ihren Ort verändern wollen, hätte B sie daran gehindert. Daran liegt bereits eine (vorsätzliche) Freiheitsberaubung auf andere Weise.

5. Scheidet eine Freiheitsberaubung aus, wenn der Geschädigte sein Einverständnis dazu erklärt hat?

Ja, in der Tat!

Das Strafrecht kennt zwei Formen des Einverständnisses: (1) Das tatbestandsausschließende Einverständnis (Ebene: Tatbestand) und (2) die rechtfertigende Einwilligung (Ebene: Rechtswidrigkeit). Um ein tatbestandsausschließendes Einverständnis handelt es sich regelmäßig dann, wenn schon die Tathandlung ein Handeln gegen oder ohne Willen verlangt, bspw. die Wegnahme (§ 242 StGB), das Eindringen (§ 123 StGB) sowie bei allen Delikten, die einen Angriff auf die Freiheit der Willensbildung oder -betätigung enthalten, so auch § 239 StGB.

6. Hat O täuschungsbedingt ihr Einverständnis mit Fahrt und Flug erklärt?

Ja!

O ging davon aus, nach Polen gebracht zu werden, um dort einen neuen Pass zu beantragen. Deshalb ließ sie sich scheinbar nach Polen verbringen. Dass sie tatsächlich unter Bewachung nach Georgen bzw. Tschetschenien verbracht werden sollte, wusste sie nicht.

7. Ist auch ein täuschungsbedingtes tatbestandsausschließendes Einverständnis regelmäßig wirksam, wenn der jeweilige Tatbestand ein Handeln gegen oder ohne Willen voraussetzt?

Genau, so ist das!

Setzt der Tatbestand ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus, schließt auch das durch Täuschung erschlichene Einverständnis den Tatbestand aus. Denn dann ist ein Handeln gegeben, das – wenn auch durch Täuschung herbeigeführt – dem Willen des Berechtigten entspricht.Deshalb ist § 123 Abs. 1 StGB etwa nicht erfüllt, wenn sich jemand als Mitarbeiter der Stadtwerke ausgibt und so Zutritt zur Wohnung erhält. Anders ist dies bei der rechtfertigenden Einwilligung: Hier führt eine Täuschung regelmäßig zur Unwirksamkeit der Einwilligung.

8. Ist das täuschungsbedingte Einverständnis der O wirksam, sodass A sich nicht nach § 239 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat?

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: Die Freiheitsberaubung setze kein Handeln gegen den Willen voraus. Bezugspunkt des Einverständnisses sei der potenzielle Fortbewegungswille. Betroffener und Freiheitsentziehender müssten sich deshalb für ein wirksames Einverständnis über Ausmaß und Dauer der Freiheitsentziehung einig sein. Sei dem Betroffenen nicht bewusst, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er dies wollte, sei § 239 StGB mit Blick auf die potenziellen Bewegungsfreiheit erfüllt (RdNr. 33).O war nicht klar, dass B sie gegebenenfalls gewaltsam daran gehindert hätte, in Deutschland zu bleiben. Damit hat sie kein Einverständnis bezüglich der Beschränkung ihrer Fortbewegungsfreiheit gegeben.

9. Hat B sich der Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB strafbar gemacht?

Ja!

Das durch Täuschung erschlichene Einverständnis der O in die Freiheitsentziehung war lediglich ein Mittel zur leichteren Begehung der Freiheitsberaubung. Denn hierdurch wurde der sonst zu erwartende Widerstand der O verhindert. Dieses unwirksame Einverständnis schließt eine Freiheitsberaubung auf andere Weise nicht aus. O war daher mit Antritt der Autofahrt in bis zum Ende der Flugreise objektiv durchgehend iSd § 239 Abs. 1 StGB ihrer Freiheit beraubt, sodass B sich durch sein Verhalten wegen Freiheitsberaubung strafbar gemacht hat.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JEN

jenny24

8.3.2023, 04:33:14

Hallo, ich verstehe nicht, warum ein tatbestandsausschliessendes Einverständnis angenommen wird, wenn gleichzeitig gesagt wird, dass der TB kein Handeln gegen/ohne Willen enthalte. Dann müssten wir doch auf die rechtfertigende Einwilligung abstellen und dann würde eine Unwirksamkeit wegen der Täuschung auch wieder in die bekannten Grundsätze passen.

Simon

Simon

9.3.2023, 00:16:19

In der Tat verlangt § 239 StGB kein Handeln gegen den TATSÄCHLICHEN Fortbewegungswillen. Die Grundsätze des tatbestandsausschließenden Einverständnisses sind hier aber insoweit anwendbar, als ein Handeln gegen den POTENTIELLEN Fortbewegungswillen gefordert wird. Eine Freiheitsberaubung ist also (schon auf Tatbestandsebene) nicht möglich, wenn das Opfer damit einverstanden war, dass es sich nicht fortbewegen kann, auch wenn es wollte. O wusste hier nicht, dass ihre Familie sie auch (z.B. bei Fahrtpausen) daran gehindert hätte zu fliehen. Da der potentielle Fortbewegungswille geschützt wird, ist es unbeachtlich, dass sie tatsächlich gar nicht flüchten wollte. Oder in den Worten des BGH: "[E]in im natürlichen Sinn zur Änderung seines Aufenthaltsorts fähiger Mensch [ist] nur dann nicht seiner Freiheit im Sinne des § 239 StGB beraubt [...], wenn er (auch) damit einverstanden ist, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er das wollte. Ist ihm dies hingegen - etwa wie hier aufgrund von List und Täuschung des seine Bewegungsfreiheit aufhebenden Täters - nicht bewusst, ist es ohne Belang, dass er sich aktuell gar nicht fortbewegen will."

JEN

jenny24

10.3.2023, 05:04:48

Vielen Dank. Die Konstruktion kann ich nun nachvollziehen, trotzdessen sehe ich eine Vermischung der Grundsätze zu Einwilligung und Einverständnis. Das letztere stellt auf den tatsächlichen natürlichen Willen ab, die Einwilligung berücksichtigt Willensbildungsmängel, damit nach meinem Verständnis den potentiellen Willen.

Simon

Simon

10.3.2023, 23:24:19

Der Unterschied von tatbestandsausschließenden Einverständnis und rechtfertigender Einwilligung liegt in der dogmatischen Ebene. Ersteres greift nur bei Delikten, die schon auf Tatbestandsebene ein Handeln gegen den (hier potentiellen) Willen des Opfers verlangen. Das liegt mE am geschützten Rechtsgut: Wird die Willensfreiheit (oder eben nach hier hM die potentielle Willensfreiheit) geschützt, kann dieses Rechtsgut nur verletzt sein, wenn gegen den (potentiellen) Willen des Opfers gehandelt wird. Ist dies nicht der Fall, liegt tatbestandlich schon gar keine Rechtsgutverletzung vor. Die rechtfertigende Einwilligung nimmt einer tatbestandlich vorliegenden Rechtsverletzung dagegen nur die Rechtswidrigkeit.

BASA

Barbara Salesch

8.3.2023, 23:07:39

Wie wird begründet, dass ein täuschungsbedingtes

tatbestandsausschließendes Einverständnis

dennoch wirksam ist? Wenn ich wie in dem Beispiel genannt jemanden in die Wohnung lasse, weil er sich als Stadtwerksmitarbeiter oÄ ausgibt, dann bezieht sich mein Einverständnis auf einen tats. Mitarbeiter der SW und gerade nicht auf die täuschende Person.

Simon

Simon

9.3.2023, 00:18:23

Hier kommt es mE auf den Bezugspunkt an: Du warst damit einverstanden, dass die Person, die vor dir steht, deine Wohnung betritt. Welche Eigenschaften du dieser Person zuschreibst, ist letztendlich egal. Es kommt allein auf dein faktisches Einverständnis an.

Sambadi

Sambadi

23.3.2023, 10:58:45

Also ist der Bezugspunkt bei dem hier behandelten Fall nicht, dass sie wo anders hinfliegt, als sie es sich vorgestellt hat (denn das wäre so zu behandeln, wie in dem Fall mit dem falschen Techniker iRv § 123), sondern lediglich, dass sie nicht die Freiheit hätte zu gehen, wenn sie will? Hab ich das richtig verstanden?

ABDU

Abdulkadir

11.4.2023, 01:43:36

Ja so hab ich es auch verstanden. Man braucht ja nach der hM genügt es das Opfer nur potentiell an der Fortbewegungsfreiheit zu hindern. Dies ist ja hier passiert trotz der Täuschung.

Johannes Nebe

Johannes Nebe

20.10.2023, 16:22:38

Der Bruder ist B, nicht A.

LELEE

Leo Lee

21.10.2023, 13:09:30

Hallo Johannes Nebe, vielen Dank für den Hinweis! Wir haben den Text nun entsprechend korrigiert :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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