Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2022
Kein Tatbestandsausschließendes Einverständnis zur Freiheitsberaubung bei Täuschung oder List
Kein Tatbestandsausschließendes Einverständnis zur Freiheitsberaubung bei Täuschung oder List
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Os Familie will O nach Georgien bringen, da O in Deutschland nicht nach dem Werteverständnis der Familie lebt. Sie spiegeln O vor, diese müsse in Polen ihren russischen Pass erneuern. O willigt in die Reise ein. O fährt mit ihrem Bruder B und anderen Familienmitgliedern zum Flughafen, wobei B eine Flucht notfalls gewaltsam verhindert hätte. In Georgien bemerkt O die Täuschung.
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Einordnung des Falls
Der BGH stellte in dieser Entscheidung seine Rechtsprechung noch einmal klar, dass im Falle der Freiheitsberaubung kein tatbestandsausschließendes Einverständnis vorliege, wenn dieses durch List oder Täuschung erlangt wurde. Der Entscheidung lag der Fall einer Frau zugrunde, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von ihrer Familie nach Tschetschenien verbracht wurde. Da bereits die potentielle Bewegungsfreiheit geschützt sei, läge bei Täuschung oder List im Fall der Freiheitsberaubung – anders als zB beim Hausfriedensbruch – kein wirksames Einverständnis vor.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte B sich einer Freiheitsberaubung strafbar gemacht haben, indem er O bei der Fahrt und im Flug bewachte (§ 239 Abs. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Schützt § 239 StGB nach hM die Fortbewegungsfreiheit in Form des potenziellen Fortbewegungswillens?
Ja, in der Tat!
3. Kann man für die Ansicht der hM anführen, dass § 239 StGB ein Spezialfall der Nötigung ist?
Nein!
4. Wurde O durch das Verhalten des B ihrer potenziellen Fortbewegungsfreiheit beraubt?
Genau, so ist das!
5. Scheidet eine Freiheitsberaubung aus, wenn der Geschädigte sein Einverständnis dazu erklärt hat?
Ja, in der Tat!
6. Hat O täuschungsbedingt ihr Einverständnis mit Fahrt und Flug erklärt?
Ja!
7. Ist auch ein täuschungsbedingtes tatbestandsausschließendes Einverständnis regelmäßig wirksam, wenn der jeweilige Tatbestand ein Handeln gegen oder ohne Willen voraussetzt?
Genau, so ist das!
8. Ist das täuschungsbedingte Einverständnis der O wirksam, sodass A sich nicht nach § 239 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat?
Nein, das trifft nicht zu!
9. Hat B sich der Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 StGB strafbar gemacht?
Ja!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
jenny24
8.3.2023, 04:33:14
Hallo, ich verstehe nicht, warum ein tatbestandsausschliessendes Einverständnis angenommen wird, wenn gleichzeitig gesagt wird, dass der TB kein Handeln gegen/ohne Willen enthalte. Dann müssten wir doch auf die rechtfertigende Einwilligung abstellen und dann würde eine Unwirksamkeit wegen der Täuschung auch wieder in die bekannten Grundsätze passen.
Simon
9.3.2023, 00:16:19
In der Tat verlangt § 239 StGB kein Handeln gegen den TATSÄCHLICHEN Fortbewegungswillen. Die Grundsätze des tatbestandsausschließenden Einverständnisses sind hier aber insoweit anwendbar, als ein Handeln gegen den POTENTIELLEN Fortbewegungswillen gefordert wird. Eine Freiheitsberaubung ist also (schon auf Tatbestandsebene) nicht möglich, wenn das Opfer damit einverstanden war, dass es sich nicht fortbewegen kann, auch wenn es wollte. O wusste hier nicht, dass ihre Familie sie auch (z.B. bei Fahrtpausen) daran gehindert hätte zu fliehen. Da der potentielle Fortbewegungswille geschützt wird, ist es unbeachtlich, dass sie tatsächlich gar nicht flüchten wollte. Oder in den Worten des BGH: "[E]in im natürlichen Sinn zur Änderung seines Aufenthaltsorts fähiger Mensch [ist] nur dann nicht seiner Freiheit im Sinne des § 239 StGB beraubt [...], wenn er (auch) damit einverstanden ist, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er das wollte. Ist ihm dies hingegen - etwa wie hier aufgrund von List und Täuschung des seine Bewegungsfreiheit aufhebenden Täters - nicht bewusst, ist es ohne Belang, dass er sich aktuell gar nicht fortbewegen will."
jenny24
10.3.2023, 05:04:48
Vielen Dank. Die Konstruktion kann ich nun nachvollziehen, trotzdessen sehe ich eine Vermischung der Grundsätze zu Einwilligung und Einverständnis. Das letztere stellt auf den tatsächlichen natürlichen Willen ab, die Einwilligung berücksichtigt Willensbildungsmängel, damit nach meinem Verständnis den potentiellen Willen.
Simon
10.3.2023, 23:24:19
Der Unterschied von tatbestandsausschließenden Einverständnis und rechtfertigender Einwilligung liegt in der dogmatischen Ebene. Ersteres greift nur bei Delikten, die schon auf Tatbestandsebene ein Handeln gegen den (hier potentiellen) Willen des Opfers verlangen. Das liegt mE am geschützten Rechtsgut: Wird die Willensfreiheit (oder eben nach hier hM die potentielle Willensfreiheit) geschützt, kann dieses Rechtsgut nur verletzt sein, wenn gegen den (potentiellen) Willen des Opfers gehandelt wird. Ist dies nicht der Fall, liegt tatbestandlich schon gar keine Rechtsgutverletzung vor. Die rechtfertigende Einwilligung nimmt einer tatbestandlich vorliegenden Rechtsverletzung dagegen nur die Rechtswidrigkeit.
Barbara Salesch
8.3.2023, 23:07:39
Wie wird begründet, dass ein täuschungsbedingtes
tatbestandsausschließendes Einverständnisdennoch wirksam ist? Wenn ich wie in dem Beispiel genannt jemanden in die Wohnung lasse, weil er sich als Stadtwerksmitarbeiter oÄ ausgibt, dann bezieht sich mein Einverständnis auf einen tats. Mitarbeiter der SW und gerade nicht auf die täuschende Person.
Simon
9.3.2023, 00:18:23
Hier kommt es mE auf den Bezugspunkt an: Du warst damit einverstanden, dass die Person, die vor dir steht, deine Wohnung betritt. Welche Eigenschaften du dieser Person zuschreibst, ist letztendlich egal. Es kommt allein auf dein faktisches Einverständnis an.
Sambadi
23.3.2023, 10:58:45
Also ist der Bezugspunkt bei dem hier behandelten Fall nicht, dass sie wo anders hinfliegt, als sie es sich vorgestellt hat (denn das wäre so zu behandeln, wie in dem Fall mit dem falschen Techniker iRv § 123), sondern lediglich, dass sie nicht die Freiheit hätte zu gehen, wenn sie will? Hab ich das richtig verstanden?
Abdulkadir
11.4.2023, 01:43:36
Ja so hab ich es auch verstanden. Man braucht ja nach der hM genügt es das Opfer nur potentiell an der Fortbewegungsfreiheit zu hindern. Dies ist ja hier passiert trotz der Täuschung.
Johannes Nebe
20.10.2023, 16:22:38
Der Bruder ist B, nicht A.
Leo Lee
21.10.2023, 13:09:30
Hallo Johannes Nebe, vielen Dank für den Hinweis! Wir haben den Text nun entsprechend korrigiert :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo