Erfolgszurechnung bei tödlichem Wettrennen im Straßenverkehr („Kraftprobe“)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

F will die vor ihm fahrenden PKWs überholen. Als er den A überholen will, beschleunigt A, um dies zu verhindern. Als F die Reaktion bemerkt, erhöht er seinerseits das Tempo und überschreitet die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h erheblich. A erhöht die Geschwindigkeit sodann auf 110 km/h und rast gegen einen Baum. A's vier Mitfahrer sterben.

Einordnung des Falls

Erfolgszurechnung bei tödlichem Wettrennen im Straßenverkehr (OLG Celle, 25.04.12 ("Kraftprobe"))

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. F hat den Tod der vier Mitfahrer des A kausal verursacht.

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Genau, so ist das!

Rspr. und hL bestimmen die Kausalität überwiegend nach der Äquivalenztheorie (= conditio-sine-qua-non-Formel). Eine Handlung ist danach kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.Hätte F den Überholvorgang nicht fortgesetzt und seinerseits das Tempo erhöht, hätte A nicht die Geschwindigkeit auf 110 km/h beschleunigt und wäre nicht gegen den Baum gerast (psychisch vermittelte Kausalität).

2. F ist der Tod der vier Mitfahrer des A objektiv zuzurechnen.

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Ja, in der Tat!

Eine die Zurechnung ausschließende eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers ist von der einverständlichen Fremdgefährdung abzugrenzen. Das Opfer gefährdet sich eigenverantwortlich selbst, wenn die alleinige Tatherrschaft bei ihm selbst liegt.Die Herrschaft über das Geschehen unmittelbar vor sowie ab dem Beginn des Überholvorgangs lag allein bei den Fahrzeugführern, wobei F und A beide dasselbe Maß an Tatherrschaft besaßen. Die Opfer dagegen - also die Mitfahrer - hatten keinerlei Kontrolle über das Geschehen, sodass ihr Tod F letztlich objektiv zurechenbar ist. Ein Fall der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung liegt bei ihnen gerade nicht vor.Anders wäre dies zu beurteilen, wenn A allein im Auto gesessen hätte und nur er verletzt worden wäre. In diesem Fall wäre die Zurechnung ausgeschlossen gewesen.

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GEL

gelöscht

25.11.2019, 07:39:03

Meines Erachtens passt die Erklärung (Antwort) nicht zum gestellten Sachverhalt. Zunächst ist nichts von einer unklaren Verkehrslage zu lesen und weiterhin dürfte fraglich sein, wie man dem F objektiv den Tod der vier Insassen zurechnen will, wenn A durch bewusstes Beschleunigen den Überholvorgang des F zu verhindern versucht. Die Ursächlichkeit des Unfalls ist wohl in der Handlung des A zu sehen und nicht aus für sich abgegrenzten Momenten der Gesamtsituation. Meines Erachtens ist der Tod der vier Insassen objektiv dem Verhalten des A zuzurechnen - er hätte F halt einfach überholen lassen können.

Eriiic1994

Eriiic1994

1.1.2020, 12:43:03

1. Eine unklare Verkehrslage liegt gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO vor, wenn der Überholende unter den gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf und sich ihre Enteicklung nach objektiven Umständen nicht beurteilen lässt. Hier wollte F den A überholen. Daraufhin beschleunigt A, um den Vorgang zu verhindern/ erschweren. Ab diesem Zeitpunkt kann F nicht mehr mit einem ungefährlichen Überholvorgang rechnen und müsste sein Überholmanöver abbrechen.

Eriiic1994

Eriiic1994

1.1.2020, 12:50:54

2. Gemäß § 1 Abs. 2 StVO muss derjenige, der am Verkehr teilnimmt, sich so verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Im vorliegenden Fall verstoßen sowohl F, als auch A gegen § 1 Abs. 2 der StVO, indem sie immer weiter beschleunigen. Beiden hatten auch Tatherrschaft, da sowohl A, als auch F ihre Geschwindigkeit hätten mindern können und es folglich nie zu dem Unfall gekommen wäre. Beide überschreiten letztlich sogar noch die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Die einzig richtige Reaktion seitens F wäre gewesen, den Überholvorgang abzubrechen. Die richtige Reaktion des A wäre gewesen, gar nicht erst zu beschleunigen. Folglich haben Beide ihren Teil zum Unfall beigetragen und objektive Zurechnung liegt vor.

デニスKaito

デニスKaito

7.7.2020, 10:45:45

Eines verstehe ich nicht: Wenn objektive Zurechnung beim Geschlechtsverkehr mit einem HIV-infizierten (beide wussten es) aufgrund Tatherrschaft in gleichem Maße verneint wird; weshalb wird sie hier bejaht? Beide haben gegen die StVO verstoßen, oder wird hierbei unterschieden, dass F die Geschwindigkeitsbegrenzung ERHEBLICH überschritten hat und A lediglich um 10 km/h? Das würde mir dann wiederum einleuchten. Das ändert dann aber trotzdem nichts an der Tatherrschaft, aber wohl etwas an der geschaffenen Gefahrenlage, da F den A dann ja umso mehr „mitgerissen“ hat. Dann würde ich aber nochmal an dem Satz „Tatherrschaft in gleichem Maße“ rütteln wollen. Ihr merkt es selbst, ich drehe mich im Kreis. Ich freue mich auf eine knappe Erklärung, sodass ich den unterschied erkennen kann! LG

EL

Elisabeth

20.8.2020, 17:22:05

Es lohnt sich in diesem Fall sehr das Urteil nachzulesen! Die Verkehrslage war in der Tat (mit Kurve) unübersichtlich und laut den Sachverhalt im Urteil an der Grenze des von dem Angeklagten technisch möglichen noch die Kurve zu kriegen (der Nebenkläger ja nicht). @Vaan: Wichtig ist zu differenzieren! Getötet wurde in diesem Fall die Mitfahrer des KfZ, deswegen ist eine Tatherrschaft dieser völlig ausgeschlossen (der Beifahrer/Rückbankfahrer können ja nicht bremsen.)Dass der Fahrer des Unfallwagens, weil er nicht bremste, auch einen zurechenbaren Anteil an der Erfolgsverursachung der Tötungen seiner Beifahrer trug, ist zu bejahen, aber eben nicht ausschlaggebend genug, dass dieser Tatherrschaft und damit die Hauptverantwortung für den Erfolg zu tragen hat. So macht es für mich Sinn. ;)

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

9.3.2021, 12:23:10

Vielen Dank euch allen für die angeregte Diskussion! @Marcus: Es handelt sich in der Tat um einen schwierigen Einzelfall, weswegen mit guter Argumentation selbstverständlich auch andere Ergebnisse vertretbar sind und immer der konkrete Sachverhalt in den Blick genommen werden muss. Bei Jurafuchs sind auch die Zeichnungen Teil des Sachverhaltes. Aus dieser ergibt sich nach unserer Auffassung, dass das Überholmanöver in einem engen Kurvenbereich stattfindet und A neben der Fahrbahn auch das Fahrverhalten des F im Auge behalten muss. Da F durch sein riskantes Überholmanöver einen Teil der Aufmerksamkeit des A in Anspruch nimmt, sprechen aus unserer Sicht die überzeugenderen Argumente gegen eine Alleinverantwortung des A und für die Bejahung der Zurechnung des Taterfolges zu F.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

9.3.2021, 12:23:28

@SSJKaito: Wie Elisabeth schon richtig ausgeführt hat, haben die Beifahrer des A keinerlei eigene Tatherrschaft, weswegen ein Ausschluss aufgrund eigenverantwortlicher Selbstgefährdung (wie im HIV-Fall) ausgeschlossen ist. Beste Grüße Lukas (für das Jurafuchs-Team)

Melissa

Melissa

9.12.2021, 15:29:25

Wir haben in der Fahrschule gelernt: wenn jemand überholt, denjenigen überholen lassen und bloß nicht aus „Boshaftigkeit“ noch extra beschleunigen. Ich finde man ist selber Schuld bei soetwas…

S3T

S3tr

9.7.2020, 13:43:24

Fände es Interessant einen umgekehrten Fall zu sehen Bsp. F will A Überholen, A beschleunigt, F beschleunigt weiter und fährt dann gegen den Baum und stirbt. Hier wäre es doch eher die Frage ob eine Selbst oder Fremdgefährdung vorliegt, da F das ja noch in der Hand hat nicht zu überholen, aber evtl. Auch durch das beschleunigen des A doch die Tatherrschaft bei A liegt ?

phiob

phiob

27.8.2022, 12:21:02

Tut mir leid, aber ich habe das Gefühl, dass im Strafrecht bei Fällen mit Autos und erhöhter Geschwindigkeit immer nur Exempel statuiert werden. Wie bei diesem Fall vorher, wo sich die Frau beim Blick in den Rückspiegel erschrickt und die Kontrolle über das Fahrzeug verliert. Dort wurde ebenfalls obj Zurechnung angenommen. Bei anderen Fällen sind die Argumentationen in Bezug auf obj Zurechnung meist nicht so überzogen auf "Ja eine Zurechnung finden" gerichtet.

Edward Hopper

Edward Hopper

26.10.2022, 00:03:16

Leute chillt, viele sind mit dem Ergebnis nicht einverstanden. Ich meine es kommt aus dem OLG Celle also kein Grund zur Aufregung.

Swagni

Swagni

10.2.2024, 12:14:43

Hallo, ich habe das Gefühl, dass sich bei diesem Ergebnis ein Widerspruch zu dem Fall mit den den beiden gleichermaßen erfahrenen Drogenabhängigen ergibt. Dort hieß es, dass beide das Geschehen gleichermaßen überblickten. Zumindest der andere kein überlegenes Wissen hatte. Und deshalb wurde dort eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung angenommen. Hier haben jetzt auch beide gleichermaßem Tatherrschaft und jetzt wird die eigenverantwortliche Selbstgefährdung abgelehnt, warum? Inwiefern gilt es, die beiden Sachverhalte unterschiedlich zu beurteilen?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

11.2.2024, 13:29:58

Hallo Swagni, danke für deine Frage. Das Widerspruchsgefühl ist nicht ganz unbegründet. Die Rechtsprechung ist in dem zugrunde liegenden Fall und einem weiteren ähnlich gelagerten Fall zur objektiven Zurechenbarkeit des Todes der Beifahrer des zweiten Wagens gekommen. Dies wurde begründet mit dem Argument, dass die Erwägungen zur zurechnungsausschließenden Selbstschädigung, die einer Verantwortlichkeit des Fahrers (hier des Überholenden) für die Verletzung des das andere Fahrzeug steuernden Fahrers (des A) entgegenstehen könnten, seien auf die Gefährdung und Schädigung Dritter, die auf den Geschehensverlauf keinerlei „beherrschenden Einfluss“ gehabt hätten, nicht übertragbar. Daher ist bezüglich der tödlich verunglückten Beifahrer nicht auf den Zurechnungsausschluss wegen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung zurückzugreifen. Diese Entscheidungen sind aber in der Literatur nicht unkritisiert geblieben. Beispielhaft: Jus 2013, 20. Der Fall wird zur Klarstellung nochmal überarbeitet. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

ROBB

Robb

21.2.2024, 08:06:10

Wenn wir nur die Tötung der Passagiere des A betrachten, sind diese mMn durch das "Dazwischentreten" des A verstorben. A hat verkehrsordnungswidrig als überholter Fahrzeugführer beschleunigt und so eine neue rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen, die sich im Erfolg realisierte. Dass er sich von T dazu anstacheln lassen hat, ist aus meiner Sicht hier unerheblich.

TI

Timurso

21.2.2024, 10:26:21

Das Dazwischentreten Dritter erfordert, damit die Unterbrechung der objektiven Zurechnung eintritt, die vorsätzliche Verwirklichung des Taterfolgs durch den Dritten. Hier werden beide im Zweifel bezüglich der Tötung nur fahrlässig gehandelt haben. Auch wenn man Vorsatz annimmt, habe ich hier ein gewisses Problem mit dem Dazwischentreten Dritter, da hier beide fortwährend zusammenwirken, um den Taterfolg herbeizuführen. Das Dazwischentreten Dritter ist dagegen eher ein Fall, in dem der Dritte wirklich zwischen den Täter und den Taterfolg tritt.

ROBB

Robb

21.2.2024, 10:36:56

Ergibt grundsätzlich Sinn, finde es nur normativ unbefriedigend, den T hier vollends in die Schuld zu nehmen. Beide nebeneinander wird man wohl dranbekommen.

TI

Timurso

21.2.2024, 10:43:24

Es sind ja auch beide nebeneinander dran. Nur weil der Tod dem F zuzurechnen ist, heißt das ja nicht, dass er nicht auch dem A zuzurechnen ist.

SCH

Schwanzanwaltschaft

19.3.2024, 11:39:12

inwiefern hatte F Tatherrschaft darüber, dass sich durch den Überholvorgang herausgefordert fühlt und dann gegen einen Baum fährt.

Merle_Breckwoldt

Merle_Breckwoldt

22.3.2024, 15:15:16

Hallo, in dem Fall geht es vor allem darum, die objektive Zurechenbarkeit für F im Verhältnis zu den Opfern der Tat - nämlich den vier Beifahrern des A - und nicht des A selbst, zu bestimmen. Gerade weil diese Beifahrer keinerlei Tatherrschaft innehatten, soll keine "Selbstgefährdung" des A angenommen werden können (Rn. 50). Vielmehr ist für die Frage nach der Tatherrschaft das gesamte Geschehen unmittelbar vor und ab dem Überholvorgang zu betrachten (Rn. 47 f.) und insoweit anzunehmen, dass eine gleichberechtigte Tatherrschaft beider beteiligter Fahrzeugführer (F und A) vorlag. Die Folge: Objektive Zurechenbarkeit jeweils (+). Diese Fälle (Tod von Beifahrerinnen nach 'Kraftprobe' von Fahrzeugführenden -> objektive Zurechenbarkeit auch für den nicht unmittelbaren Unfallverursacher) sind gewissermaßen Sonderkonstellationen, die der BGH anerkannt hat. Beste Grüße, Merle für das Jurafuchs-Team @[Lukas_Mengestu](136780)

JO

JohnnySpecter69

3.6.2024, 15:49:13

Hey ich kann nicht ganz nachvollziehen warum der F in gleichen teilten Tatherrschaft hatte wie A. F hat A schließlich nicht herausgefordert. Ich würde hier eher denken, dass das Verhalten von A sozialinadäquat, unnötig und Verkehrsgefährdend war. Wie kann sich durch das Überholen durch F ein rechtlich missbilligtes Risiko (hier auch fraglich welches Risiko, da F zwar zu schnell aber ja nicht gefährdend bzgl. A handelte für den es ja von vornherein keinen Grund gab das rechtl. zulässige Überholmanöver zu unterbinden) verwirklicht haben ?


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