Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Allgemeiner Teil

Objektive Zurechnung beim Dazwischentreten Dritter

Objektive Zurechnung beim Dazwischentreten Dritter

9. Mai 2023

14 Kommentare

4,6(16.221 mal geöffnet in Jurafuchs)

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: M wartet darauf, dass T den am Boden liegenden M schlägt, um M selbst mit einem Stein zu töten.

M bittet ihren Sohn T, ihrem Lebensgefährten O einen „Denkzettel“ zu verpassen. O hatte M mehrfach misshandelt. Trennen will sich M nicht. T schlägt O bewusstlos und geht. Wie geplant, ist O nicht lebensgefährlich verletzt. Als M den O regungslos am Boden sieht, schlägt M mit einem Stein auf Os Kopf ein. O stirbt.

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Einordnung des Falls

Der BGH bleibt in dieser Entscheidung seiner bisherigen Linie treu und verneint im vorliegenden Fall die Zurechnung des Taterfolgs bei einem Dazwischentreten Dritter. Während das Verhalten des Vortäters zwar äquivalent kausal für den Todeserfolg des Opfers ist, ist fraglich, ob das Dazwischentreten Dritter die objektive Zurechnung durchbricht. Hierbei scheide eine Zurechnung aus, wenn die Zweithandlung für den Ersttäter nicht vorhersehbar sei. Mit einem völlig atypischen Verlauf, der außerhalb der Lebenserfahrung liegt, müsse der Ersttäter nicht rechnen.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat sich T wegen Totschlags strafbar gemacht, indem er O bis zur Regungslosigkeit schlug (§ 212 Abs. 1 StGB)?

Nein!

T wollte dem O lediglich einen „Denkzettel“ verpassen und hat von ihm abgelassen, ohne den O lebensgefährlich zu verletzen. Den Tod des O hat T weder beabsichtigt, noch billigend in Kauf genommen, sodass der subjektive Tatbestand nicht erfüllt ist. Die Strafbarkeit wegen Totschlags scheitert hier offensichtlich am fehlenden Vorsatz des T. Wenn der Sachverhalt so klar ist, solltest Du Dich dazu in der Klausur entsprechend kurz halten.
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2. Könnte sich T wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht haben, indem er T bis zur Regungslosigkeit schlug (§ 222 StGB)?

Genau, so ist das!

Nach § 222 StGB macht sich strafbar, wer den Tod eines anderen Menschen fahrlässig herbeiführt. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung setzt im Tatbestand die kausale, objektiv sorgfaltswidrige und zurechenbare Herbeiführung des Todes eines anderen Menschen voraus. Zudem müssen Rechtswidrigkeit und Schuld vorliegen. Im Rahmen der Schuld ist bei Fahrlässigkeitsdelikten zusätzlich zu beachten, dass der Täter auch subjektiv fahrlässig gehandelt haben muss.Bitte vergiss die subjektive Fahrlässigkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten wie § 222 StGB nicht. Das ist ein beliebter Fehler.

3. Waren die Schläge des T kausal für den Tod des O?

Ja, in der Tat!

Nach der Äquivalenztheorie ist jede Handlung kausal, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Bei mehraktigen Geschehensabläufen bleibt die Ersthandlung kausal für den Erfolg, solange deren Wirkung bei den nachfolgenden Handlungen fortbesteht (Kein Regressverbot). Ohne die Schläge des T hätte M den O nicht am Boden liegend vorgefunden und diese Situation nicht zur Tötung ausnutzen können. Die Schläge des T haben so im Tod des O fortgewirkt.

4. Hat T durch die Schläge seine objektive Sorgfaltspflicht verletzt?

Ja!

Jedes Fahrlässigkeitsdelikt setzt voraus, dass der Täter eine objektive Sorgfaltspflicht verletzt.Sorgfaltspflichtwidrig handelt, wer die im Verkehr erforderlich Sorgfalt außer Acht lässt. Der Sorgfaltsmaßstab ergibt sich nicht aus der verletzten Strafnorm selbst, sondern wird aus externen Quellen bestimmt. Mögliche Quellen sind (1) Sondernormen, aus denen sich bestimmte Verhaltensanforderungen ergeben, oder (2) das allgemeine Schädigungsverbot, wonach sich jeder so zu verhalten hat, dass eine Schädigung Dritter unterbleibt. Indem T den O schlug, hat er die sich aus dem allgemeinen Schädigungsverbot ergebende Sorgfalt außer Acht gelassen, einen anderen Menschen nicht zu verletzen.

5. Müsste der Tod des O für T objektiv voraussehbar gewesen sein?

Genau, so ist das!

Für die objektive Vorhersehbarkeit müssen Erfolgseintritt und Kausalverlauf für einen Durchschnittsmenschen des jeweiligen Verkehrskreises konkret wahrscheinlich gewesen sein. BGH: Nicht mehr vorhersehbar ist es, wenn der Erfolgseintritt so außerhalb jeglicher Lebenserfahrung liegt, dass der Täter auch bei der im Einzelfall gebotenen und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen zuzumutenden Sorgfalt nicht mit ihnen rechnen muss. Dies komme insbesondere dann in Betracht, wenn sich in den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Täters und dem Erfolg bewusste oder unbewusste Handlungen dritter Personen einschalten. Zumindest dann, wenn diese Handlung ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten darstellt (RdNr. 24).

6. War der Tod des O für T voraussehbar?

Nein, das trifft nicht zu!

BGH: T müsse nicht damit rechnen, dass M es einerseits über einen längeren Zeitraum hinnahm, von O misshandelt zu werden, und sie es nicht vermochte, sich von ihm zu trennen. Andererseits aber nicht davor zurückschreckte, ihn zu töten (RdNr. 25). Dafür spricht auch, dass M den T nur bat, dem O einen „Denkzettel“ zu verpassen und T ohne Tötungsvorsatz handelte. In einer Klausur wäre noch vor § 222 StGB aufgrund des höheren Strafmaßes vorrangig die Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) zu prüfen, für die es aber aus den hier genannten Gründen am spezifischen Gefahrzusammenhang zwischen Verletzung und Tod fehlt.

7. Bleibt T also straflos?

Nein!

Indem T den O bis zur Regungslosigkeit schlug, hat er O körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt, sodass er sich wegen vorsätzlicher Körperverletzung strafbar gemacht hat (§ 223 Abs. 1 StGB). Im Originalfall handelten mehrere Täter gemeinschaftlich unter Verwendung von Pfefferspray und einem Schlagstock, sodass sich alle Täter wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht haben (§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 StGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DEPA

Der Paragraf

30.5.2022, 08:24:09

Müsste man nicht angesichts der

erheblich

schwereren Strafan

drohung

eigentlich vorrangig §

227 StGB

(Körperverletzung mit Todesfolge) prüfen und die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit im Rahmen der Erfolgszurechnung (§ 18 StGB) problematisieren?

DEPA

Der Paragraf

30.5.2022, 08:27:20

Immerhin liegt ja eine

vorsätzlich

e Körperverletzung vor und scheint die Erfolgszurechnung auch aus Sicht des BGH (der ja zudem gerade keine Letalität des Verletzungserfolgs fordert) nicht gänzlich fernzuliegen.

Nora Mommsen

Nora Mommsen

2.6.2022, 14:22:33

Hallo Der Paragraph, in der Tat wäre in der Klausur zunächst §

227 StGB

zu prüfen, da die fahrlässige Tötung dort mitverwirklicht wäre. Allerdings ist die Problemlage der Vorhersehbarkeit bei beiden Tatbeständen letztlich identisch. Beide Male scheitert die Verwirklichung an dem unvorhergesehenen Einschreiten. Dies dürfte auch der Grund sein, wieso der BGH in diesem Fall nicht differenziert hat. Die Lösung gibt vorliegend das

Urteil

wieder. Viele Grüße - Nora, für das Jurafuchs-Team

PPAA

Philipp Paasch

31.5.2022, 23:27:05

Liebes Jurafuchs-Team, vielen Dank für einen weiteren ausgefuchsten Fall. Ihr habt bei Frage 4 geschrieben, dass sorgfaltspflichtwidrig handelt, wer eine

im Verkehr erforderliche Sorgfalt

spflicht verletzt. Diese Definition scheint zirkulär, da sie das definiendum im definiens enthält. Außerdem findet sich eine ähnliche Definition in § 276 Abs. 2 BGB. Allerdings soll man diese beiden wohl voneinander trennen. So ist eine allgemeine Definition von Fahrlässigkeit, dass fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg gezeitigt hat. (vgl. etwa 8. Leitsatz BGH 3 StR 331/00 -

Urteil

v. 22. November 2000 (LG Kiel)). Vielleicht könnt ihr was dazu schreiben, ob man die zivilrechtliche Definition wirklich einfach so übernehmen darf. Schönen Abend euch allen. 😊

Nora Mommsen

Nora Mommsen

29.6.2022, 12:18:21

Lieber Philipp Paasch, danke für das Lob! Tatsächlich ist sorgfaltspflichtwidrig an der Stelle nur eine andere Formulierung für fahrlässig, die dann wiederum konkretisiert wird. Ob der Wortwahl wirkt es zirkulär. Tatsächlich ist sorgfaltspflichtwidrig ja aber nicht selbsterklärend hinsichtlich der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Desweiteren hast du absolut Recht: die zivilrechtliche und strafrechtliche Fahrlässigkeit sind verschiedentlich zu verstehen. Abweichend vom Strafrecht gilt im Zivilrecht ein objektiv-abstrakter Sorgfaltsmaßstab (Jauernig/Staler, BGB § 276 Rn. 29) während im Strafrecht nach der hL. ein objektiv individueller Maßstab gilt. Es ist also zu beachten was ein besonnener und gewissenhafter Mensch beachten würde und ob dies nach den individuellen Fähigkeiten und Kentnissen erfüllbar und der Eintritt des Erfolges individuell vorhersehbar war. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

PPAA

Philipp Paasch

30.6.2022, 20:01:36

Super, vielen Dank Nora für die schnelle und ausführliche Antwort. LG 😊☺️

nullumcrimen

nullumcrimen

13.5.2024, 20:05:01

In welchen Fällen würde die

subjektive Fahrlässigkeit

entfallen?

BLAC

Blackiel

3.11.2024, 12:11:31

@[nullumcrimen](224363) Bei der subjektiven Fahrlässigkeit werden die individuellen Voraussetzungen des Täters überprüft. Ist dieser in der Lage gewesen, zu erkennen, dass sein Handeln sorgfaltspflichtwidrig war und die (jeweilige) Folge Eintreten könne? Insbesondere kann die

subjektive Fahrlässigkeit

bei stark alkoholisierten Personen oder unter Einfluss sonstiger Drogen stehender Personen entfallen.

JEN

jenny24

12.12.2024, 14:58:47

wenn die Frage lautet, ob der Tod FUER T objektiv vorhersehbar gewesen sein müsste, dann ist die Antwort nein. Auf T kommt es erst in der

Schuld

an.

Nocebo

Nocebo

5.1.2025, 10:40:48

Völlig richtig! Der Tod ist objektiv vorhersehbar, wenn er für eine besonnene und gewissenhafte Person in der konkreten Situation und sozialen Rolle des T ex-ante vorhersehbar war (objektive Fahrlässigkeit). Das geht leider nicht nur bei Jurafuchs oft durcheinander, die Trennung zwischen objektiver und subjektiver Fahrlässigkeit.

Sebastian Schmitt

Sebastian Schmitt

6.1.2025, 12:05:53

Hallo @[jenny24](201955), hallo @[Nocebo](222699), vielen Dank Euch für den Hinweis. Ich kann den Einwand durchaus nachvollziehen, sprachlich würde ich das allerdings weniger eng sehen als Ihr. Ihr habt zunächst völlig Recht, dass hinsichtlich der objektiven Vorhersehbarkeit im Grundsatz logischerweise ein objektiver Maßstab anzulegen ist. Die Formulierung, dass der

tatbestand

liche Erfolg "für den Täter (objektiv) vorhersehbar" sein muss, ist insoweit aber weit verbreitet (zB BeckOK-StGB/Kudlich, 63. Ed, Stand 1.11.2024, § 15 Rn 56; Weber/Werner, Rechtswörterbuch, 33. Ed 2024, Stichwort Erfolgsdelikt oder auch hier https://www.uni-potsdam.de/en/rechtskunde-online/rechtsgebiete/strafrecht/fahrlaessigkeit), zumal die Strafbarkeit ja ohnehin immer für einen konkreten Täter geprüft wird. Hinzu kommt dass der objektive Maßstab in gewissem Umfang ggf dadurch aufgeweicht wird, dass Sonderwissen/-fähigkeiten des Täters schon iRd objektiven

Tatbestand

s maßstabserhöhend berücksichtigt werden (str, vgl BeckOK-StGB/Kudlich, 63. Ed, Stand 1.11.2024, § 15 Rn 56). Das alles gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass in der Rspr wohl ohnehin auch im subjektiven Teil der Fahrlässigkeitsprüfung teils ein "aus Praktikabilitätsgründen" objektiv beeinflusster Maßstab angelegt wird, die Trennung also jedenfalls in der Praxis nicht immer ganz scharf ist (zur Kritik Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, StGB, 30. Aufl 2019, § 15 Rn 181 mwN). ME ist es daher gut vertretbar, hier zu formulieren "für T objektiv voraussehbar" und damit auf die

objektive Vorhersehbarkeit

abzustellen. Durch die Formulierung "objektiv (!) voraussehbar" ist auch klargestellt, dass wir uns auf der objektiven Ebene der Fahrlässigkeitsprüfung befinden. Ich halte die Antwort dementsprechend für durchaus in Ordnung und möchte sie für den Moment so stehen lassen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

Vincent

Vincent

4.2.2025, 10:53:09

In der Subsumtion wird angeführt, dass sich die Täter im Originalfall auch nach 224 strafbar gemacht hatten, da sie die Tat mittels Schlagstock und gemeinschaftlich begingen. Vorliegend wird nur eine Strafbarkeit nach 223 bejaht, allerdings fehlt auch im vorliegenden Beispiel die Strafbarkeit. nach §224 Abs. 1 Nr. 2 Alt.2 - da der Stein hier unstrittig ein anderes gefährliches Werkzeug darstellen dürfte. Aus Klarstellungsgründen sollte dies ergänzt werden


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