Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2021
Objektive Zurechnung beim Dazwischentreten Dritter
Objektive Zurechnung beim Dazwischentreten Dritter
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
M bittet ihren Sohn T, ihrem Lebensgefährten O einen „Denkzettel“ zu verpassen. O hatte M mehrfach misshandelt. Trennen will sich M nicht. T schlägt O bewusstlos und geht. Wie geplant, ist O nicht lebensgefährlich verletzt. Als M den O regungslos am Boden sieht, schlägt M mit einem Stein auf Os Kopf ein. O stirbt.
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Einordnung des Falls
Der BGH bleibt in dieser Entscheidung seiner bisherigen Linie treu und verneint im vorliegenden Fall die Zurechnung des Taterfolgs bei einem Dazwischentreten Dritter. Während das Verhalten des Vortäters zwar äquivalent kausal für den Todeserfolg des Opfers ist, ist fraglich, ob das Dazwischentreten Dritter die objektive Zurechnung durchbricht. Hierbei scheide eine Zurechnung aus, wenn die Zweithandlung für den Ersttäter nicht vorhersehbar sei. Mit einem völlig atypischen Verlauf, der außerhalb der Lebenserfahrung liegt, müsse der Ersttäter nicht rechnen.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat sich T wegen Totschlags strafbar gemacht, indem er O bis zur Regungslosigkeit schlug (§ 212 Abs. 1 StGB)?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
2. Könnte sich T wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht haben, indem er T bis zur Regungslosigkeit schlug (§ 222 StGB)?
Genau, so ist das!
3. Waren die Schläge des T kausal für den Tod des O?
Ja, in der Tat!
4. Hat T durch die Schläge seine objektive Sorgfaltspflicht verletzt?
Ja!
5. Müsste der Tod des O für T objektiv voraussehbar gewesen sein?
Genau, so ist das!
6. War der Tod des O für T voraussehbar?
Nein, das trifft nicht zu!
7. Bleibt T also straflos?
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Der Paragraf
30.5.2022, 08:24:09
Müsste man nicht angesichts der erheblich schwereren Strafandrohung eigentlich vorrangig § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) prüfen und die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit im Rahmen der Erfolgszurechnung (§ 18 StGB) problematisieren?
Der Paragraf
30.5.2022, 08:27:20
Immerhin liegt ja eine vorsätzliche Körperverletzung vor und scheint die Erfolgszurechnung auch aus Sicht des BGH (der ja zudem gerade keine Letalität des Verletzungserfolgs fordert) nicht gänzlich fernzuliegen.
Nora Mommsen
2.6.2022, 14:22:33
Hallo Der Paragraph, in der Tat wäre in der Klausur zunächst § 227 StGB zu prüfen, da die fahrlässige Tötung dort mitverwirklicht wäre. Allerdings ist die Problemlage der Vorhersehbarkeit bei beiden Tatbeständen letztlich identisch. Beide Male scheitert die Verwirklichung an dem unvorhergesehenen Einschreiten. Dies dürfte auch der Grund sein, wieso der BGH in diesem Fall nicht differenziert hat. Die Lösung gibt vorliegend das Urteil wieder. Viele Grüße - Nora, für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
31.5.2022, 23:27:05
Liebes Jurafuchs-Team, vielen Dank für einen weiteren ausgefuchsten Fall. Ihr habt bei Frage 4 geschrieben, dass sorgfaltspflichtwidrig handelt, wer eine
im Verkehr erforderliche Sorgfaltspflicht verletzt. Diese Definition scheint zirkulär, da sie das definiendum im definiens enthält. Außerdem findet sich eine ähnliche Definition in § 276 Abs. 2 BGB. Allerdings soll man diese beiden wohl voneinander trennen. So ist eine allgemeine Definition von Fahrlässigkeit, dass fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg gezeitigt hat. (vgl. etwa 8. Leitsatz BGH 3 StR 331/00 - Urteil v. 22. November 2000 (LG Kiel)). Vielleicht könnt ihr was dazu schreiben, ob man die zivilrechtliche Definition wirklich einfach so übernehmen darf. Schönen Abend euch allen. 😊
Nora Mommsen
29.6.2022, 12:18:21
Lieber Philipp Paasch, danke für das Lob! Tatsächlich ist sorgfaltspflichtwidrig an der Stelle nur eine andere Formulierung für fahrlässig, die dann wiederum konkretisiert wird. Ob der Wortwahl wirkt es zirkulär. Tatsächlich ist sorgfaltspflichtwidrig ja aber nicht selbsterklärend hinsichtlich der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Desweiteren hast du absolut Recht: die zivilrechtliche und strafrechtliche Fahrlässigkeit sind verschiedentlich zu verstehen. Abweichend vom Strafrecht gilt im Zivilrecht ein objektiv-abstrakter Sorgfaltsmaßstab (Jauernig/Staler, BGB § 276 Rn. 29) während im Strafrecht nach der hL. ein objektiv individueller Maßstab gilt. Es ist also zu beachten was ein besonnener und gewissenhafter Mensch beachten würde und ob dies nach den individuellen Fähigkeiten und Kentnissen erfüllbar und der Eintritt des Erfolges individuell vorhersehbar war. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
30.6.2022, 20:01:36
Super, vielen Dank Nora für die schnelle und ausführliche Antwort. LG 😊☺️
nullumcrimen
13.5.2024, 20:05:01
In welchen Fällen würde die subjektive Fahrlässigkeit entfallen?