Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2020

Abgrenzung: Gemeingefährlichkeit / Mehrfachtötung

Abgrenzung: Gemeingefährlichkeit / Mehrfachtötung

9. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration: T läuft von einem Wohnhaus weg, in dem ein durch ihn angezündetes Zimmer in Brand steht.

T setzt seine Wohnung in einem Mehrparteienhaus aus Unzufriedenheit in Brand und verlässt das Haus. Er weiß, dass sich in den Wohnungen im Obergeschoss zum Tatzeitpunkt Menschen aufhalten und nimmt ihren Tod billigend in Kauf. Bewohner B stirbt an einer Rauchvergiftung.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

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Einordnung des Falls

Der BGH präzisiert in dieser Entscheidung das Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit. Laut Definition müsse das gemeingefährliche Mittel zu einer Gefährdung einer unbestimmten Anzahl von Menschen an Leib und Leben führen, weil der Täter die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat. Die Beschränkung eines Brandes auf ein Wohnhaus schließe dabei die Gemeingefährlichkeit nicht aus. Jede noch so allgemeine Gefahr habe der Natur der Sache nach irgendeine örtliche Grenze. Es komme darauf an, dass der Täter gerade aufgrund der Unbeherrschbarkeit des Mittels die Tötung von mehreren Menschen nicht ausschließen könne.

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Berlin/Brandenburg 2023

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist Mörder, wer einen anderen Menschen tötet und dabei mindestens eines von neun „Mordmerkmalen“ erfüllt (§ 211 Abs. 2 StGB)?

Genau, so ist das!

Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet (§ 211 Abs. 2 StGB). Der Tatbestand des Mordes (§ 211 StGB) ist dem Totschlag (§ 212 StGB) gesetzessystematisch vorangestellt. Grundtatbestand der Tötungsdelikte ist jedoch § 212 StGB. § 211 StGB stellt nach h.L. die Qualifikation des § 212 StGB dar. Die Rechtsprechung geht dagegen von zwei selbstständigen Tatbeständen aus.
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2. Hat T sich wegen Mordes strafbar gemacht, wenn er B mit gemeingefährlichen Mitteln getötet hat (§ 211 Abs. 2 Gruppe 2 Var. 3 StGB)?

Ja, in der Tat!

Das Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit liegt vor, wenn die Tat eine besondere Sozialgefährlichkeit aufweist. Der Täter muss durch die Tat eine unberechenbare Gefahr für andere schaffen. Dies ist der Fall, wenn er Tötungsmittel mit Breitenwirkung verwendet, die nicht nur gegen das unmittelbar angegriffene Opfer gerichtet sind, sondern auch unbeteiligte Dritte gefährden. Ausreichend ist eine Gefahrverursachung für mindestens drei Personen neben dem unmittelbaren Tatopfer. Der Grund für die strafrechtliche Ächtung der Gemeingefährlichkeit in § 211 Abs. 2 Gruppe 2 Var. 3 StGB liegt in der besonderen Rücksichtslosigkeit des Täters.

3. Wird allein anhand seiner abstrakten Gefährlichkeit beurteilt, ob ein Tatmittel gemeingefährlich ist?

Nein!

Gemeingefährlich ist ein Tötungsmittel, wenn es in der konkreten Tatsituation eine unbestimmte Anzahl von Menschen an Leib oder Leben gefährden kann. Es ist neben der objektiven Gefährlichkeit eines Mittels auch auf seine Eignung und Wirkung in der konkreten Situation abzustellen. Dabei sind die persönlichen Fähigkeiten und Absichten des Täters zu berücksichtigen. Die Gefährdung muss dabei nicht eingetreten sein.

4. Könnte T das Tatbestandsmerkmal der Gemeingefährlichkeit erfüllen, wenn für ihn unbeherrschbar war, wie viele Personen durch den Brand getötet werden?

Genau, so ist das!

Entscheidend für die Gemeingefährlichkeit ist, ob das gefährliche Mittel nach Freisetzung seiner Kräfte vom Täter beherrschbar ist. Das Mittel muss in seiner Wirkung geeignet sein, eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben zu verletzen. Der Umfang des konkreten Gefährdungsbereichs ist unerheblich. Dass das Mittel räumlich begrenzt ist, steht seiner Gemeingefährlichkeit nicht entgegen, da es in der Natur allgemeiner Gefahren liegt, örtliche Grenzen zu haben. Es liegt nicht im Einflussbereich des T, wie weit sich das Feuer ausbreitet und wie viele Menschen dadurch verletzt oder getötet werden. Objektiv hat er somit gemeingefährlich gehandelt.

5. Ist die Gemeingefährlichkeit eines Mittels ausgeschlossen, wenn der Tötungsvorsatz des Täters allein auf konkretisierte Opfer bezogen war?

Nein, das trifft nicht zu!

Nach bisheriger Rechtsprechung des BGH war eine Gemeingefährlichkeit ausgeschlossen, wenn der Täter sich gezielt gegen eine Mehrzahl von individualisierten Opfern richtet. Erforderlich war vielmehr, dass der Täter Zufallsopfer in Kauf nimmt. In Fällen der Brandlegung in einem Wohnhaus hat der BGH diesen Grundsatz nun aufgegeben. Es wäre wertungswidersprüchlich, den Täter, der eine konkrete Vielzahl von Opfern töten will, demjenigen gegenüber zu privilegieren, der auch Zufallsopfer in Kauf nimmt. Abzustellen ist daher darauf, ob für den Täter berechenbar ist, wie viele Menschen durch das Tatmittel getötet werden können.

6. Stellt das Inbrandsetzen eines Mehrparteienhauses typischerweise ein gemeingefährliches Mittel dar?

Ja!

Es gibt aufgrund ihrer Eigenart grundsätzlich gemeingefährliche Mittel, bei denen die Beherrschbarkeit nur in Einzelfällen ausnahmsweise zu bejahen ist. Dazu gehören Brandsetzungsmittel und Explosionsstoffe, da der Täter bei ihnen die Folgen seines Tuns typischerweise nicht in der Hand hat (RdNr. 12). Bei diesen ist eine gemeingefährliche Verwendung nur dann zu verneinen, wenn der Täter davon ausgeht, es könnten dadurch nur die zur Tötung ins Auge gefasste Person getroffen werden.

7. Stellt Ts Brandlegung ein gemeingefährliches Mittel dar?

Genau, so ist das!

Bei Mitteln, die bereits aufgrund ihrer Eigenart gemeingefährlich sind, ist eine gemeingefährliche Verwendung nur dann zu verneinen, wenn der Täter davon ausgeht, es könnten dadurch nur die zur Tötung ins Auge gefasste Person getroffen werden.Brände sind bereits von Natur schwer kontrollilerbar. T war bewusst, dass sich im Haus noch Menschen aufhielten. Er hatte dabei weder kontrolliert, um welche Menschen (Bewohner oder Gäste) es sich handelte, noch sichergestellt, dass weitere Personen das Haus nach der Brandlegung nicht mehr betreten (zB herbeieilende Feuerwerhrkräfte). Er rechnete also damit, dass nicht konkretisierte Personen (Zufallsopfer) durch den Brand sterben würden. Es liegt somit kein Ausnahmefall vor. Vergiss in der Klausur nicht die weiteren in Betracht kommenden Delikte zu prüfen (insb. besonders schwere Brandstiftung (§ 306b StGB), schwere Brandstiftung (§ 306a StGB), ggfs. (versuchte) gefährlicher Körperverletzung (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

IS

IsiRider

25.10.2022, 10:10:29

Bis wann galt die alte Rechtsprechung?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

25.10.2022, 17:15:59

Hallo IsiRider, der BGH hatte seine bisherige Haltung mit dieser Entscheidung jedenfalls im Hinblick auf die Brandlegung aufgegeben. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CL@

cl@ra

27.10.2022, 08:42:57

In dem ersten Vertiefungshinweis schreibt ihr, dass 212 der Grundtatbestand ist. Aber ist das nicht umstritten, weil die Rechtsprechung ein Exklusivitätsverhältnis annimmt? Vielleicht könnt ihr das noch ergänzen

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

27.10.2022, 08:51:31

Hallo Cl@ra, vielen Dank für den Hinweis. Wir haben hier noch einmal präzisiert, dass es sich hierbei um die Ansicht der hL handelt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PPAA

Philipp Paasch

20.1.2023, 01:17:48

Es steht nach wie vor drinnen, dass §212 der Grundtatbestand sei. Auch das ist streng genommen umstritten, aber bei dem Thema findet man das fast an jeder Ecke.

RO

Ronie

3.11.2022, 08:06:23

Ist ja witzig; erst gestern haben wir den Fall im Schwerpunkt besprochen gehabt. Sehr gute Aufbereitung und Wiederholung! ☺️

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

4.11.2022, 13:16:46

Vielen lieben Dank, Ronie! Das gebe ich gerne an die Erstellerin weiter! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Sambadi

Sambadi

19.4.2023, 15:08:49

Kam teils auch im 1 Stex. in Berlin/Brandenburg ran. In Kombination mit dem

Versuch der Erfolgsqualifikation

. Also er wollte einen Bewohner töten und wusste, dass sich noch weitere Personen in dem Haus befinden.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.4.2023, 17:12:19

Danke Sambadi! Wird getagged :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

BE

Bioshock Energy

13.9.2024, 13:07:30

Frage: wenn man jetzt bspw. § 306c StGB prüft muss ja zunächst der Grundtatbestand eines der in §§ 306 - 306b StGB genannten Delikte verwirklicht sein. Wenn jetzt bspw. sowohl § 306 I Nr. 1 Alt. 1, als auch § 306a I Nr. 1 in Frage kommen und beide einschlägig sind, auf welches der Grunddelikte stellt man dann ab? Schreibt man einfach, dass beide verwirklicht sind oder genügt es nur eins der beiden zu prüfen und zu bejahen? Und unabhängig davon: prüft man immer alle Grundtatbestände nebeneinander, wenn alle in Frage kommen oder gibt es untereinander ein Spezialitätsverhältnis?

Linne_Karlotta_

Linne_Karlotta_

16.9.2024, 14:37:55

Hallo @[Bioshock Energy](207759), danke für deine Frage. Zunächst zum grundsätzlichen Verhältnis der Grundtatbestände §§ 306 - 306b StGB: Diese stehen gleichrangig nebeneinander, d.h. sie können nebeneinander einschlägig sein und verdrängen sich gerade nicht i.R.e. Spezialitätverhältnisses: Denn sie stellen jeweils auf verschiedene Schutzgüter bzw. Arten der Gefährdung ab: § 306 StGB schützt das fremde Eigentum, wobei es auch tatsächlich zu einer Sachbeschädigung durch den Brand gekommen sein muss. § 306 Abs. 1 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt und schützt Leib und Leben von Menschen, ohne das es zu einer konkreten Gefährdung gekommen sein muss. Daran anknüpfend verlangt § 306a Abs. 2 StGB eine konkrete Gefährdung der Gesundheit eines Menschen durch eine Handlung nach § 306 StGB. Es bietet sich an, die Delikte auch in dieser Reihenfolge zu prüfen. Liegt eine Strafbarkeit nach m

ehre

ren Grunddelikten vor, musst du auf Konkurrenzebene klären, wie diese zueinander stehen. Zwischen § 306 und §§ 306a Abs. 1 u. Abs. 2 StGB ist Tateinheit (§ 52 StGB) möglich, während nach der Rspr. § 306 Abs. Nr. 1 durch § 306a Abs. Nr. 1 verdrängt wird (vgl. BGH NJW 01, 765). (siehe hierzu Schönke/Schröder/Heine/Bosch, 30. Aufl. 2019, StGB § 306 RdNr. 24, beck-online). Anders sieht die Rspr. dies allerdings, wenn § 306a Abs. 2 StGB etwa wegen fehlendem Gefährdungserfolg nur versucht wird, da dann zur Klarstellung Tateinheit mit § 306 erforderlich sei. Zu deiner ersten Frage: Da du in der Klausur grds. ein vollständiges Gutachten schreiben musst, solltest du zunächst alle in Betracht kommenden Grundtatbestände prüfen. Im nächsten Schritt kannst du dann feststellen, dass jeweils die Erfolgsqualifikation des § 306c StGB erfüllt ist. Sollten in den Grunddelikten keine besonderen Probleme liegen, kannst du diese auch inzident in der Erfolgsqaulifikation des § 306c StGB prüfen. I.d.R. ist es aber sicherer, zunächst alle Grundtatbestände zu prüfen. Ich hoffe, ich konnte dir damit weiterhelfen. Viele Grüße – Linne, für das Jurafuchs-Team

BE

Bioshock Energy

16.9.2024, 15:00:34

Ja, vielen Dank, das mit den Konkurrenzen hat sehr geholfen!

Kurzhals

Kurzhals

10.10.2024, 20:33:28

Zitat: "Der Täter muss durch die Tat eine unberechenbare Gefahr für andere schaffen. Dies ist der Fall, wenn er Tötungsmittel mit Breitenwirkung verwendet, die nicht nur gegen das unmittelbar angegriffene Opfer gerichtet sind, sondern auch UNBETEILIGTE DRITTE gefährden." Frage: Sind unter 'unbeteiligten Dritten' prinzipiell alle Menschen (die in der konkreten Situation nicht vom Täter unmittelbar anvisiert werden) zu verstehen, oder können bestimmte Personengruppen davon ausgeschlossen sein? Bspw. wenn die Dritten eine Nähebeziehung zu dem unmittelbar anvisierten Opfer pflegen bzw. in dessen Sozialsphäre stehen (etwa Familienmitglieder oder Bandenmitglieder)? Andersherum gefragt: Wann sind Dritte derart beteiligt, dass man ein

gemeingefährliches Mittel

ablehnen könnte?

LELEE

Leo Lee

13.10.2024, 08:10:44

Hallo Kurzhals, vielen Dank für die sehr gute und wichtige Frage! Das ist in der Tat eine sehr interessante Frage, die man sich nicht wirklich stellt im Studium. In der Literatur selbst findet man dazu nicht wirklich was. Wenn wir uns allerdings den Strafzweck dieses Mordmerkmals vor Augen führen (Nutzung eines besonders gefährlichen Mittels, was eben viele Menschen auf einmal gefährden kann) scheint es nicht unbillig, auch die dem Opfer nahstehenden Personen miteinzubeziehen, zumal diese Personen nicht identisch mit der Person des Opfers sind :)! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Kurzhals

Kurzhals

13.10.2024, 17:29:58

Vielen Dank für die schnelle und einleuchtende Antwort! :)

FW

FW

5.11.2024, 09:14:16

@[Kurzhals](109278) Da würde ich in der Klausur aufpassen, nicht alles Hals über Kopf zu machen. Ich denke man prüft das immer anhand des Einzelfalls anhand des

Vorsatz

es des Täters. Wenn er von Anfang nur geplant hat, das rivalisierende Bandenmitglied zu töten, dann würde ich die Familie nur als Unbeteiligte Dritte einstufen. Wenn er jedoch aus Rache „seine gesamte Sippschaft“ auslöschen will, dann würde man dies wohl verneinen.


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