Dezentralisierter Entlastungsbeweis und Organisationsverschulden
13. November 2025
15 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Für Kauffrau K arbeitet der Betriebsleiter B, den K sorgfältig ausgewählt hat und fortlaufend überwacht. Als bei einem Bauprojekt der Baggerführer krankheitsbedingt ausfällt, setzt der für die Auswahl zuständige B mangels anderslautender Anweisung den jungen und völlig unerfahrenen J ein, der fahrlässig die Wand des angrenzenden Hauses des H einreißt.
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Einordnung des Falls
Dezentralisierter Entlastungsbeweis und Organisationsverschulden
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K haftet für die widerrechtliche Schädigung durch ihren Verrichtungsgehilfen, wenn sie sich nicht exkulpieren kann.
Genau, so ist das!
2. In einem größeren Betrieb muss der Betriebsinhaber jeden einzelnen Mitarbeiter persönlich auswählen und überwachen.
Nein, das trifft nicht zu!
3. K kann sich hier exkulpieren, weil sie den B als Zwischenperson sorgfältig ausgewählt und überwacht hat.
Ja!
4. Der Betriebsinhaber kann in diesen Fällen jedoch nach § 823 Abs. 1 BGB haften, wenn er seine Organisationspflicht verletzt (Organisationsverschulden).
Genau, so ist das!
5. K haftet nach § 823 Abs. 1 BGB wegen ihres Organisationsverschuldens.
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Yinan Zou
2.9.2022, 16:56:37
Hallo Jurafuchs, ich habe eine Frage. K als Betriebsinhaberin hat keine Haftung nach
§ 831I S.1 BGB, da sie nach
§ 831I S.2 BGB exkulpiert ist. Aber wer hat der Anspruch gegen K wegen Verletzung der allgemeinen Organisationspflicht gemäß § 823 I BGB, B oder H? Und ob H gegen B einen Anspruch auf
Schadenersatz nach
§ 831I S.1 BGB hat, da H der
Verrichtungsgehilfeist und B nicht gem.
§ 831I S.2 BGB exkulpieren kann. Vielen Dank im Voraus! Yinan
Nora Mommsen
5.9.2022, 16:58:42
Hallo Yinan Zou, vielen Dank für deine Fragen. Den Anspruch gegen K aus § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung der Organisationspflicht steht H zu. Dessen Haus (Eigentum) wurde ja beschädigt, sodass eine Rechtsgutverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB vorliegt. H hat gegen B nur einen Anspruch aus
§ 831Abs. 1 S.1 BGB, wenn die Voraussetzungen vorliegen. H ist nicht der
Verrichtungsgehilfe, dies ist aber gerade nicht erforderlich. Hier könnte A der
Verrichtungsgehilfesein. B müsste aber auch Geschäftsherr sein. Die Ausführung der Verrichtung hat er lediglich als Aufgabe von K übernommen. Er könnte somit gem.
§ 831Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 BGB haften. Es ist allerdings umstritten, ob
§ 831Abs. 2 BGB auch bei der Übertragung auf Bedienstete Anwendung findet. Der Schutz des Geschädigten spricht dafür. Nach anderer Ansicht geht es bei der Delegierung an Bedienstete lediglich um unternehmensinterne Zuständigkeitsverteilung. Der Geschädigte ist ausreichend über die Organsisationspflicht gem. § 823 Abs. 1 BGB geschützt. Danach umfasst
§ 831Abs. 2 BGB nur den Fall, dass ein selbstständiges Unternehmen vom Geschäftsherren beauftragt wird. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Sophix58
24.10.2023, 14:52:46
Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der dezentralisierte Entlastungsbeweis nicht ganz unumstritten. Wäre es daher ratsam, dies in einer Klausur zu erwähnen oder handelt es sich dabei um eine mehr oder weniger unbeachtliche Mindermeidung?
Nora Mommsen
25.10.2023, 13:43:37
Hallo Sophix58, eine pauschale Antwort darauf ist leider nicht möglich. Es kommt immer ein wenig darauf an, wie die Klausur angelegt ist. Grundsätzlich ist es keins der Standardprobleme und Streits, bei denen es geboten ist diese immer anzusprechen. Sollte sich aber eine Partei im Sachverhalt darauf berufen beispielsweise, dann muss der Aspekt natürlich entsprechend diskutiert werden. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
erikxxx
5.11.2024, 14:48:07
@[Sophix58](22547) Wir hatten den dezentralisierten Entlastungsbeweis in einer Examensübungsklausur zum innerbetrieblichen
Schadensausgleich am Rande gestreift. Unser Prof meinte bei der Besprechung, man solle den Streitstand zumindest erwähnen, auch wenn er nicht zentral ist. Im allgemeinen Bewertungshinweis stand aber diesbezüglich nichts, weswegen ich annehme, dass dies zu mindestens nicht negativ gewertet wurde, sofern man diese nicht erwähnt hat. Aber Pluspunkte hat es dafür aber gegeben. Aber wie gesagt, das kommt immer auf den
Einzelfalldrauf an, ob es einer der Schwerpunkt des Falls ist.
okalinkk
5.5.2025, 18:29:26
auf J oder auf B?
Sophia
5.5.2025, 21:26:20
Es muss immer auf die Person abgestellt werden, die den
Schadentatsächlich hervorgerufen hat (hier also J). In einem zweiten Schritt wird dann geprüft, ob dieses Handeln dem Geschäftsherrn zugerechnet werden kann. Die einzige Besonderheit in diesem Fall ist, dass die Zurechnung über eine Mittelsperson laufen müssten (hier B). Da sich K bezüglich B aber exkulpieren kann, scheitert eine Haftung nach
§ 831 BGB. Die widerrechtliche Handlung ist aber weiterhin die des J.
okalinkk
5.5.2025, 22:53:31
Mit dem „zweiten Schritt“ meinst du dann die Exkulpation? Oder wird diese Zurechnung davor geprüft? @[Sophia](281527)
Sophia
5.5.2025, 23:09:31
Das war jetzt vielleicht ein bisschen missverständlich/ungenau ausgedrückt.
§ 831 BGBwird wie folgt geprüft: 1.
Verrichtungsgehilfedes Geschäftsherrn 2. Unerlaubte,
rechtswidrige Handlung des
Verrichtungsgehilfen 3. In Ausübung der Verrichtung 4. Keine Exkulpation des Geschäftsherrn,
§ 831Abs. 1 S. 2 BGB 5. Rechtsfolge Die Zurechnung des Handeln eines
Verrichtungsgehilfen wird bei den Punkten 1. und 3. geprüft. Also wenn ein
Verrichtungsgehilfein Ausübung der Verrichtung eine unerlaubte Handlung vornimmt, kann diese grundsätzlich dem Geschäftsherrn zugerechnet werden. Durch die Exkulpation kann der Geschäftsherr sich dann trotzdem der Haftung entziehen. Der konkrete Fall hier ist eine Besonderheit im Rahmen der Exkulpation. Also zugerechnet werden kann die Handlung in jedem Fall, weil auch J ein
Verrichtungsgehilfeder K ist. Aber sie musste nicht jeden Mitarbeiter selbst auswählen, sondern durfte damit B beauftragen. Da sie B ordentlich ausgewählt hat, kann sie sich der Haftung entziehen.
APhM
5.8.2025, 15:28:44
Liebes Jurafuchsteam, wieso kann sich K bei seinem
Auswahlverschuldengem. 831 I 2 BGB exkulpieren und dennoch für ein
Organisationsverschuldenhaften? Klar, dies sind verschiedene Anknüpfungspunkte für
Verschulden. Doch K hat den B nicht nur gewissenhaft ausgewählt, sondern auch regelmäßig kontrolliert., welcher erfahrungsgemäß gewissenhaft arbeitet. Für einen spontanen Kurzschluss des B, bei dem dieser den völlig unerfahrenen J an den Bagger setzt nur, weil er keinen Ersatz bekommt, kann K's Organisation doch nichts. Oder hätte dieser den Betrieb so organisieren müssen, dass für krankheitsbedingte Ausfälle immer ein Ersatz bereitsteht. Dann müsste man jedoch für ein
Verschuldenauch noch die Arbeitskräftelage am Arbeitsmarkt checken, welcher bei erfahrenen Kräften in der Baubaranche eher angespannt aussehen dürfte. Dies würde dann auch gegen ein Organisation
verschuldendes K sprechen. Oder worauf genau stellt man bei diesem hier vorliegend ab? LG, APhM
jurapfugs
3.11.2025, 20:43:16
push push
JuraToMoon
18.9.2025, 10:55:11
Warum kann sich K hier nach
§ 831I 2 exkulpieren? Dort heißt es doch: Die Ersatzpflicht tritt nicht ein wenn der Geschäftsherr […] sofern die Ausführung der Verrichtung zu leiten hat, bei der Leitung die
im Verkehr erforderliche Sorgfaltbeobachtet. Dadurch, dass K ihrer zwischengeschalteten Hilfsperson die notwendigen Anweisungen nicht gegeben hat, trifft sie ein
Organisationsverschulden. Damit hat Sie meines Erachtens bei der Leitung auch nicht die
im Verkehr erforderliche Sorgfaltbe(ob)achtet und zugleich ein Anweisungs
verschuldenzu vertreten. Dafür spricht auch der Maßstab der in einer vorherigen Aufgabe aufgestellt wurde. Nach
§ 831haftet K ja für ein Auswahl- Ausrüstung - und Anweisungs
verschulden. Hier liegt meiner
Meinungnach klar ein Anweisungs
verschuldenbedingt durch ein
Organisationsverschuldenvor. Kann man mit dieser Argumentation auch eine Haftung nach
§ 831I 1 bejahen? Mir scheint es jedenfalls inkonsequent im Rahmen des § 823 eine
Verkehrssicherungspflichtaufgrund
Organisationsverschuldens anzunehmen und dies im Rahmen vom
§ 831I 2 BGB außer Acht zu lassen.
Foxxy
18.9.2025, 10:55:20
Deine Argumentation ist nachvollziehbar, entspricht aber nicht der herrschenden
Meinung. Bei
§ 831I 2 BGB reicht es für die Exkulpation aus, dass K den Betriebsleiter B sorgfältig ausgewählt und überwacht hat. Sie muss nicht jeden einzelnen Arbeitsschritt (etwa die Auswahl des Ersatz-Baggerführers) selbst anweisen oder kontrollieren. Fehler auf der Ebene des Zwischenverhältnisses (hier: fehlende Anweisung an B) führen nur dann zur Haftung nach
§ 831, wenn K gerade bei Auswahl oder Überwachung des B selbst einen Fehler gemacht hat – das ist hier nicht der Fall. Organisations- und Anweisungs
verschulden, das nicht die Auswahl/Überwachung des
Verrichtungsgehilfen betrifft, begründet keine Haftung nach
§ 831, sondern nur nach
§ 823 BGB(Stichwort:
Organisationsverschulden).
§ 831und § 823 unterscheiden also zwischen delegierbarer Auswahl-/Überwachungspflicht und nicht delegierbarer Organisationspflicht. Das ist bewusst so getrennt:
§ 831deckt nur typische Auswahl- und Überwachungsfehler ab, nicht aber allgemeine Organisationsmängel. Fazit: K kann sich nach
§ 831I 2 exkulpieren, weil sie B sorgfältig ausgewählt und überwacht hat. Ein etwaiges
Organisationsverschuldenführt nicht zur Haftung nach
§ 831, sondern nur zu einer deliktischen Haftung nach
§ 823 BGB. Das ist kein Wertungswiderspruch, sondern entspricht dem System des
Deliktsrechts.
Tim Gottschalk
18.9.2025, 12:24:49
Hallo @[JuraToMoon](273365), ich würde Foxxy hier grundsätzlich zustimmen, dass eine Exkulpation nach
§ 831Abs. 1 S. 2 BGB möglich ist und dennoch ein
Organisationsverschuldenzu einer Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB führt, ohne dass das sich widerspricht. Du hast zwar Recht, dass
§ 831 BGBauch von "die Ausführung der Verrichtung zu leiten hat" spricht, davon ist aber nach der herrschenden
Meinungnur umfasst, wenn "eine durch die besondere Natur der Verrichtung oder durch die besonderen Eigenschaften der dazu bestellten Person bedingte Sonderaufsicht der Einzelverrichtung" besteht. Nicht gemeint ist damit das allgemeine
Organisationsverschulden. Da der Betriebsleiter aber keine Anhaltspunkte dafür erkennen ließ, dass er seine Arbeit nicht zuverlässig machen würde, bestand für die K auch kein Grund, ihn besonders zu beaufsichtigen. Auch führt es nicht zu einem
Verschulden, dass es keine Anweisung der K gab. Einem Betriebsleiter wird auch ein gewisser Entscheidungsspielraum zustehen, ohne dass jedes mal, wenn er ohne gesonderte Anweisung handelt, dies von der K fahrlässig wäre. Liebe Grüße Tim - für das Jurafuchs-Team
JuraToMoon
19.9.2025, 09:26:10
So macht das natürlich Sinn!💡😃 Danke für die Antwort @[Tim Gottschalk](287974) !
