Ermessensfehlgebrauch (Fall 1: Zweckverfehlung)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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A ist zum ersten Mal versehentlich mit ihrem Auto 15 km/h zu schnell gefahren. Die zuständige Behörde B lädt sie daraufhin formell rechtmäßig gem. § 48 StVO zur Verkehrserziehung vor. A meint, B habe damit den Sinn und Zweck von § 48 StVO verfehlt und die Vorladung sei deswegen rechtswidrig.

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Einordnung des Falls

Ermessensfehlgebrauch (Fall 1: Zweckverfehlung)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Der Tatbestand von § 48 StVO ist erfüllt.

Ja, in der Tat!

Die (materielle) Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts setzt zunächst voraus, dass der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage erfüllt ist. § 48 StVO setzt voraus, dass jemand die Verkehrsvorschriften nicht beachtet hat. A ist 15 km/h zu schnell gefahren und hat damit gegen die Geschwindigkeitsvorschriften aus § 3 StVO verstoßen. Der Tatbestand der Norm ist erfüllt.
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2. § 48 StVO sieht auf Rechtsfolgenseite eine gebundene Entscheidung der Behörde vor.

Nein!

Ist ein gesetzlicher Tatbestand erfüllt, muss die Verwaltung handeln, sofern die Norm eine zwingende Rechtsfolge enthält (= gebundene Entscheidung). Ob es sich um eine gebundene Entscheidung handelt, erkennt man in den meisten Fällen am Wortlaut der Norm. Manchmal ist es aber nötig, die Norm in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Der Wortlaut von § 48 StVO indiziert zwar, dass es sich um eine gebundene Entscheidung handelt („ist“). Allerdings ist anerkannt, dass die Behörde nicht jeden Verkehrssünder vorladen muss. Dies wäre praktisch auch gar nicht möglich. Die Behörde kann entscheiden, ob eine Schulung mit Blick auf die Verkehrssicherheit nötig ist. Gerade die Vielzahl von möglichen Verkehrsverstößen begründet die Notwendigkeit eines Ermessensspielraums, um sachgerechte Entscheidungen im Einzelfall zu treffen.

3. Der Sinn und Zweck von § 48 StVO liegt darin, Verkehrssünder zu bestrafen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Kommt ein Ermessensfehlgebrauch im Sinne einer Zweckverfehlung in Betracht, muss zunächst festgestellt werden, was der Zweck der gesetzlichen Ermessenseinräumung ist. Dieser ist verknüpft mit dem Zweck der gesetzlichen Regelung. § 48 StVO soll dafür sorgen, dass ungenügende Kenntnisse des Straßenverkehrsrechts behoben und das Verantwortungsbewusstsein der Fahrer gestärkt wird. Das Ermessen muss also in diesem Sinne ausgeübt werden. Mit anderen Worten: Die Behörde muss sich fragen, ob bei dem Betroffenen entsprechende Defizite bestehen. A ist zum ersten Mal zu schnell gefahren. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sie allgemein ungenügende Kenntnisse des Verkehrsrechts hat oder unverantwortlich handelt. Vielmehr war es ein Versehen. Es liegt eine Zweckverfehlung vor.

4. Darüberhinaus ist die Vorladung auch unverhältnismäßig.

Ja, in der Tat!

Es können mehrere Ermessensfehler gleichzeitig einschlägig sein. Eine staatliche Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie (1) die Erreichung eines legitimen Zwecks verfolgt und die Maßnahme zur Erreichung des Zweckes (2) geeignet, (3) erforderlich und (4) angemessen ist. As Vorladung steht außer Verhältnis zu ihrem leichten, erstmaligen Verkehrsverstoß. Die Vorladung ist damit unangemessen und deswegen unverhältnismäßig. Die Argumentation zur Zweckverfehlung und zur Verhältnismäßigkeit ist im Prinzip dieselbe. Hier zeigt sich, dass die Ermessensfehler teilweise ineinander übergehen. Prüfe klausurtaktisch immer alle in Betracht kommenden Ermessensfehler, auch wenn die Bejahung eines Fehlers bereits reicht, um die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts annehmen zu können.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

B333

b333

21.12.2023, 15:19:23

Wieso geht man hier nicht von einer gebundenen Entscheidung aus? In der Norm steht ,,ist…vorzuladen‘‘. In einer vorherigen Aufgabe deutete dies auf eine gebundene Entscheidung hinaus.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.12.2023, 16:45:55

Hallo b333, berechtigte Nachfrage! Die Formulierung der Norm deutet in der Tat auf eine gebundene Entscheidung hin. Basierend auf dem Sinn und Zwecks der Norm geht die hM hier dagegen von einem Ermessensspielraum aus. Wir haben das im Text auch noch einmal präzisiert. Beste Grüße, Lukas

PAT

Patrick4219

3.2.2024, 08:48:56

In § 48 StVO steht zudem nicht "ist ... vorzuladen" sondern "IST auf Vorladung der Behörde VERPFLICHTET". Wann die Behörde eine Vorladung auszusprechen hat wird in § 48 StVO hingegen nicht geregelt, sodass ihr hier ein Entscheidungsermessen hinsichtlich des Ob der Vorladung zukommt. Ein super Beispiel dafür, dass man Normen immer sehr genau lesen muss. Gute Auswahl liebes JF-Team 👍🏻

WAY

WayneEnterprise

14.7.2024, 10:23:43

@[Patrick4219](231635) hat da vollkommen recht. Das sollte bitte auch in dem Lösungshinweis betont werden, weil dieser sonst auch den falschen Eindruck erweckt, dass die Norm überhaupt etwas zum Ermessen der Behörde sagen würde, was sie aber ihrem Wortlaut nach eindeutig nicht tut. @[Lukas Mengestu](221887)


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