Gegenläufige Betriebliche Übung

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Klassisches Klausurproblem

Fünf Jahre in Folge hat U hat ihren Mitarbeitern €250 Weihnachtsgeld gezahlt. Der Wortlaut der Arbeitsverträge sieht dies nicht vor. Aufgrund der Covid-19-Krise zahlt U 2020, 2021, 2022 nur noch €100. Da die Pandemie vorbei ist, wollen die Mitarbeiter dies 2023 nicht mehr akzeptieren.

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Einordnung des Falls

Gegenläufige Betriebliche Übung

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. U hat zunächst eine betriebliche Übung auf Auszahlung des Weihnachtsgeldes iHv €250 begründet.

Ja!

Einer betrieblichen Übung ist ein regelmäßig wiederholtes und gleichförmiges Verhalten des Arbeitgebers, welches nicht gegen zwingendes Recht verstößt, und aus dem die Arbeitnehmer schließen dürfen, dass der Arbeitgeber sich für die Zukunft binden will. Ist sie entstanden, so hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf die Fortführung des Verhaltens.U hat fünfmal in Folge vorbehaltlos €250 Weihnachtsgeld gewährt und damit eine betriebliche Übung begründet.
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2. Kann sich U ohne weitere Voraussetzungen einseitig von der betrieblichen Übung wieder lösen?

Nein, das ist nicht der Fall!

Arbeitgeber können eine entstandene betriebliche Übung (1) nur bei wirksamer Vereinbarung eines Widerrufsvorbehalts einseitig widerrufen (mehr dazu in der nächsten Session). Fehlt es daran, so ist eine einseitige Beendigung nur unter den erweiterten Voraussetzungen einer (2) Änderungskündigung (=Beendigung des Vertrags mit betrieblicher Übung + Angebot eines Arbeitsvertrags ohne betriebliche Übung) zulässig. Theoretisch möglich ist auch (3) der Abschluss eines Änderungsvertrags mit jedem einzelnen Arbeitnehmer.Da beim Änderungsvertrag die Zustimmung jedes einzelnen Arbeitnehmers notwendig ist, ist dies in der Praxis wenig praktikabel.Kollektivrechtlich kommt nach der Rechtsprechung des BAG schließlich noch (4) der Abschluss einer insgesamt günstigeren Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat (§ 87 f. BetrVG) in Betracht.

3. Da U aber dreimal in Folge lediglich €100 Weihnachtsgeld ausgezahlt hat, hat sich die betriebliche Übung auf diesen Betrag reduziert.

Nein, das trifft nicht zu!

Nach der früheren Rechtsprechung des BAG war es zulässig, dass er Arbeitgeber (ausdrücklich oder konkludent) eine bestehende betriebliche Übung beendet und durch eine andere Regelung ersetzt (=gegenläufige betriebliche Übung). Nahmen die Arbeitnehmer die neue Leistung wiederholt widerspruchslos entgegen, so kam es zum Verlust des ursprünglichen Anspruchs.Mit dem Inkrafttreten des § 308 Nr. 5 BGB (1.1.2002) gab das BAG diese Rechtsprechung auf. Denn auch bei der Änderungserklärung des Arbeitgebers handele es sich um AGB (§ 305 BGB), welche der Inhaltskontrolle der §§ 307ff. BGB unterfiele. § 308 Nr. 5 BGB verbiete aber die Fiktion einer (Annahme-) Erklärung des Verbrauchers/Arbeitnehmers durch bloße Annahme der Leistung.Trotz der wiederholten Auszahlung des reduzierten Weihnachtsgelds, bleibt der Anspruch der Belegschaft auf das Weihnachtsgeld in voller Höhe bestehen.

4. Muss U den Mitarbeiterinnen 2023 €250 Weihnachtsgeld zahlen?

Ja!

Ist die betriebliche Übung entstanden und nicht wirksam beendet worden, so hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf die Fortführung des Verhaltens.Die betriebliche Übung ist vorbehaltlos gewährt worden. Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen für eine Änderungskündigung gegenüber der gesamten Belegschaft bestehen, liegen nicht vor. Da eine gegenläufige betriebliche Übung wegen des Verstoßes gegen § 308 Nr. 5 BGB nicht mehr zulässig ist, muss U den Mitarbeiterinnen das volle Weihnachtsgeld für 2023 zu zahlen.Auch für die vergangenen Jahre steht den Mitarbeiterinnen grundsätzlich zudem noch ein Anspruch für die verbleibenden €150 zu.In der Praxis werden regelmäßig kurze Ausschlussfristen vereinbart (idR 3 Monate), um lange zurückreichende Forderungen zu vermeiden. Macht eine Partei innerhalb dieser Frist einen bestehenden Anspruch nicht geltend, so verfällt er.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DAV

David.

11.8.2023, 12:09:08

Handelt es sich dann bei der Ausschlussfrist um ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis, womit eine Kondiktion, im Gegensatz zum konstitutiven Schuldanerkenntnis, ausgeschlossen ist?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.8.2023, 15:04:25

Hallo David, bei der Ausschlussfrist handelt es sich nicht um ein Schuldanerkenntnis. Unter einem deklaratorischen Schuldanerkenntnis versteht man einen Vertrag, der im Unterschied zum sog. konstitutiven Schuldanerkenntnis den in Frage stehenden Anspruch nicht auf eine neue Anspruchsgrundlage hebt, sondern diesen Anspruch unter Beibehaltung des Anspruchsgrundes dadurch verstärkt, daß er ihn Einwänden des Anspruchsgegners gegen den Grund des Anspruchs entzieht. Eine Ausschlussfrist bewirkt dagegen nicht die Verstärkung, sondern das Erlöschen des Anspruchs. Mit Ablauf der Ausschlussfrist erlischt der entsprechende Anspruch und kann folglich nicht mehr geltend gemacht werden. Ich hoffe, jetzt ist es etwas klarer geworden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

PIA

piaplt

20.8.2023, 14:28:38

Müsste 308 Nr. 5 BGB dann nicht auch dazu führen, dass man hinsichtlich des Entstehens der betrieblichen Übung nicht von einer Annahme nach 151 BGB (Vertragstheorie) ausgehen kann? Oder greift das nicht, weil es für den Arbeitnehmer nicht nachteilig ist?

LELEE

Leo Lee

23.8.2023, 11:31:15

Hallo piaplt, das ist ein sehr guter Gedanke! Beachte allerdings, dass - abgesehen von der fehlenden Nachteilhaftigkeit - § 151 BGB eine Willenserklärung NICHT FINGIERT (darauf kommt es jedoch an bei § 308 Nr. 5 BGB). § 151 BGB geht vielmehr davon aus, dass eine Willenserklärung bereits vorliegt, deren Zugang jedoch entbehrlich ist. Die Lösung nach § 151 BGB in diesem Kontext würde also bedeuten, dass wir nicht die Annahme durch die Arbeitnehmer fingieren, sondern auf deren Annahme (die dann ihrerseits vorliegt) verzichten. Hierzu kann ich die Lektüre von MüKo-BGB, 9. Auflage, Busche § 151 Rn. 2 sehr empfehlen :). Liebe Grüße - für das Jurafuchsteam - Leo

KR

Krümelinchen

26.2.2024, 21:46:46

Hallo. in 2023 haben die Mitarbeiter Anspruch auf 250€ Weihnachtsgeld. Die betriebliche Übung wurde auf 250€ begründet. Die dreimalige Auszahlung von nur 100€ ändert daran nichts. Haben die Mitarbeiter dann auch noch rückwirkend den Anspruch auf die vollen 250€ (also für die Jahre, wo es nur 100€ gab)? Danke und viele Grüße

Uncle Ruckus

Uncle Ruckus

13.5.2024, 21:22:07

Im Kasten steht doch „VERTIEFUNG Auch für die vergangenen Jahre steht den Mitarbeiterinnen grundsätzlich zudem noch ein Anspruch für die verbleibenden €150 zu.“

BE

Bioshock Energy

1.4.2024, 12:07:15

Verstehe ich das richtig, dass also auch

Realakt

e (wie etwa das Auszahlen von Geld) AGB darstellen können? Ich finde es schwierig hier unter den AGB-Begriff zu subsumieren, gerade unter das Merkmal vorformulierte Vertragsbedingungen. Das alles wirkt für mich etwas ungewohnt weil ich gedanklich bei AGB immer an etwas schriftliches und vorformuliertes denke.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.4.2024, 11:01:54

Hallo Bioshock Energy, hier musst Du tatsächlich etwas differenzieren. Der BGH wendet bei der betrieblichen Übung die "Vertragstheorie" an, d.h. ein wiederholtes tatsächliches Handeln (z.B. Auszahlung des Weihnachtsgeldes) stellt ein Vertragsänderungsangebot an die Mitarbeiter dar. Insofern liegt eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung vor. Gleiches gilt dann auch im umgekehrten Fall, wenn die bisherige betriebliche Übung einer vorbehaltlosen Gratifikationszahlung beendet werden und durch eine Leistung ersetzt werden soll, auf die in Zukunft kein Rechtsanspruch mehr besteht (Freiwilligkeitsvorbehalt). Auch hierbei handelt es sich um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung, die deshalb anhand des AGB-Rechts (§§ 305 ff. BGB) zu prüfen ist (vgl. BAG, Urteil vom 18.03.2009 - 10 AZR 281/08 RdNr. 20 = https://openjur.de/u/171637.html). Ich hoffe, jetzt ist es noch etwas klarer geworden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.4.2024, 11:02:31

@[Merle_Breckwoldt](241588)

Uncle Ruckus

Uncle Ruckus

13.5.2024, 21:25:15

Wieso nimmt man bei einer positiven betrieblichen Übung eine konkludente Annahme des AN nach § 151 1 an, die zwar erklärt wird aber nicht zugehen muss, und bei der gegenläufigen widerspruchslosen Annahme der Leistung nicht, sondern eine unerlaubte Fiktion nach § 308 Nr. 5 ?


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