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Fall zu den Funktionen des Schmerzensgeldes (BGH, Urteil vom 8.2.2022 – VI ZR 409/19): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

Fall zu den Funktionen des Schmerzensgeldes (BGH, Urteil vom 8.2.2022 – VI ZR 409/19): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration zum Fall zu den Funktionen des Schmerzensgeldes (BGH, Urteil vom 8.2.2022 – VI ZR 409/19): Eine Ärztin steht am Sarg ihres Patienten und denkt "Ich wolle doch nur helfen".

O wird ins Krankenhaus eingeliefert. Wegen eines schuldhaften Behandlungsfehlers der Ärztin A erleidet O abends Kammerflimmern und einen ersten Herzstillstand; am nächsten Morgen einen zweiten, an dem er verstirbt. E – Ehefrau und Alleinerbin des O – verlangt von der Klinik Schmerzensgeld aus übergegangenem Recht.

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Einordnung des Falls

Der BGH hatte darüber zu entscheiden, ob Ehefrau und Alleinerbin nach dem Tod ihres Ehemanns aufgrund eines schuldhaften Behandlungsfehlers durch eine Ärztin Schadensersatz verlangen kann. Die schuldhafte ärztliche Fehlbehandlung stellt eine von der Klinik zu vertretende Pflichtverletzung dar (§§ 630a, 280 Abs. 1 S. 1 BGB). Dieser Anspruch entstand durch die Fehlbehandlung noch zu Lebzeiten des O. Der einmal entstandene Anspruch ist infolge des Todes des O auf die E im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergegangen (§ 1922 Abs. 1 BGB).

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist durch die fehlerhafte Behandlung zugunsten des O dem Grunde nach ein Schadensersatzanspruch entstanden? Ist dieser nach dessen Tod auf E übergegangen (§§ 1922 Abs. 1, 630a, 280 Abs. 1 S. 1 BGB)?

Ja, in der Tat!

Die schuldhafte ärztliche Fehlbehandlung stellt eine von der Klinik zu vertretende Pflichtverletzung dar (§§ 630a, 280 Abs. 1 S. 1 BGB). Dieser Anspruch entstand durch die Fehlbehandlung noch zu Lebzeiten des O. Der einmal entstandene Anspruch ist infolge des Todes des O auf die E im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergegangen (§ 1922 Abs. 1 BGB). Achtung: Auch Schmerzensgeldansprüche sind vererblich. Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise bei Ansprüchen auf Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsverletzungen aus § 823 Abs. 1 BGB iVm Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG
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2. Kann bei der Verletzung von Körper oder Leben der Verletzte auf Rechtsfolgenseite billige Entschädigung in Geld verlangen (§ 253 BGB)?

Ja!

Nach der gesetzlichen Konzeption der §§ 249ff. BGB werden primär Vermögensschäden ersetzt. Nichtvermögensschäden sind nur in den durch das Gesetz eng umgrenzten Fällen ersetzbar (§ 253 Abs. 1 BGB). Bei Schadensersatzansprüchen wegen Körperverletzung ist das Schmerzensgeld direkt in § 253 Abs. 2 BGB angeordnet. Weitere gesetzliche Anordnungen finden sich in u.a. in § 651n Abs. 2 BGB, § 11 S. 2 StVG, § 8 S.2 ProdHaftG..

3. Richtet sich die Höhe des Schmerzensgeldes nach der Schmerzensgeldverordnung?

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 253 Abs. 2 BGB gewährt dem Verletzten eine „billige Entschädigung in Geld“. Welche Entschädigung „billig“ ist, liegt im Ermessen des Gerichts (§ 287 Abs. 1 ZPO). Eine Schmerzensgeldverordnung gibt es nicht. Wesentliche Bemessungsgrundlage für die Höhe des Schmerzensgeldes sind zunächst dessen zwei Funktionen: Ausgleichsfunktion und Genugtuungsfunktion (sog. Doppelfunktion des Schmerzensgeldes). Bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen kommt als drittes noch die Präventionsfunktion hinzu.

4. Ist im Rahmen der Ausgleichsfunktion das von O erlittene Leid zu berücksichtigen?

Ja, in der Tat!

Im Rahmen der Ausgleichsfunktion soll das Schmerzensgeld Ausgleich für das erlittene Leid und die verlorene Lebensfreude bieten und hat sich daher in erster Linie an Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen zu orientieren. Hier waren die negativen und miterlebten Auswirkungen des Kammerflimmerns und des Herzinfarkts zu berücksichtigen. Anspruchsmindernd war zu berücksichtigen, dass O bereits in den frühen Morgenstunden des Folgetages verstarb, sodass die verursachten zusätzlichen Schmerzen von verhältnismäßig kurzer Dauer waren. Auf dieser Grundlage hielt das Berufungsgericht €2.000 für angemessen.

5. Bezweckt die Genugtuungsfunktion die Abschreckung des Schädigers vor weiteren Rechtsgutsverletzungen?

Nein!

Das Schmerzensgeld soll nicht nur Ausgleich bieten, sondern zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet (Genugtuungs- oder Sühnefunktion). Durch die Genugtuungsfunktion wird insbesondere der Verschuldensgrad des Schädigers in die Gesamtabwägung einbezogen. Bei verschuldensunabhängiger Haftung spielt Genugtuung daher keine, bei vorsätzlichen und grob fahrlässigen Verletzungen aber eine besondere Rolle. In der Literatur wird die Genugtuungsfunktion teilweise als „emotionale Differenzhypothese“ bezeichnet.

6. Ist im Rahmen der Arzthaftung die Genugtuungsfunktion irrelevant, weil dem Arzt an einer bestmöglichen Behandlung des Patienten gelegen ist und er ihm helfen und nicht Schaden zufügen will?

Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Auch wenn bei der ärztlichen Behandlung das Bestreben im Vordergrund stehe, dem Patienten zu helfen, stelle es dennoch einen wesentlichen Unterschied dar, ob dem Arzt grobes – möglicherweise die Grenze zum bedingten Vorsatz berührendes – Verschulden zur Last falle oder ob ihn nur ein geringfügiger Schuldvorwurf treffe (RdNr. 13). Diese Aussage ist der Kern dieser Entscheidung. Anders hatte dies noch das Berufungsgericht gesehen.

7. Liegt grobe Fahrlässigkeit immer dann vor, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist?

Nein, das trifft nicht zu!

Bei „groben Behandlungsfehlern“ iSd § 630h Abs. 5 S. 1 BGB wird die Kausalität des Behandlungsfehlers für die eingetretene Verletzung vermutet. Gemeint sind Fehler, die dem behandelnden Arzt nach medizinischen Erkenntnissen schlechterdings nicht unterlaufen dürfen. BGH: Grobe Fahrlässigkeit liege nicht schon vor, wenn dem Arzt ein grober Behandlungsfehler unterläuft. Er sei nicht mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen noch habe er Indizwirkung. Denn grobe Fahrlässigkeit verlange einen auch subjektiv nicht entschuldbaren Sorgfaltsverstoß. Die subjektive Seite sei aber für den groben Behandlungsfehler nicht relevant (RdNr. 15)
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