Strafrecht

Examensrelevante Rechtsprechung SR

Entscheidungen von 2021

Kriminalpolitisch fragwürdige Abgrenzung: Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr oder doch nur Sachbeschädigung – Jurafuchs

Kriminalpolitisch fragwürdige Abgrenzung: Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr oder doch nur Sachbeschädigung – Jurafuchs

9. Mai 2023

4,7(16.730 mal geöffnet in Jurafuchs)

[...Wird geladen]

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs-Illustration: T wirft einen kleinen Stein von einer Brücke auf ein fahrendes Auto.

T wirft von einer Autobahnbrücke Steinchen auf das fahrende Auto des O. Er hält es aufgrund der Steingröße nicht für möglich, dass die Frontscheibe zersplittern oder O die Kontrolle über das Auto verlieren könnte. T trifft, wie gewollt, nur das Autodach und verursacht einen erheblichen Sachschaden. O fährt uneingeschränkt weiter.

Diesen Fall lösen [...Wird geladen] der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.

...Wird geladen

Einordnung des Falls

Kriminalpolitisch fragwürdige Abgrenzung: Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr oder doch nur Sachbeschädigung – Jurafuchs

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Könnte T sich wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr strafbar gemacht haben, indem er die Schottersteine von der Autobahnbrücke auf das Auto des O warf (§ 315b Abs. 1 Nr. 1, 3 StGB)?

Ja, in der Tat!

§ 315b StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt , das sowohl die Sicherheit des Straßenverkehrs, als auch die Individualrechtsgüter Leib und Leben, sowie fremde Sachen von bedeutendem Wert schützen soll. Voraussetzung ist ein (1) Eingriff (Nr. 1-3), der (2) für die Sicherheit des Straßenverkehrs abstrakt gefährlich ist und zu einer (3) konkreten Gefährdung eines der geschützten Rechtsgüter führt. In der Systematik der Straßenverkehrsdelikte soll §315b StGB zuvorderst verkehrsfremde Eingriffe kriminalisieren. Inneineingriffe werden nach h.M. nur bei sog. Pervertierung des Straßenverkehrs für verkehrsfremde Zwecke umfasst.
Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und tausende Fälle wie diesen selbst lösen.
Erhalte uneingeschränkten Zugriff alle Fälle und erziele Spitzennoten in
Jurastudium und Referendariat.

2. Hat er ein Fahrzeug beschädigt, indem T die Schottersteine auf das Auto warf (§ 315b Abs. 1 Nr. 1 StGB)?

Ja!

Beschädigung ist jede Einwirkung auf eine Sache, durch die ihre stoffliche Unversehrtheit nicht unerheblich verletzt wird (Substanzverletzung) oder ihre Brauchbarkeit nicht unerheblich beeinträchtigt wird (Brauchbarkeitsminderung). Durch das Auftreffen der Steine auf das Autodach hat T einen erheblichen Sachschaden hervorgerufen (Substanzverletzung). Für die Beschädigung ist es irrelevant, dass dies auf die Fahrtauglichkeit des Autos keinen Einfluss hat.

3. Hat T durch das Werfen der Steine auf das Autodach einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr vorgenommen (§ 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB)?

Genau, so ist das!

Der ähnliche, ebenso gefährliche Eingriff umfasst alle Eingriffe in den Straßenverkehr, die unmittelbar auf einen Verkehrsvorgang einwirken und ihrer Intensität und Gefährlichkeit den Tatmodalitäten in Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 1 Nr. 2 gleichwertig sind.. Das Werfen der Schottersteine auf das fahrende Auto ist eine unmittelbare Einwirkung auf den Verkehrsvorgang, die eine den übrigen Tatmodalitäten ähnliche Gefahr inne hat.

4. T hat durch das Werfen der Steine die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt (§ 315b Abs. 1 StGB).

Ja, in der Tat!

Alle Tatmodalitäten des § 315b Abs. 1 Nr. 1-3 StGB müssen zunächst abstrakt dazu geeignet sein, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu beeinträchtigen. Dies ist der Fall, wenn der Eingriff sich störend auf Verkehrsvorgänge auswirken kann und so zu einer Steigerung der allgemeinen Verkehrsgefahr führt. Auch kleine Steine sind zumindest abstrakt dazu geeignet, erhebliche Schäden an dem Auto hervorzurufen und den Fahrer abzulenken, sodass T durch das Werfen der Steine die normale Verkehrsgefahr erhöht hat.

5. Genügt für den Taterfolg des § 315b Abs. 1 StGB jeglicher Schadens- oder Gefahreneintritt?

Nein!

Die Tathandlung muss nicht nur irgendeine, sondern den Eintritt einer verkehrsspezifischen Gefahr bewirken. Das heißt, dass die eingetretene Gefahr zumindest auch auf die Wirkungsweise der für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen sein muss.

6. Kam es infolge des Steinwurfs zu einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben des O (§ 315b Abs. 1 Hs. 2 StGB)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Die verkehrsspezifische Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen liegt vor, wenn es durch die Tathandlung zu einem Beinahe-Unfall kommt. Rückblickend betrachtet, hing die Gefahrverwirklichung nur noch vom Zufall ab, ein unbeteiligter Beobachter würde sagen, dass „das gerade noch einmal gut gegangen ist“. Der O konnte trotz des Aufpralls der Steine unbeeinträchtigt weiterfahren, sodass es in der Folgendes Steinwurfs nicht zu einer kritischen Verkehrssituation kam.

7. Hat T infolge des Steinwurfs eine fremde Sache von bedeutendem Wert gefährdet (§ 315b Abs. 1 Hs. 2 StGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Führt die Tathandlung unmittelbar zu einer konkreten Gefahr oder Schädigung, liegt eine verkehrsspezifische Gefahr nur vor, wenn die Gefahrverwirklichung auf die besondere Dynamik eines fahrenden Fahrzeuges zurückzuführen ist. Der Schaden ist hier nicht auf die Fortbewegungskraft des Autos zurückzuführen. Die Steine kommen von oben, sodass es keinen Unterscheid zu einer Sachbeschädigung an einem abgestellten Auto gibt. Der BGH hat in anderen Fällen, in denen der Täter Gegenstände von einer Autobahnbrücke wirft, eine verkehrsspezifische Gefahr bejaht. Der Unterschied liegt hier darin, dass T nicht die Frontscheibe sondern, wie von ihm gewollt, nur das Dach trifft. Dadurch spielt die Eigendynamik des Fahrzeuges keine Rolle für den Schadenseintritt.

8. Hat T den Qualifikationstatbestand der absichtlichen Herbeiführung eines Unglücksfalles verwirklicht (§ 315b Abs. 3, § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB)?

Nein!

Der BGH hat sich zum Qualifikationstatbestand geäußert, obwohl das Grunddelikt schon nicht vorlag. In einer Klausur müsstest Du die Qualifikation nur bei Verwirklichung des Grunddelikts prüfen. Der Qualifikationstatbestand liegt vor, wenn der Täter mit zielgerichtetem Willen handelt, durch die von ihm bewirkte Gefahrverwirklichung einen Unglücksfall herbeizuführen. Notwendig ist, dass sich nach der Vorstellung des Täters eine verkehrsspezifische Gefahr verwirklicht (RdNr. 18 f.). Der vorgestellte Schaden am Dach sollte nicht auf die für Verkehrsvorgänge typischen Fortbewegungskräfte zurückzuführen sein, sondern auf den Steinwurf. Er unterscheidet sich insofern nicht von einer Sachbeschädigung eines abgestellten Fahrzeugs. Auch wenn T absichtlich hinsichtlich der Sachbeschädigung handelte, so fehlt es an der verkehrsspezifischen Gefahr.

9. Hat T sich zumindest wegen Sachbeschädigung strafbar gemacht, indem er die Schottersteine auf das Autodach fallen ließ (§ 303 Abs. 1 StGB)?

Genau, so ist das!

Der objektive Tatbestand der Sachbeschädigung ist erfüllt, wenn der Täter eine fremde Sache beschädigt oder zerstört. Eine Beschädigung ist jede Einwirkung auf eine Sache, durch die ihre stoffliche Unversehrtheit nicht unerheblich verletzt wird (Substanzverletzung) oder ihre Brauchbarkeit nicht unerheblich beeinträchtigt wird (Brauchbarkeitsminderung). T hat einen erheblichen Sachschaden an dem Autodach hervorgerufen (Substanzverletzung). Für die Beschädigung ist es irrelevant, dass dies auf die Fahrtauglichkeit des Autos keinen Einfluss hat. Dies geschah auch vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft.
Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen
Jurafuchs
Eine Besprechung von:
Jurafuchs Brand
facebook
facebook
facebook
instagram

Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!


Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

AND

Andreas123

12.5.2022, 22:50:35

Der Fahrer eines PKW der sich auf einer Autobahn befindet und dementsprechend zügig fährt und plötzlich und unerwartet von einem Steinchen getroffen wird, wird mit Sicherheit einen riesen Schrecken davon tragen. Die Warscheinlichkeit das man dann das Lenkrad verreißt ist auf jeden fall möglich. Und von daher ist hier nach meiner Meinung von einer vorsätzlicher versuchten Körperverletzung auszugehen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

13.5.2022, 09:30:59

Hallo Andreas123, vielen Dank für Deinen Hinweis! Für die Annahme einer versuchten Körperverletzung bedürfte es eines entsprechenden Tatentschlusses des Täters. Hierbei kommt es maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls an. Mit den von Dir genannten Gründen ließe sich durchaus vertreten, dass der Täter hier zumindest mit bedingtem

Vorsatz

handelte, also billigend in Kauf nahm, einen etwaigen Körperverletztungserfolg herbeizuführen. In dem konkreten Fall war die Strafkammer des LG hingegen zu einem anderen Ergebnis gekommen und hatte sowohl Tötungs- als auch Verletzungs

vorsatz

verneint. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Edward Hopper

Edward Hopper

3.5.2023, 22:38:01

Sähe es anders aus wenn der Schaden gerade durch die erhöhte Geschwindigkeit des Fahrzeugs groß ausgefallen ist?

Nora Mommsen

Nora Mommsen

4.5.2023, 11:50:22

Hallo Edward Hopper, danke für deine Frage. Entscheidend ist, ob dies gerade die Verkehrsdynamik zu dem Schadenseintritt geführt hat. Sollte der Schaden gerade aufgrund der Geschwindigkeit des Autos eingetreten sein, was bei dem Wurf aufs Dach schwer vorstellbar ist, wäre diese Voraussetzung bejaht. Dann wäre es gerade die Dynamik des Straßenverkehrs die zum Schadenseintritt geführt hätte, ähnlich wie zwei Verkehrsteilnehmer die sich aufgrund der Geschwindigkeiten beschädigen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

MUS

MusterschüLAW

9.6.2024, 20:44:02

Hallo Nora, wird der Schaden denn nicht zumindest größer oder tritt überhaupt erst dadurch ein, dass sich das Fahrzeug bewegt? Physikalisch betrachtet wirkt hier durchaus eine Kraft, die durch die Fahrdynamik entsteht. Ggf. wäre noch die Dachneigung zu bestimmen, aber ich hätte die Voraussetzung bejaht.

IS

IsiRider

9.7.2023, 10:31:24

Ein erheblicher Sachschaden müsste doch von erheblichen Wert sein oder wo ist mein Denkfehler?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

12.7.2023, 16:46:27

Hallo IsiRider, der maßgebliche Aspekt ist hier nicht der Schaden am Dach des Autos, sondern die "

verkehrsspezifische Gefahr

". Hierfür ist nach § 315b Abs. 1 Hs. 2 StGB eine

verkehrsspezifische Gefahr

notwendig. Der Steinwurf hat nicht dazu geführt, dass der Fahrer hier Ausweichbewegungen gemacht hat und dadurch (also durch die Fortbewegungskraft des Autos) das Auto gefährdet wurde. Ich hoffe, jetzt ist es klarer :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

IS

IsiRider

12.7.2023, 16:52:54

Das habe ich verstanden. Der Satz zum Schaden hatte mich verwirrt. Am besten gehe ich nochmal durch, vielleicht verstehe ich dann den Zusammenhang. Danke dennoch.

KO

Konrad1522

18.7.2023, 20:52:47

Wieso wird hier der Auffangtatbestand des § 315b I Nr. 3 geprüft wenn schon die speziellere Nr. 1 einschlägig ist?

A-MUC

A-MUC

1.9.2023, 19:20:29

Das fand ich auch nicht überzeugend. Ich vermute aus didaktischen Gründen, aber ich fände dann einen erläuternden Satz dazu gut.


Jurafuchs 7 Tage kostenlos testen und mit 15.000+ Nutzer austauschen.
Kläre Deine Fragen zu dieser und 15.000+ anderen Aufgaben mit den 15.000+ Nutzern der Jurafuchs-Community

Weitere für Dich ausgwählte Fälle

Jurafuchs Illustration: T nimmt das Handy seines Opfers O an sich, der dies aus Angst vor weiteren Schlägen nicht verhindert.

Kein Finalität bei Ausnutzen des Nötigungswirkung - Jurafuchs

Der BGH beschäftigt sich hier mit der Beurteilung der Finalität zwischen der Wegnahmehandlung und dem Einsatz des Nötigungsmittels. Der Täter muss durch eine zumindest konkludent aktualisierte Drohung die Nötigungswirkung aufrechterhalten und diese zur Wegnahme ausnutzen. Hieran fehle es, wenn der Täter lediglich eine fortwirkende Einschüchterung vorangegangener Schläge zur Wegnahme ausnutze.

Fall lesen

Jurafuchs Illustration: Ein Feuerwehrmann wird von einer Explosion eines Rohrs weggeschleudert.

Objektive Zurechnung bei Berufsrettern - Jurafuchs

Problematisch bei dem hier vorliegenden Retter-Fall ist die objektive Zurechnung im Rahmen der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung. Konkret geht es um die Frage, ob sich eine fahrlässig herbeigeführte Gefahr im eingetretenen Erfolg objektiv zurechenbar niederschlägt, oder ob es sich um eine bewusste Selbstgefährdung der Berufsretter handelt, welche die objektive Zurechnung ausschließe. Eine objektive Zurechenbarkeit sei hier nach BGH gegeben, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schaffe, dass er ohne Mitwirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründe und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schaffe.

Fall lesen

Dein digitaler Tutor für Jura
Jetzt kostenlos testen