Referendariat

Die StA-Klausur im Assessorexamen

Das materielle Gutachten

Systematik: Beweisverwertungsverbot bei Fehlern im Ermittlungsverfahren (Abwägungslehre)

Systematik: Beweisverwertungsverbot bei Fehlern im Ermittlungsverfahren (Abwägungslehre)

22. November 2024

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V wird vorgeworfen, ihren Schwiegervater angefahren zu haben. Bei ihrer polizeilichen Vernehmung wird sie ohne Belehrung befragt und lässt sich dabei geständig ein. Als sie in der Hauptverhandlung ordnungsgemäß belehrt wird, macht sie von ihrem Schweigerecht Gebrauch.

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Einordnung des Falls

Systematik: Beweisverwertungsverbot bei Fehlern im Ermittlungsverfahren (Abwägungslehre)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Grundsätzlich können Angaben eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren auch dann im Prozess verwendet werden, wenn er sich dort auf sein Schweigerecht beruft (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO)?

Ja!

Zum Kern eines fairen Verfahrens gehört die Freiheit des Beschuldigten zu schweigen (Art. 6 EMRK, nemo-tenetur-Grundsatz). Daraus folgt aber nur, dass der Beschuldigte nicht zu Angaben verpflichtet werden kann. Sofern er freiwillig Angaben gemacht hat, bleiben diese grundsätzlich selbst dann verwertbar, wenn er später seine Haltung ändert (vgl. § 254 StPO). Achtung Verwechslungsgefahr! Beruft sich dagegen ein Zeuge erst später auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, so steht § 252 StPO grundsätzlich einer Verwertung sämtlicher früherer Aussagen entgegen! Dahinter steht die Wertung, dass der Zeuge stets vor einer Pflichtenkollision geschützt werden soll.
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2. Erfolgte die Beweisgewinnung im Ermittlungsverfahren gegen V rechtmäßig (§§ 163a Abs. 4 S. 1, 2, 136 Abs. 1 S. 2-6 StPO)?

Nein, das ist nicht der Fall!

Über den Verweis in § 163a Abs. 4 S. 2 StPO finden die Belehrungspflichten gegenüber dem Beschuldigten aus § 136 Abs. 1 S. 2-6 StPO auch im Ermittlungsverfahren Anwendung. Insbesondere ist der Beschuldigte vor einer Vernehmung über sein Schweigerecht zu informieren (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO).Da eine Belehrung vor Vs Vernehmung nicht stattgefunden hat, erfolgte die Beweiserhebung rechtsfehlerhaft.

3. Führt eine rechtswidrige Beweiserhebung stets dazu, dass die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse in der Hauptverhandlung unverwertbar sind (=Beweisverwertungsverbot)?

Nein, das trifft nicht zu!

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH führt ein Rechtsverstoß bei der Beweiserhebung nicht ohne Weiteres zur Unverwertbarkeit der dadurch erlangten Erkenntnisse (=unselbstständiges Beweisverwertungsverbot). Vielmehr bedarf es nach der von ihm entwickelten Abwägungslehre in jedem Fall der Abwägung des Interesse des Staates an der Tataufklärung gegen das Interesse des Bürgers an der Bewahrung seiner Rechtsgüter. Dabei sind zu berücksichtigen: • Schutzzweck der verletzten Vorschrift • Schwere der Tat • Intensität des Verdachts • Möglichkeit der rechtmäßigen Beweiserhebung (hypothetischer Ersatzeingriff) • Verschuldensvorwurf (gutgläubig, fahrlässig, vorsätzlich) • Schutzbedürfigkeit des Betroffenen Zugunsten des Beschuldigten ist insbesondere bei grob fahrlässiger Verkennung oder vorsätzlicher Missachtung der Rechtslage ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen. Das BVerfG billigt die Abwägungslehre explizit (NJW 2012, 907).

4. Dient die Belehrung über das Schweigerecht dem Schutz des Beschuldigten (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO)?

Ja!

Damit ein Verfahrensverstoß allerdings überhaupt zu einem unselbstständigen Beweisverwertungsverbot führen kann, muss zunächst der Rechtskreis des Beschuldigten betroffen sein. Sofern die verletzte Verfahrensvorschrift nur dem Schutz des Staates (§§ 54, 96 StPO) oder Dritten (§ 55 StPO) dient, scheidet ein Verwertunsgsverbot von vorneherein aus (=Rechtskreistheorie). Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur-Grundsatz) gehört zu den anerkannten Prinzipien des Strafprozesses. Er schützt das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten und ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Die Hinweispflicht dient der Wahrung dieses Rechte. Insoweit berührt der unterlassene Hinweis Vs Rechtskreis.

5. Führt der Verstoß im Ermittlungsverfahren in der Abwägung auch zu einem Beweisverwertungsverbot (§§ 163a Abs. 4 S. 1, 136 Abs. 1 S. 2 StPO)?

Genau, so ist das!

Nach der Abwägungslehre des BGH folgt aus einem Verfahrensverstoß ein (unselbstständiges) Beweisverwertungsverbot, wenn das Interesse des Bürgers an der Bewahrung seiner Rechtsgüter des Interesse des Staates an der Tataufklärung überwiegt.Das Schweigerecht stellt ein bedeutendes Verfahrensrecht der V dar. Dieses wird durch die fehlende Aufklärung gänzlich vereitelt, sodass hier ihr Interesse an einem staatlichen Verfahren gegenüber der staatlichen Aufklärungspflicht überwiegen.Nach Auffassung des BGH sollen die Angaben des nicht belehrten Beschuldigten nur in Ausnahmefällen verwertbar sein, zB wenn feststeht, dass er auch ohne Belehrung sein Recht zu schweigen gekannt hat.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FABY

Faby

24.3.2024, 18:59:09

In der Lerneinheit davor (Aussage des Beschuldigten erlangt durch Folter) wurde geschrieben, dass die Aussage eines Beschuldigten gegenüber der Polizei nicht verwendet werden darf, wenn der Beschuldigte seine Aussage widerruft oder in der Hauptverhandlung schweigt. In der Aufgabe hier dagegen wird gesagt, dass die Angaben verwertbar bleiben, selbst wenn der Beschuldigte seine Meinung ändert. Übersehe ich etwas oder werden in den beiden Lerneinheiten jeweils gegensätzliche Aussagen gemacht? :)

UMA

UmarHadel

10.4.2024, 23:54:33

Gemeint ist in der vorherigen Aufgabe, dass die geständige Einlassung über den Umweg der Vernehmung der Verhörsperson (als

Zeugen vom Hörensagen

) eingeführt werden kann. Dies hat eine beschränkte Beweiskraft, kann jedoch verwertet werden. Die geständige Einlassung selbst (also das Protokoll davon) kann nur in sehr engen Grenzen eingeführt werden (z.B § 254 I StPO bei einer Vernehmung durch den Ermittlungsrichter). Dies hat dann eine hohe Beweiskraft. Hier in der Aufgabe ging es darum ob ein umfassendes Verwertungsverbot besteht. In dem Fall könnte man auch nicht die Verhörsperson hören. Ich glaube die Aufgaben wurden so aufgespalten um die Unterschiede zu der Verwertbarkeit von Zeugenaussagen (insb. §

252 StPO

) aufzuzeigen. > dort ist es ja so wenn vorprozessual Aussage und im Prozess Verweigerung z.B. § 52 StPO, dann keinerlei Verwertung. > Ausnahmen dort nur : wenn

richterliche Vernehmung

, dann Richter als Vernehmungsperson (nicht Protokoll) > & wenn mit Einführen der Aussage einverstanden obwohl selbst nichts sagen will

CO

Con

10.10.2024, 12:04:25

Da ich denselben Fehler gemacht habe, habe ich mir beide Aufgaben noch einmal genauer angesehen: Frage im ersten Fall: Wenn die Beschuldigte im Prozess schweigt, darf die zuvor in einer polizeilichen Vernehmung abgegebene geständige Einlassung verlesen werden (§ 254 StPO)? Antwort: Nein, das ergibt sich eindeutig aus dem Wortlaut des § 254 Abs. 1 StPO. In der weiteren Erörterung wird dann auf die Möglichkeit eingegangen, einen Zeugen von

Hörensagen

zu hören. Frage im aktuellen Fall: Können grundsätzlich Angaben eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren auch dann im Prozess verwendet werden, wenn er sich dort auf sein Schweigerecht beruft (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO)? Antwort: Ja. „Zum Kern eines fairen Verfahrens gehört das Recht des Beschuldigten zu schweigen (Art. 6 EMRK, nemo-tenetur-Grundsatz). Daraus folgt jedoch lediglich, dass der Beschuldigte nicht gezwungen werden kann, Angaben zu machen. Hat er jedoch freiwillig Angaben gemacht, bleiben diese grundsätzlich selbst dann verwertbar, wenn er später seine Aussage verweigert (vgl. § 254 StPO).“ Unterschied zwischen beiden Fällen: Im ersten Fall wird explizit gefragt, ob die geständige Einlassung, die der Beschuldigte zuvor in einer polizeilichen Vernehmung abgegeben hat, im Prozess verlesen werden darf (Antwort: Nein, Argument: Wortlaut von § 254 StPO). Im aktuellen Fall hingegen wird allgemeiner gefragt, ob die im Ermittlungsverfahren gemachten Angaben des Beschuldigten im Prozess verwertet werden können, wenn er sich dort auf sein Schweigerecht beruft. Hier lautet die Antwort Ja, mit der Begründung, dass freiwillige Angaben weiterhin verwertbar bleiben (eben z.B. durch den Zeugen von

Hörensagen

).

dario.b

dario.b

10.11.2024, 21:04:09

Der Unterschied ist ganz einfach der, dass in der ersten Aufgabe der belehrte Beschuldigte zunächst aussagte und später schweigt/widerruft. In der zweiten Aufgabe fehlte die Belehrung, sodass die Angaben rechtswidrig erlangt wurden. 😌


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