Gestörte Gesamtschuld bei gesetzlicher Haftungsprivilegierung – Spielplatzfall


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs
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Klassisches Klausurproblem

Der zweijährige K fällt von der unzureichend gesicherten Rutsche eines Spielplatzes der Stadt B, als der stets fahrlässige Vater V einen Moment unaufmerksam ist. K verlangt von B Schadensersatz.

Einordnung des Falls

Gestörte Gesamtschuld bei gesetzlicher Haftungsprivilegierung – Spielplatzfall

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. K hat einen Anspruch gegen B aus § 823 Abs. 1 BGB.

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Genau, so ist das!

B verletzt ihre Verkehrssicherungspflichten und führt dadurch pflichtwidrig eine Körperverletzung des K herbei. Sie ist deshalb aus § 823 Abs. 1 zum Schadensersatz verpflichtet.

2. Der Anspruch des K ist um dessen eigenes Mitverschulden zu kürzen (§ 254 Abs. 1 BGB).

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Nein, das trifft nicht zu!

Ein Mitverschulden des Geschädigten setzt Zurechnungsfähigkeit voraus. Für diese gelten im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB die §§ 827, 828 BGB analog. Da der K aber erst 2 Jahre alt war, ist er nicht zurechnungsfähig (§ 828 I BGB analog). Sein Beitrag zum Unfall ist daher unbeachtlich.

3. Der Anspruch des K ist gemäß §§ 254 Abs. 2 S. 2, 278 BGB um das Mitverschulden des V zu kürzen.

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Nein!

Nach hM handelt es sich um eine Rechtsgrundverweisung. Voraussetzung für die Anwendung des § 278 S. 1 BGB ist daher, dass im Zeitpunkt der Schädigung ein Schuldverhältnis oder eine vergleichbare rechtliche Sonderverbindung zwischen Schädiger und Geschädigtem bestand. Die Benutzung des Spielplatzes begründet zwischen K und der Stadt nicht das für § 278 S. 1 erforderliche Sonderverhältnis. Es fehlt an den entsprechenden Willenserklärungen der Parteien. Mangels Schuldverhältnisses liegen die Voraussetzungen des § 278 S. 1 BGB nicht vor, sodass eine solche Zurechnung ausscheidet.

4. Eine Anspruchskürzung ist grundsätzlich auch nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld möglich.

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Genau, so ist das!

Ein Fall der gestörten Gesamtschuld liegt vor, wenn eine vertragliche oder gesetzliche Haftungsfreistellung bereits von vornherein verhindert, dass nach außen eine Gesamtschuld entsteht; wenn also einer von mehreren Schädigern aufgrund einer Privilegierung von der Haftung freigestellt ist. Liegen die Voraussetzungen der gestörten Gesamtschuld vor, kann es je nach Fallgruppe zu einer Anspruchskürzung kommen.Diese Konstellation darfst Du nicht übersehen! Fälle zur gestörten Gesamtschuld sind bei Prüfungsämtern und in der Uni sehr beliebt!

5. V haftet dem K nur aufgrund einer gesetzlichen Privilegierung nicht.

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Ja, in der Tat!

Als gesetzlicher Vertreter hat der V die Pflicht, im Wege der Aufsicht (elterliche Sorge, §§ 1626, 1631 Abs. 1 BGB) alle Gefahren von seinem minderjährigen Sohn K abzuwenden. Diese Sorgepflicht hat V durch seine Unaufmerksamkeit verletzt, weshalb K gegen seinen Vater V grundsätzlich Ansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB und aus § 1664 Abs. 1 BGB haben kann. Allerdings haften Eltern bei einer Verletzung der Sorgepflicht gem. § 1664 Abs. 1 BGB nur für die Missachtung der eigenüblichen Sorgfalt (§ 277 BGB, diligentia quam in suis). Die Sorgepflichtverletzung beruht auf Fahrlässigkeit, die für den B üblich ist. Er hat sich also seiner eigenüblichen Sorgfalt entsprechend verhalten. Wegen der Privilegierung des § 1664 Abs. 1 BGB haftet V daher nicht nach § 823 Abs. 1 BGB oder § 1664 Abs. 1 BGB und ist folglich von vornherien kein Gesamtschuldner iSv § 840 Abs. 1 BGB.

6. Weil ein Fall der gestörten Gesamtschuld vorliegt, haftet V dem K trotz der Privilegierung direkt im Außenverhältnis nach § 823 Abs. 1 BGB und § 1664 Abs. 1 BGB.

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Nein!

Im Rahmen der gestörten Gesamtschuld hängt die Rechtsfolge davon ab, aus welchem Grund die Haftung entfällt: Wegen einer vereinbarten Haftungsfreistellung oder wegen einer gesetzlichen Privilegierung. Nach hM haftet der privilegierte Schädiger dem Geschädigten jedoch unabhängig vom Rechtsgrund generell nicht im Außenverhältnis.Die Unterscheidung ist wichtig, da aus einer vertragliche Absprache keine unmittelbaren negativen Folgen für Dritte abgeleleitet werden dürfen (kein Vertrag zulasten Dritter)

7. Bei der hier vorliegenden gesetzlichen Privilegierung haftet die B dem K voll und kann nach hM keinen Regress bei V nehmen.

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Genau, so ist das!

Bei gesetzlichen Haftungsbeschränkungen des bürgerlichen Rechts (zB §§ 708, 1664, 1359) haftet der nicht privilegierte Schädiger nach hM im Außenverhältnis voll und kann auch im Innenverhältnis keinen Regress nehmen. Denn die haftungsrechtliche Privilegierung des gesetzlich privilegierten Schädigers soll nicht durch eine Heranziehung im Gesamtschuldnerausgleich unterlaufen werden. § 1664 Abs. 1 BGB hat gerade den Zweck, die Familie als Schicksalsgemeinschaft gegenüber außenstehenden Schädigern zu begünstigen. Ein Ausgleich über die gestörte Gesamtschuld würde daher dem Sinn und Zweck des § 1664 Abs. 1 BGB widersprechen. Die B haftet also dem K voll und kann bei V nicht anschließend Regress nehmen.

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Helena

Helena

15.12.2021, 13:40:38

Ich bin etwas verwirrt. Zwischen wem muss das Schuldverhältnis bestehen, damit die Zurechnung greift? Zwischen dm Schädiger und dem Geschädigten oder zwischen dem Geschädigten und dem gesetzlichen Vertreter?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

15.12.2021, 18:06:15

Hallo Helena, super Frage. Bei 3-Personenkonstellationen mache ich mir auch am liebsten eine kurze Skizze um den Überblick nicht zu verlieren :-). Gefragt war danach, ob K selbst ein Mitverschulden (§ 254) trifft. Da K als Zweijähriger aber nicht zurechnungsfähig ist (§ 828 Abs. 1 BGB analog) müsste ihm das Verhalten seines gesetzlichen Vertreters zurechenbar sein. Jetzt wird es tricky. § 278 BGB findet nur dann Anwendung, wenn bereits ein Schuldverhältnis besteht. Im Deliktsrecht kann man deshalb allenfalls eine Haftung nach § 831 BGB für Verrichtungsgehilfen begründen. Damit § 278 BGB herangezogen werden kann, müsste also zwischen der Stadt (Schädiger) und K (Geschädigtem) ein Schuldverhältnis bestehen. Nur dann könnte über §§ 254 Abs. 2 S. 2, 278 BGB ein Verschulden des gesetzlichen Vertreters zugerechnet werden. Ein solches besteht zum Zeitpunkt der Schädigungshandlung aber (noch) nicht. Insofern scheidet die Zurechnung aus. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CR7

CR7

23.4.2023, 14:14:32

Aber die Zurechnung scheitert doch hier auch daran, dass denn V doch kein Verschulden trifft, da er nach § 277 BGB wegen seiner ständigen Fahrlässigkeit nicht haftet, oder?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

24.4.2023, 12:16:56

Hallo (af), auf die Haftungsprivilegierung des Vaters gegenüber seinem Kind, kann das Kind sich grundsätzlich nicht gegenüber Dritten berufen. Denn Verschulden gesetzlicher Vertreter muss es sich zurechnen lassen, wie eigenes Verschulden. Da es für Vorsatz und jegliche Fahrlässigkeit haftet, wäre über §§ 254 Abs. 2 S. 2, 278 BGB das Verhalten des Vaters auch dann zu berücksichtigen, wenn er stets fahrlässig handelt. Anders ist dies hier nur, weil kein Schuldverhältnis zwischen K und B bestand, sodass § 278 BGB überhaupt nicht zum Zuge kommt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

RA

Ralu

13.6.2023, 19:42:43

Könnte mir jemand erklären, wo im Gutachten ich den Streit darstelle?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

16.6.2023, 16:09:28

Hallo Ralu, nachdem Du die Anspruchsvoraussetzungen des § 823 BGB geprüft hast, musst Du den Haftungsumfang thematisieren. An dieser Stelle sprichst Du dann sowohl die Frage an, ob ein Mitverschulden zu einer Kürzung des Anspruchs führt, als auch die Frage der gestörten Gesamtschuld. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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