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Anspruch eines verletzten Kleinkindes gegen seine Eltern wegen Aufsichtspflichtverletzung

Anspruch eines verletzten Kleinkindes gegen seine Eltern wegen Aufsichtspflichtverletzung

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

V besucht mit seiner 3-jährigen Tochter T ein Reitturnier. Auf dem Gelände steht ein Pferdeanhänger. Darin ist das Pferd des Freizeitreiters R angeleint. Wegen Hitze ist die Anhängertür geöffnet. Während sich V mit anderen Besuchern unterhält, steigt T in den Anhänger, wo das Pferd erschrickt und sie verletzt.

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Einordnung des Falls

Anspruch eines verletzten Kleinkindes gegen seine Eltern wegen Aufsichtspflichtverletzung

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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. R zahlt Schadensersatz und Schmerzensgeld an T. Darauf hatte T auch einen Anspruch gegen ihn (§§ 833 S. 1, 253 Abs. 2 BGB).

Genau, so ist das!

Der Anspruch aus § 833 S. 1 BGB setzt voraus: (1) Rechtsgutverletzung; (2) Verursachung durch ein Tier; (3) Verwirklichung einer spezifischen Tiergefahr; (4) kausaler Schaden; und (5) Haltereigenschaft des Schuldners. Außerdem darf kein Ausschlussgrund nach § 833 S. 2 BGB vorliegen. Das von R gehaltene Pferd hat kausal eine Gesundheitsverletzung der T verursacht. In dem instinktgesteuerten Abwehrverhalten des Pferdes kam auch eine spezifische Tiergefahr zum Ausdruck. R ist lediglich ein Freizeitreiter, sodass § 833 S. 2 BGB nicht einschlägig sein kann. Dass der Anspruch gegen R so leicht „durchgeht“, lässt erahnen, wohin die Reise geht: Es riecht verdächtig nach Dreipersonen-Verhältnis. Deshalb: Skizze anfertigen!
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2. Ein Anspruch der T gegen R auf Schadensersatz bestand außerdem gemäß § 823 Abs. 1 BGB.

Nein, das trifft nicht zu!

Die Anspruchsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB sind: (1) Rechtsgutverletzung; (2) Verletzungshandlung; (3) haftungsbegründende Kausalität; (4) Rechtswidrigkeit; (5) Verschulden; (6) Schaden; (7) haftungsausfüllende Kausalität. Als Verletzungshandlung kommt hier nur die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht in Betracht. BGH: Zwar schaffe R mit dem Abstellen des Anhängers samt Pferd eine Gefahrenlage und müsse deshalb Vorkehrungen treffen, um Schädigungen Dritter zu verhindern. Allerdings habe er nicht damit rechnen müssen, dass Kleinkinder sich unbeaufsichtigt Zutritt zu dem Anhänger verschaffen würden. Er habe deshalb schon keine Verkehrssicherungspflicht verletzt (RdNr. 24ff.).

3. R möchte Regress bei V nehmen. Das ist grundsätzlich dann möglich, wenn R und V gegenüber T Gesamtschuldner waren.

Ja!

Nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB hat ein leistender Gesamtschuldner gegen die übrigen Gesamtschuldner einen Anspruch auf Ausgleich des Geleisteten (vgl. BGH NJW 2010, 60). Ferner geht gemäß § 426 Abs. 2 S. 1 BGB der Anspruch des ursprünglichen Gläubigers auf den Leistenden über, soweit er von den übrigen Gesamtschuldnern Ausgleich verlangen kann. Die Voraussetzungen der Gesamtschuld sind: (1) Ansprüche gegen mehrere Schuldner; (2) Leistung kann nur einmal gefordert werden; (3) identisches Leistungsinteresse. Nach h.M. müssen (4) die Verbindlichkeiten auch gleichstufig sein (vgl. BGH NJW 1998, 537 (539)). Außerdem haften Schädiger aus einer unerlaubten Handlung stets gesamtschuldnerisch (§ 840 Abs. 1 BGB).

4. Zwischen V und T bestand kein (vor-)vertragliches Verhältnis. Deshalb kommen nur die deliktischen Anspruchsgrundlagen der §§ 823ff. BGB in Betracht.

Nein, das ist nicht der Fall!

Dem Wortlaut nach regelt § 1664 Abs. 1 BGB nur den Haftungsmaßstab, der für Eltern im Hinblick auf Pflichtverletzungen bei Ausübung der elterlichen Sorge gilt. Nach h.M. enthält die Norm aber auch eine eigene Anspruchsgrundlage des Kindes, wenn die Eltern (1) in Ausübung der elterlichen Sorge (2) eine aus der elterlichen Sorge folgende Pflicht verletzen und (3) das Kind dadurch schädigen (vgl. RdNr. 8). Diese Anspruchsgrundlage solltest Du immer im Blick behalten, wenn Ansprüche eines geschädigten Kindes in Betracht kommen. Nach einer „im Vordringen befindlichen“ (Veit, in: BeckOK BGB, 60.E. 2021, § 1664 Rn. 2.1) Gegenmeinung sind im Eltern-Kind-Verhältnis §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB als Anspruchsgrundlage heranzuziehen.

5. Zum Pflichtenkatalog der elterlichen Sorge gehört auch die Beaufsichtigung des Kindes (Aufsichtspflicht).

Ja, in der Tat!

Gemäß § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB umfasst die elterliche Sorge die Sorge für die Person des Kindes (“Personensorge“). Zur Personensorge gehört gemäß § 1631 Abs. 1 BGB auch die Pflicht, das Kind zu beaufsichtigen. BGH: Deren Reichweite hänge von den äußeren Umständen sowie den individuellen Eigenschaften des Kindes und seinem Entwicklungsstand ab. Entscheidend sei, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation tun müssten, um Schädigungen zu verhindern. So bedürften etwa Kleinkinder unter vier Jahren einer ständigen Aufsicht, da sie noch nicht in der Lage seien, Gefahrsituationen zu erkennen und zu beherrschen (RdNr. 11).

6. V hat eine ihm gegenüber T obliegende Pflicht aus der elterlichen Sorge verletzt.

Ja!

Wie gerade gesehen, gehört zur elterlichen Sorge auch die Pflicht der Eltern, das Kind zu beaufsichtigen, wobei Kinder unter vier Jahren ständiger Aufsicht bedürfen. V hat sich mit einem anderen Besucher unterhalten und T aus den Augen verloren. Folglich hat er seine zur elterlichen Sorge gehörende Aufsichtspflicht gegenüber T verletzt. Der BGH hat hier die sich anschließend stellende Frage des Verschuldensmaßstabs ebenfalls im Rahmen der Pflichtverletzung geprüft. Wir halten es für übersichtlicher, diese Fragen – wie bei anderen Anspruchsgrundlagen auch – getrennt voneinander zu behandeln. So handhabt es auch die Kommentarliteratur. Der Aufbau des BGH dürfte natürlich ebenso vertretbar sein.

7. Möglicherweise greift aber das Haftungsprivileg des § 1664 Abs. 1 BGB zugunsten des V. Ob dieses auch für Verletzungen der Aufsichtspflicht gilt, ist umstritten.

Genau, so ist das!

Nach einer Auffassung lässt sich die Aufsichtspflicht der Eltern gegenüber dem Kind nicht sinnvoll von der Aufsichtspflicht trennen, für die Eltern gegenüber Dritten (etwa im Rahmen des § 832 Abs. 1 BGB) einstehen müssen. Insoweit sei ein einheitlicher Maßstab geboten und deshalb das Haftungsprivileg in Ansehung der Aufsichtspflicht nicht anzuwenden. Nach wohl h.M. bleibt es beim Wortlaut des § 1664 Abs. 1 BGB, der keine Beschränkung des Haftungsprivilegs vorsieht, sodass die Eltern auch bei Verletzung ihrer Aufsichtspflicht dem Kind gegenüber nur beschränkt haften (vgl. RdNr. 13). Im Zweifel bist Du auf der sicheren Seite, wenn Du Dich unter Verweis auf den eindeutigen Wortlaut der zuletzt genannten Auffassung anschließt.

8. Wenn vorliegend der Maßstab des § 1664 Abs. 1 BGB auch für die Aufsichtspflicht des V gegenüber T gilt, haftet V nur für grobe Fahrlässigkeit (§ 277 BGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Gemäß § 1664 Abs. 1 BGB haben Eltern bei Ausübung der elterlichen Sorge dem Kind gegenüber nur für die Sorgfalt einzustehen, die sie in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegen (sog. diligentia quam in suis). § 277 BGB bestimmt, dass auch dann keine Befreiung von der Haftung für grobe Fahrlässigkeit in Betracht kommt. Es gibt allerdings keinen Automatismus, dass bei Geltung der „diligentia quam in suis“ die Haftung stets auf grobe Fahrlässigkeit beschränkt ist. Vielmehr muss der Schuldner darlegen und beweisen, dass er in eigenen Angelegenheiten eine geringere als die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anzuwenden pflegt (RdNr. 14).

9. Da V vorliegend zu seiner Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten nichts vorgetragen hat, haftet er weiterhin auch für einfache Fahrlässigkeit.

Ja!

Mangels ersichtlichen Vorbringens des V dazu, wie sorgfältig er im Übrigen seine elterliche Sorge über T ausübt, scheidet ein gemäß § 1664 Abs. 1 BGB zu seinen Gunsten verringerter Haftungsmaßstab aus. Im Originalfall hatten die Eltern vorgebracht, T im Allgemeinen eher locker zu beaufsichtigen. So dürfe sie beispielsweise Klettergerüste alleine benutzen, solange ein Erwachsener Blickkontakt zu ihr halte. Allerdings hatte V während des Vorfalls gerade keinen Blickkontakt zu T, sodass dieses Vorbringen eher im Gegenteil dafür sprach, dass V seinen eigenen Sorgfaltsmaßstab unterschritt.

10. Vor der Zahlung durch R haftete V gegenüber T gemäß §§ 1664 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Genau, so ist das!

V obliegt die elterliche Sorge über T; während des Reitturniers hat er diese auch ausgeübt. Dabei hat er seine Aufsichtspflicht verletzt und zumindest einfach fahrlässig (§ 276 Abs. 2 BGB) gehandelt; eine Haftungserleichterung scheidet aus. Infolgedessen sind T materielle sowie immaterielle (§ 253 Abs. 2 BGB) Schäden entstanden. Gerade leistungsstarke Klausurbearbeiter dürften hier in Versuchung geraten, das Haftungsprivileg irgendwie „durchzudrücken“, weil sich dann sehr reizvolle Folgeprobleme auftun (Stichwort „gestörte Gesamtschuld“). Ein solches Vorgehen wäre angesichts des eindeutigen Sachverhalts aber kaum vertretbar. Diesen „red herring“ kann nur bezwingen, wer diszipliniert jedes Tatbestandsmerkmal unvoreingenommen durchprüft!

11. Daneben haftete V gegenüber T auch gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB auf Schadensersatz und Schmerzensgeld.

Ja, in der Tat!

Die Anspruchsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB sind: (1) Rechtsgutverletzung; (2) Verletzungshandlung; (3) haftungsbegründende Kausalität; (4) Rechtswidrigkeit; (5) Verschulden; (6) Schaden; (7) haftungsausfüllende Kausalität. BGH: Die für § 823 Abs. 1 BGB erforderliche Verletzungshandlung könne auch in der Verletzung einer familienrechtlich begründeten Obhutspflicht liegen (RdNr. 9). V hat seine Aufsichtspflicht gegenüber T, also eine familienrechtlich begründete Obhutspflicht, schuldhaft verletzt und so ihre Gesundheitsschädigung verursacht. Die übrigen Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB liegen unproblematisch vor.

12. Die übrigen Voraussetzungen der Gesamtschuld lagen vor, sodass R bei V Regress nehmen kann.

Ja!

Gemäß § 840 Abs. 1 BGB haften Schädiger aus einer unerlaubten bzw. deliktischen Handlung stets als Gesamtschuldner, wenn sie nebeneinander für den Schaden verantwortlich sind. R haftete gegenüber T aus § 833 S. 1 BGB. Daneben haftete ihr V (auch) aus § 823 Abs. 1 BGB. Dabei handelt es sich jeweils um Anspruchsgrundlagen aus dem 27. Titel des BGB („unerlaubte Handlungen“). Beide Anspruchsgrundlagen sind auf den Ersatz derselben Schäden gerichtet. Es bestand also eine gesetzlich angeordnete Gesamtschuld gemäß § 840 Abs. 1 BGB

13. Gesamtschuldner sind untereinander zu gleichen Teilen verpflichtet. R kann V also in Höhe der Hälfte der an T gezahlten Summe in Regress nehmen.

Nein, das ist nicht der Fall!

§ 840 Abs. 3 BGB bestimmt, dass ein Schädiger, der neben einem aus §§ 833 bis 838 BGB Verpflichteten für einen Schaden verantwortlich ist, im Verhältnis der Schädiger zueinander allein verpflichtet ist. „Verantwortlich“ im Sinne der Norm ist nach ganz h.M. nur, wer aus tatsächlichem oder vermutetem Verschulden haftet (Spindler, in: BeckOK BGB, 60.E. 2021, § 840 Rn. 25). R war gegenüber T aus § 833 S. 1 BGB verpflichtet. Daneben war für den Schaden V (auch) aus § 823 Abs. 1 BGB – und somit aus schuldhaftem Verhalten – verantwortlich. Mithin ist gemäß § 840 Abs. 3 BGB im Innenverhältnis zwischen R und V allein V verpflichtet.

14. R kann V in Höhe des vollen Schadensersatzes in Regress nehmen.

Ja, in der Tat!

Gemäß § 840 Abs. 3 BGB ist zulasten des V für den Innenregress „ein anderes“ im Sinne des § 426 Abs. 1 S. 1 BGB bestimmt. Somit hat R gegen V gemäß § 426 Abs. 1 S. 1 BGB sowie gemäß § 426 Abs. 2 S. 1 BGB i.V.m. §§ 1664 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB einen Regressanspruch in voller Höhe des an T geleisteten Schadensersatzes. Der Vorteil der Legalzession aus § 426 Abs. 2 S. 1 BGB besteht darin, dass der Ausgleichsberechtigte gemäß §§ 412, 401 BGB auch Sicherungsrechte erhält, die dem Gläubiger gegen den anderen Gesamtschuldner zustanden. Andererseits kann sich der Ausgleichspflichtige gegen diesen Anspruch gemäß §§ 412, 404ff. BGB ggf. auf Schuldnerschutzvorschriften berufen.
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