+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Nach dem Genuss einiger Biere fährt T die Passantin P an. T sieht, dass P lebensgefährlich verletzt ist und einen Arzt braucht. Aus Angst um den Führerschein fährt T aber, ohne etwas zu unternehmen, weg. P stirbt. Bei unverzüglicher ärztlicher Hilfe hätte P zumindest einige Stunden länger gelebt.

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Einordnung des Falls

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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 1 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hätte T sofort den Notarzt gerufen, hätte P länger gelebt. Die Nichtvornahme der Handlung war kausal für Ps Tod (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

Genau, so ist das!

Die Conditio-sine-qua-non-Formel muss für den Fall des Unterlassens im Sinne einer Quasi-Kausalität modifiziert werden: Ein Unterlassen ist dann für den Erfolgseintritt kausal, wenn die gebotene und physisch-reale Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Hätte T sofort den Arzt gerufen, hätte P länger gelebt und der konkrete Tod wäre vermieden worden. Der Tod in seiner konkreten Gestalt geht somit auf Ts Unterlassen zurück. Die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) durch Anfahren der P tritt als mitbestrafte Vortat zurück.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

FEL

Felix

27.9.2021, 11:26:56

Kann § 222 StGB hier wirklich gleichzeitig als mitbestrafte

Vortat

und im Wege der Subsidiarität zurücktreten?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

19.10.2021, 10:21:55

Hallo Felix, vielen Dank für die Nachfrage. In der Tat ist der Begriff der Subsidiarität (zB formelle Subsidiarität der Unterschlagung gegenüber dem Diebstahl) im Rahmen der Tateinheit geläufiger, als bei Tatmehrheit. Insofern haben wir uns nun den Begriff der Subsidiarität gestrichen. Wichtig zu wissen ist insofern aber, dass hinter den Begriffen "mitbestrafte Vor-/Nachtat" im Bereich der Handlungsmehrheit letztlich die gleichen Erwägungen stehen, wie auch bei der Subsidiarität/Konsumtion im Bereich der Handlungseinheit, nämlich, dass der Unrechtsgehalt einer Handlung bereits vollständig in der anderen Tat enthalten ist (vgl. auch Rengier, Strafrecht AT, 13.A.2021, § 56 RdNr. 43 ff.). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

12.2.2022, 23:30:55

Ich finde ehrlich gesagt, dass beide Begriffe nicht so ganz passen. Der Taterfolg tritt gleichzeitig ein, nämlich mit dem Tat, womit § 222 eigentlich nicht

Vortat

wäre. Subsidiarität und "Mitbestrafung" schließen sich auch nicht aus und haben nur einen unterschiedlichen Inhalt. Subsidirität heißt eigentlich, dass die ursprüngliche Vorschrift nicht mehr anwendbar ist. Vorliegen ist § 222 aber nicht mehr anwendbar, sondern wir nur verdrängt.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.5.2023, 14:40:59

Hallo Quorbox, vielen Dank für Deinen Hinweis. Anknüpfungspunkt ist hier weniger der Taterfolg, sondern die einzelnen Tathandlungen. Hier haben wir einmal ein

aktives Tun

(Anfahren). Dann kommt der Unfall als Zäsur und dann folgt die zweite Handlung in Form der unterlassenen Hilfe trotz

Garantenpflicht

(=Liegenlassen und Wegfahren). Insofern liegt durchaus in Form des Anfahrens eine

Vortat

vor. Da die hierdurch verwirklichte fahrlässige Tötung im Hinblick auf den Unrechtsgehalt deutlich geringer ist, als der anschließende Verdeckungsmord, tritt sie als mitbestrafte

Vortat

im Wege der Konkurrenzen zurück. Ich hoffe, jetzt ist es noch deutlicher geworden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

VO

Vojtech

21.12.2021, 00:22:10

Eine Frage zur Klarstellung: Hier geht es also nicht darum, dass P sowieso nach einigen Stunden gestorben wäre, sondern darum, dass der spätere Tod eine “andere” Ursache gehabt hätte und somit “nur” ein tatbestandlich beschriebener Erfolg, aber nicht der konkrete Erfolg wäre?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.12.2021, 08:51:53

Hallo Vojtech, in der Tat geht es hier darum, dass der konkrete Erfolg z.B. "Tod um 14 Uhr" entfallen wäre, was ausreicht, um hier die Quasi-Kausalität zu bejahen. Irrelevant ist insofern, dass selbst mit der notwendigen Hilfe einige Stunden später der Tod eingetreten wäre. Denn jedenfalls zu dem konkreten Zeitpunkt hätte der Tod verhindert werden können. Sofern dagegen nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass P länger gelebt hätte, würde es an der Quasi-Kausalität fehlen. Beste Grüße Lukas - für das Jurafuchs-Team

ENU

ehemalige:r Nutzer:in

12.2.2022, 23:26:29

Ich finde das ehrlich gesagt sehr disskusionswürdig. Das würde auch heißen, dass der konkrete Erfolg verhindert wird, wenn ich den Eintritt des Todes um eine Stunde nach hinten verschiebe. Liegt dann immer ein Rücktritt vor? Das führt auch dazu, dass ich beim Unterlassen nicht nur Frage, hätte der Erfolgseintritt verhindert werden können, sondern hätte er konkret um diese Uhrzeit verhindert werden können, möglicherweise auch indem er vorgezogen wird.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.5.2023, 14:37:06

Sehr berechtigte Frage, Quorbox! Grundsätzlich wird bei Tötungsdelikten der konkrete Erfolg in jeder – wenn auch nur geringfügigen – Lebensverkürzung gesehen (vgl. Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB vor § 13 Rn. 79). Insofern ist es hier durchaus relevant, dass P hier noch einige Stunden gelebt hat. Sofern man hier aber die Kausalität ablehnt, wäre in der Tat zumindest noch der Versuch zu prüfen. Zu deiner zweiten Frage, ein Rücktritt würde in Deinem Beispiel regelmäßig daran scheitern, dass letztlich der kausale und objektiv zurechenbare Erfolg eingetreten ist, sodass für eine Versuchsprüfung kein Raum verbleibt. Hätte T sich dagegen hier von Beginn an darum bemüht, P zu helfen und würde P dann versterben, so wäre ihr insoweit primär fahrlässige Tötung vorzuwerfen (sowie die einschlägigen Verkehrsdelikte, zB §

315c

Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

CR7

CR7

25.4.2023, 21:59:15

Hi! Verstehe ich es hier richtig: Der Moment des Anfahrens erfüllt § 222 StGB, und ab dem Zeitpunkt, an dem sie flieht und nicht mehr hilft, §§ 222, 13 I? Dann habe ich zwei Delikte, wobei § 222 StGB zurücktritt. Aber wäre das nicht mit dem Grundsatz, für eine Tat keine Strafe zweimal zu erhalten unvereinbar oder sind das hier wirklich zwei selbstständige Taten ohne Gesamtzusammenhang?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.5.2023, 14:20:02

Hallo (af), vielen Dank noch einmal für Deine Rückfrage. Wir haben hier zwei Tathandlungen an die wir anknüpfen: (1) das Anfahren und (2) das Wegfahren/Liegenlassen. Bezüglich des Anfahrens liegt isoliert betrachtet eine fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) vor, denn insoweit handelte T ja noch nicht einmal bedingt vorsätzlich. Im Hinblick auf das Wegfahren dagegen hat sich die Situation geändert. T traf hier eine

Garantenpflicht

aus Ingerenz und wäre verpflichtet gewesen der verletzten P zu helfen. Dies hat er unterlassen und dabei billigend in Kauf genommen, dass P verstirbt. Insoweit liegt hier ein Totschlag durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) vor (da hier auch Verdeckungsabsicht vorlag, ist zudem der Verdeckungsmord einschlägig). Der Unfall schafft eine Zäsur, sodass eine Handlungsmehrheit vorliegt (§ 53 StGB). Auch im Fall der Handlungsmehrheit können verwirklichte Delikte nach dem Gedanken der Subsidiarität/Konsumtion zurücktreten. Hier spricht man von mitbestraften Vor-/Nachtaten (vgl. Rengier, Strafrecht AT, § 11 RdNr. 44). Da in diesem Fall die Unterlassenstat (Wegfahren ohne zu helfen) schwerer wiegt, als das aktive Tun (Anfahren) geht die Unterlassenstat hier ausnahmsweise vor (Matt/Renzikowski/Haas, 2. Aufl. 2020, StGB § 13 Rn. 23), sodass die fahrlässige Tötung als mitbestrafte

Vortat

verdrängt wird. Ich hoffe, so wird es jetzt klarer :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

DAV

David.

9.5.2023, 17:38:38

Wie würde man das Gutachten dann aufbauen? Würde man die fahrlässige Tötung komplett prüfen? Und würde man die fahrlässige Tötung dann im Anschluss an den Totschlag durch Unterlassen prüfen?

FRA

Francesco

4.8.2024, 22:44:05

Meiner Meinung nach prüft man dann Totschlag durch Unterlassen (evtl. Mord wegen Verdeckungsabsicht) und das wars dann auch.


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