Möglichkeit der Unterlassungsklage gem. § 862 Abs. 1 S. 2 BGB


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Mieter M hört - wie nahezu jede Nacht - sehr laut Musik. Nachbar N, der eine Wohnung im gleichen Haus besitzt, fühlt sich hiervon gestört. Er möchte erreichen, dass M die Musik leiser stellt und zukünftig nachts keine laute Musik mehr abspielt.

Einordnung des Falls

Möglichkeit der Unterlassungsklage gem. § 862 Abs. 1 S. 2 BGB

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. M stört den Besitz des N an seiner Wohnung (§ 862 Abs. 1 BGB), indem er nachts laut Musik hört.

Genau, so ist das!

Eine Besitzstörung ist die Beeinträchtigung des unmittelbaren Besitzes durch einen Eingriff in den Bestand der tatsächlichen Sachherrschaft. Indem M laut Musik hört, greift er in den Bestand der tatsächlichen Sachherrschaft des N ein.

2. M handelte mit verbotener Eigenmacht.

Ja, in der Tat!

Verbotene Eigenmacht (§ 858 Abs. 1 BGB) ist jede widerrechtlich vorgenommene Beeinträchtigung des unmittelbaren Besitzers in der Ausübung seiner tatsächlichen Sachherrschaft. Widerrechtlich ist die Besitzbeeinträchtigung, wenn sie ohne den Willen des Besitzers erfolgt und gesetzlich nicht besonders gestattet ist. Die Beeinträchtigung kann in einer Sachentziehung oder in einer sonstigen Störung bestehen. M beeinträchtigte den N ohne dessen Willen in seinem Besitz. Eine gesetzliche Gestattung liegt nicht vor.

3. M ist Störer (§ 862 BGB).

Ja!

Störer ist derjenige, der die Besitzstörung durch seine Handlung selbst bewirkt hat (unmittelbarer Handlungsstörer). Zum anderen ist Störer, wer einen Dritten durch seine Willensbetätigung zur Störung bestimmt (mittelbarer Handlungsstörer). Weiterhin ist Störer, wer durch eine Sache die Störung verursachte (Zustandsstörer). M ist hier sowohl Handlungs- als auch Zustandsstörer. Zum einen hat M die Musik selbst laut aufgedreht, zum anderen verursacht M die Störung durch seine Anlage.

4. N hat gegen M einen Anspruch auf Einstellung der Besitzstörung aus § 862 BGB, wenn er nicht gesetzlich zur Duldung verpflichtet ist.

Genau, so ist das!

Der Störungsbeseitigungsanspruch aus § 862 Abs. 1 S. 1 BGB hat folgende Voraussetzungen: (1) Störung des Besitzes durch verbotene Eigenmacht, (2) der Anspruchsgegner muss Störer sein, (3) kein Ausschluss des Anspruchs nach § 862 Abs. 2 BGB und (4) kein Erlöschen des Anspruchs nach § 864 BGB. M beeinträchtigte den Besitz des N durch das Aufdrehen der Musik mit verbotener Eigenmacht. M ist ebenso Störer. Der Anspruch ist auch nicht nach § 862 Abs. 2 BGB ausgeschlossen oder nach § 864 BGB erloschen.

5. N muss die von M abgespielte Musik dulden (§ 906 Abs. 1 BGB analog).

Nein, das trifft nicht zu!

Die Duldungspflicht nach § 906 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass der Gestörte nicht oder nur unwesentlich hierdurch beeinträchtigt wird. Wann eine wesentliche Beeinträchtigung vorliegt, beurteilt sich nach dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen und dem, was diesem unter Würdigung anderer öffentlicher und privater Belange zuzumuten ist. Werden einschlägige Lärmschutzvorschriften eingehalten, indiziert dies, dass die Beeinträchtigung unwesentlich ist (§ 906 Abs. 1 S. 2, 3 BGB).Die Nachtruhe ist gesetzlich geschützt (vgl. § 9 Abs. 1 LImSchG NRW,, § 117 Abs. 1 OWiG). Laute Musik in dieser Zeit überschreitet deutlich die gesetzlichen Grenzen (in der Regel 35-40 Dezibel) und stellt damit eine wesentliche Beeinträchtigung dar.

6. N hat neben einem Beseitigungsanspruch auch einen Unterlassungsanspruch gegen M (§ 862 Abs. 1 S. 2 BGB).

Ja!

Der Besitzer kann auf Unterlassung klagen, sofern außer der bereits erfolgten Beeinträchtigung noch weitere Störungen zu besorgen sind (Wiederholungsgefahr). M hört regelmäßig nachts laute Musik. Weitere Störungen sind zu erwarten.

7. Die Regelung zur Duldungspflicht bei Immissionen (§ 906 Abs. 1 BGB) sind vorliegend unmittelbar anwendbar.

Nein, das ist nicht der Fall!

Die Duldungspflicht nach § 906 Abs. 1 BGB setzt tatbestandlich voraus, dass die aufgelisteten Immissionen einen grundstücksüberschreitenden Bezug aufweisen. M und N leben im gleichen Haus und mithin auf dem gleichen Grundstück. Eine unmittelbare Anwendung des § 906 Abs. 1 BGB scheidet aus.

8. Die Regelung zur Duldungspflicht bei Immissionen (§ 906 Abs. 1 BGB) sind vorliegend analog anwendbar.

Ja, in der Tat!

Der BGH hat zwar eine analoge Anwendung der Regelungen zu Entschädigungsansprüchen nach § 906 Abs. 2 BGB abgelehnt, sofern es um Mieter desselben Grundstücks geht (BGH, NJW 2004, 775). Später hat er indes klargestellt, dass davon besitz- und deliktsrechtliche Abwehransprüche unberührt bleiben und diesbezüglich die Maßstäbe des § 906 Abs. 1 BGB analog heranzuziehen sind (BGH, NJW 2015, 2023).Auch wenn der von M ausgehende Lärm keine Grundstücksgrenze überschreitet, so kommt eine Duldungspflicht des N jedenfalls nach § 906 Abs. 1 BGB analog in Betracht.

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🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

26.1.2020, 22:56:33

Aus dem Vortrag des Sachverhalts geht nicht hervor, dass beide Beteiligten Mieter sind. Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn N eine Eigentumswohnung hätte?

JSAUE

Jonas Sauer

2.2.2020, 13:28:10

Es geht hier ja um possesorische Besitzansprüche, also um solche Ansprüche, die aus der tatsächlichen Sachherrschaft bzw. aus dem tatsächlichen Besitz resultieren. Aus dem Eigentum könnte man, je nach Sachverhalt, ein Recht zum Besitz ableiten. Auf ein Recht zum Besitz kommt es hier aber gerade nicht an.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

23.7.2021, 09:48:57

Hallo LEXDEROGANS, Du hast völlig recht, dass im Sachverhalt nicht erwähnt wurde, dass es ein Mietshaus ist. Das ist im Ergebnis tatsächlich aber unerheblich, weswegen wir diese Aussage im Antworttext nun geändert haben (nunmehr nur noch "Haus"). Für unseren Fall ist es allein relevant, welche Stellung M hat (Mieter oder Eigentümer). Denn wie Jonas schon völlig zurecht eingewendet hat, könnte er als Eigentümer auch noch Abwehransprüche im Hinblick auf die Störung seines Eigentums geltend machen. Ob der Störer Mieter oder Eigentümer ist, ist dagegen unerheblich. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

SHEE

Sheela

14.4.2020, 13:05:27

Wie ist der Unterschied zum vorherigen Fall ? Warum ist Musik einmal Immission Und der Lärm dann wiederum nicht ?

REDO

Redo

14.4.2020, 14:05:52

Nach LImSchG wäre der Lärm wohl ziemlich sicher auch als Immission zu Betrachten. Allerdings kommt es bei einer Immsion iSd §

906 BGB

gerade darauf an, dass die Immission von einem anderen Grundstück kommt. Da in diesem Fall aber beide Parteien auf demselben Grundstück wohnen (welches wohl nur einen Eigentümer hat) kann sich der Gestörte hier nicht auf eine solche Einwirkung berufen. Über die Frage hinausgehend ist der gestörte hier auch lediglich Mieter und kann deshalb generell keine Ansprüche aus Eigentum geltend machen sondern nur wie im ersten Fall aus Besitz.

CAR

Carl

11.12.2020, 15:13:27

Wie sieht es denn mit

906 analog

aus?

Jana-Kristin

Jana-Kristin

23.12.2020, 15:33:26

Guter Gedanke, hat der BGH aber für 906 und insbesondere auch für den nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch gem. 906 II 2 BGB abgelehnt, vgl. BGH NJW 04, 775.

JLW

JLW

19.5.2021, 11:44:31

Ich bin gerade etwas verwirrt ... M hat einen Unterlassungsanspruch, wenn er den Lärm nicht dulden muss. Er muss den Lärm nicht dulden, weil 906 nicht anwendbar ist (weil nicht Grundstücksübergreifend). Folglich besteht der Anspruch des M auf Unterlassung (und Beseitigung) Habe ich das so richtig verstanden?

Tigerwitsch

Tigerwitsch

19.5.2021, 18:08:09

So sagt es die Lösung hier, ja. Demnach sei §

906 BGB

mangels Grenzüberschreitung vorliegend nicht anwendbar, sodass sich daraus keine Duldungspflicht ergeben könne, die zu einem Ausschluss des § 862 BGB führt. ——— In dem Zusammenhang stellt sich für mich jedoch die Frage, ob im vorliegenden Fall tatsächlich nicht doch §

906 BGB

(entsprechend) anwendbar bzw. zu berücksichtigen ist. Gegen eine Anwendung des §

906 BGB

zwischen Mietern spricht zwar zunächst der Wortlaut der Norm („von einem anderen Grundstück“). Nach Palandt, § 906 Rn. 4 gelte §

906 BGB

nicht für Einwirkungen zwischen Mietwohnungen. Der Kommentar verweist auf ein BGH-Urteil aus 2003 (NJW 2004, 775). Es gibt jedoch eine aktuellere Entscheidung des BGH zum Rauchen auf dem Balkon. Und dort sagt der BGH m. E., dass man den Maßstab (zwar nicht die Norm selbst, aber zumindest den Rechtsgedanken) des §

906 BGB

zwischen Mietern entsprechend zu berücksichtigen habe: „Zur Bestimmung der Grenzen dessen, was der Mieter an Immissionen (hier durch Tabakrauch) hinzunehmen hat, die von dem Gebrauch der anderen Wohnung ausgehen, ist der in § 906 I 1 BGB bezeichnete Maßstab entsprechend anzuwenden [Nachweise]. Demnach kann der Mieter ein Wirkungen durch das Rauchen eines anderen Mieters nicht verbieten, wenn sie ihn in dem Gebrauch der Mietsache nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigen.“ (BGH, U. v. 16.01.2015 - AZ.: V ZR 110/14; vgl. auch Fritzsche, in: Hau/Poseck [Hrsg.], BeckOK BGB, Stand: 01.11.2020, § 906 Rn. 35; Siems, in: JuS 2005, 884 [885]). Wenn ich das richtig verstehe: Die Norm des §

906 BGB

ist selbst weder direkt noch unmittelbar anzuwenden. Dennoch ist der Maßstab zumindest zu berücksichtigen - auch zwischen Mietern auf demselben Grundstück. Es wäre toll, wenn sich da jmd. vom Jurafuchs-Team dazu äußern könnte 😇

Tigerwitsch

Tigerwitsch

19.5.2021, 18:11:51

Nachtrag: Im vorliegenden Fall dürfte sich - selbst bei einer analogen Anwendung des § 906 (Abs. 1) BGB bzw. dem Maßstab der Norm - das Ergebnis nicht ändern. Auch unter dem Maßstab der Vorschrift ist die nächtliche laute Musik nicht zu dulden und stellt eine wesentliche Beeinträchtigung dar.

Tigerwitsch

Tigerwitsch

19.5.2021, 18:23:35

Nachtrag 2, da in einem anderen Thread auch die analoge Anwendung mit Hinweis auf BGH, NJW 2004, 775 abgelehnt wird: Der BGH hat in der zitierten Entscheidung lediglich den Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB (analog) verneint. Er hat sich nicht direkt zu Abs. 1 geäußert. Der BGH nimmt in dem von mir oben angeführten „Raucher-Urteil“ zu seiner Entscheidung aus 2003 wie folgt Stellung: „Einen gegenteiligen Rechtssatz hat der Senat in der von dem BerGer. zitierten Entscheidung vom 12.12.2003 […] nicht aufgestellt. Er hat lediglich einen - hier nicht streitgegenständlichen - verschuldensunabhängigen Ausgleichsanspruch nach § 906 II 2 BGB bei Immissionen verneint, die von dem Nutzungsbereich eines Mieters auf den eines anderen [Mieters] einwirken. Dass zwischen den Mietern auf besitzschutz- und deliktsrechtlichen Normen beruhende Abwehransprüche bestehen können, ist nicht in Abrede gestellt worden.“ (BGH, U. v. 16.01.2015 - AZ.: V ZR 110/14, Rn. 9).

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

21.5.2021, 14:58:50

Vielen Dank euch beiden! Der Erläuterungstext war an dieser Stelle tatsächlich etwas missverständlich. Wie Tigerwitsch richtig ausgeführt hat, scheitert die Duldungspflicht hier nicht bereits an der Anwendbarkeit des § 906 Abs. 1 BGB, sondern erst daran, dass es sich hier bei dem Lärm um eine wesentliche Beeinträchtigung handelt, die über §

906 BGB

hinausgeht. Wir haben den Fall entsprechend angepasst. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

SAMS

SamSoy

17.11.2023, 13:54:41

Hier sind N und M ausversehen vertauscht wurden, kleiner Hinweis dazu. "M hat einen Anspruch gegen N, wenn er nicht zur Duldung verpflichtet ist", müsste es heißen.

LELEE

Leo Lee

18.11.2023, 15:06:10

Hallo Samet, beachte, dass es im Fall darum geht, dass der Mieter der Anspruchsgegner ist! M hört zu laut Musik, weshalb der Nachbar N dagegen vorgehen möchte gem. § 862 (auf Unterlassung der Lautstärke). Deshalb hat der N gegen den M einen Anspruch auf Unterlassung der lauten Musik, wenn die § 862 BGB-Voraussetzungen vorliegen. Und wenn der N ausnahmsweise verpflichtet ist, die laute Musik des M zu dulden, dann hat er eben keinen Anspruch gem. § 862 :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

JO

Joseph

11.3.2024, 16:35:09

Vorliegend handelt es sich bei N ja um einen Mieter. Hat ein Mieter grundsätzlich die Zuführung unwägbarer Stoffe gleich einem Eigentümer zu dulden (bzw. auch nicht zu dulden)? Der § 906 I S.1 nennt schließlich lediglich den Eigentümer als evtl. Duldungspflichtigen.

PK

P K

15.3.2024, 22:17:37

Den § 906 wendet man als Maßstab auch in anderen Verhältnissen recht großzügig an, weil es ja um die Grenzen der jeweiligen Nutzung geht und es dafür nicht darauf ankommen kann, ob der Betroffene Eigentümer ist oder nicht.


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