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Klassisches Klausurproblem

A befährt im Jahr 2021 mit seinem Auto eine ruhige und übersichtliche Landstraße. A fährt vorschriftsmäßig 50 km/h. Plötzlich gerät der 9-jährige Radfahrer R unverschuldet und für A unvorhersehbar, auf A's Fahrbahn. A reißt das Steuer seines Wagens herum und prallt gegen einen Baum.

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Einordnung des Falls

Fall 4

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. A kann von R Ersatz für die Schäden am Auto verlangen, wenn er einen Anspruch auf Aufwendungsersatz nach §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB hat.

Ja, in der Tat!

Voraussetzung für einen Aufwendungsersatzanspruch nach §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB ist, dass A (1) ein fremdes Geschäft (2) mit Fremdgeschäftsführungswillen, (3) ohne Auftrag oder einer sonstigen Berechtigung geführt hat und (4) die Geschäftsführung berechtigt war.
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2. Indem A das Steuer herumgerissen hat, hat er "ein Geschäft besorgt" (§ 677 BGB).

Ja!

Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) begründet ein gesetzliches Schuldverhältnis. Sie liegt vor, wenn jemand (der Geschäftsführer) ein Geschäft für einen anderen (den Geschäftsherrn) besorgt, ohne von ihm beauftragt oder ihm gegenüber sonst dazu berechtigt zu sein. Geschäftsbesorgung ist hier wie im Auftragsrecht (§ 662 BGB) weit zu verstehen und umfasst jede fremdnützige tatsächliche oder rechtsgeschäftliche Tätigkeit, auch von kurzer Dauer. Das Herumreißen des Steuers ist eine tatsächliche Tätigkeit. A hat ein Geschäft besorgt.

3. Der Geschäftsführer besorgt das Geschäft "für einen anderen" (§ 677 BGB), wenn er das Geschäft jedenfalls nicht nur als eigenes, sondern auch als fremdes Geschäft führt.

Genau, so ist das!

Der Geschäftsführer muss das Geschäft für einen anderen besorgen (§ 677 BGB). Dies erfordert den nach außen erkennbaren Willen und das Bewusstsein, für einen anderen tätig zu werden (Fremdgeschäftsführungswille). Dabei ist zu unterscheiden: objektiv fremde Geschäfte fallen schon äußerlich in einen fremden Interessenkreis, hier wird der Wille (widerleglich) vermutet. Subjektiv fremde Geschäfte sind neutral, der Wille muss positiv festgestellt werden. Bei "auch-fremden" Geschäften liegt die Übernahme im eigenen und im fremden Interesse. Der Wille wird nach der Rechtsprechung grundsätzlich auch hier vermutet, insbesondere wenn das Interesse des Anderen an der Vornahme der Handlung im Vordergrund steht (sehr strittig).

4. Indem A das Steuer herumgerissen hat, hat er ein objektiv fremdes Geschäft besorgt. Der Fremdgeschäftsführungswille wird vermutet.

Nein, das trifft nicht zu!

Unter objektiv fremde Geschäfte fallen Tätigkeiten, die schon ihrem äußeren Erscheinungsbild nach in einen anderen Rechts- und Interessenkreis fallen, z.B. Hilfeleistungen, Gefahrabwendung und Zahlung fremder Schulden. Hier lag das Ausweichmanöver aber auch im Interesse des A. Ein Kraftfahrer hat äußerlich erkennbar Interesse daran, keine andere Person zu überfahren.

5. Nach der Rechtsprechung des BGH vor der Novellierung des StVG, schied ein auch-fremdes Geschäft aus, wenn eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG vorlag.

Ja!

Unter "auch-fremde" Geschäfte fallen Tätigkeiten, die ihrer äußeren Erscheinung nach nicht nur in den Interessenkreis des Geschäftsführers fallen, sondern auch einem Dritten zugute kommen (Handeln im Doppelinteresse). In seiner früheren Rechtsprechung hat der BGH geurteilt, dass bei einer Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG lediglich ein Eigengeschäft des Kraftfahrers vorliege. Dies ergebe sich daraus, dass die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG eine verschuldensunabhängige Haftung für die Betriebsgefahr sei, d.h. allein dafür, dass ein Kfz im Straßenverkehr benutzt wird. Der Halter eines Kfz müsse alle Schäden ersetzen, die er anderen zufügt. Dann sei es ihm aber erst recht zuzumuten, eigene Schäden selbst zu tragen. Diese gesetzliche Risikoverteilung dürfe nicht durch die Anwendung der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA, §§ 677ff. BGB) umgangen werden.

6. Wären R und A zusammengestoßen, wäre A's Haftung ausgeschlossen (§ 7 Abs. 2 StVG).

Nein, das ist nicht der Fall!

Bis zum 31.07.2002 schied die verschuldensunabhängige Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG auch aus, wenn es sich um ein unabwendbares Ereignis handelte (§ 7 Abs. 2 StVG alte Fassung). Seit dem 01.08.2002 ist eine Haftung gegenüber Verkehrsteilnehmern, die keine Kraftfahrer*innen sind, also zB Radfahrer, Fußgänger, nur ausgeschlossen, wenn ein Fall der höheren Gewalt vorliegt (§ 7 Abs. 2 StVG neue Fassung). Höhere Gewalt ist ein von außen kommendes, unvorhersehbares Ereignis, das auch durch äußerste Sorgfalt nicht verhütet werden kann (inbs. Naturereignisse). Der Zusammenstoß mit anderen Verkehrsteilnehmern ist Teil der allgemeinen Betriebsgefahr eines Fahrzeuges und stellt als solche kein unvorhersehbares Ereignis dar. Die Enthaftung bei Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses, findet sich nach der Novellierung nur noch bei Unfällen zwischen zwei Kraftfahrzeugen (§ 17 Abs. 3 StVG).

7. Hätte A den R angefahren, statt vorbeizulenken, so hätte er nach § 7 Abs. 1 StVG gehaftet.

Ja, in der Tat!

Die verschuldensunabhängige Halterhaftung setzt grundsätzlich voraus, dass (1) A Halter eines Kfz ist, (2) eine Rechtsgutsverletzung iSv § 7 Abs. 1 StVG (Tötung, Körperverletzung oder Sachbeschädigung) vorliegt und (3) die Rechtsgutsverletzung bei dem Betrieb eines Kfz erfolgt. Bei einem Zusammenstoß wären sämtliche anspruchsbegründenden Voraussetzungen erfüllt. Ein Haftungsausschluss, insbesondere § 7 Abs. 2 StVG, wäre nicht in Betracht gekommen. A hätte für Schäden des R verschuldensunabhängig zu haften gehabt.

8. Indem A das Steuer herumgerissen hat, hat er – nach den vom BGH aufgestellten Maßstäben - ein auch- fremdes Geschäft besorgt. Der Fremdgeschäftsführungswille wird vermutet.

Nein!

Seit der Novellierung im Jahr 2002 lag dem BGH ein vergleichbarer Fall nicht mehr zur Entscheidung vor. Wendet man den vom BGH zur früheren Rechtslage aufgestellten Maßstab an, wonach dann ein bloßes Eigengeschäft des Fahrers vorliegt, wenn er nach § 7 Abs. 1 StVG haftet, so läge hier kein „auch-fremdes Geschäft vor“. Die Haftung des A ist nicht ausgeschlossen. Es liegt kein Fall höherer Gewalt vor (§ 7 Abs. 2 StVG). Ob die BGH-Rechtsprechung übertragbar ist, ist offen und umstritten. Ein Anspruch aus GoA würde dann in der Regel nur noch zwischen Kraftfahrern in Betracht kommen, da nur dort die Haftung bei unabwendbaren Ereignissen entfällt (§ 17 Abs. 3 StVG ).

9. Für die Beibehaltung der vom BGH aufgestellten Maßstäbe spricht die gesetzgeberische Intention bei der Novellierung des StVG.

Genau, so ist das!

Hintergrund der Novellierung des StVG war die Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern bei Unfällen im Straßen- und Bahnverkehr. Zu diesem Zweck wurde der Haftungsausschluss von Kfz-Haltern auf Fälle der „höheren Gewalt“ (§ 7 Abs. 2 StVG) begrenzt. Gleichzeitig wurde die Altersgrenze in § 828 Abs. 2 BGB von 7 auf 10 Jahren erhöht, sodass Kinder bis zu 10 Jahren bei Unfällen im Straßenverkehr regelmäßig kein Verschulden trifft. Dieser gesetzgeberischen Intention stünde es entgegen, wenn der Minderjährige über die GoA dennoch dem Fahrer zum Ersatz verpflichtet wäre. Ein Teil der Literatur lehnt die Übertragung der früheren Rechtsprechung mit diesem Argument ab: Würde man einen Ersatzanspruch aus GoA ablehnen, hätte der Kraftfahrer einen indirekten Anreiz, nicht zu bremsen, weil er seinen Schaden ohnehin nicht ersetzt bekäme.
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