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Haftung für Schäden durch ein "Hundegetümmel" (OLG Koblenz, 09.12.2019, 12 U 249/18): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

Haftung für Schäden durch ein "Hundegetümmel" (OLG Koblenz, 09.12.2019, 12 U 249/18): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Fall Haftung für Schäden durch ein "Hundegetümmel" (OLG Koblenz, 09.12.2019, 12 U 249/18): Eine Person geht mit ihrem Hund spazieren. Ein anderer Hund stürzt sich auf den Hund der Person. Die Person fällt im Getümmel zu Boden.
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besonders examenstauglich

A geht mit ihren angeleinten Hunden spazieren. Plötzlich entläuft B's Hund aus dessen eingezäunten Grundstück und trifft auf A's Hunde. Bei dem nachfolgenden Getümmel stürzt A, die ihre Hunde immer noch festhält, zu Boden und bricht sich den Arm. Sie begehrt von B Schadenersatz inklusive Schmerzensgeld.

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Einordnung des Falls

Fälle mit Tierbezug sind in der juristischen Ausbildung bei den Prüfungsämtern sehr beliebt. Während Pferde vor allem im Kaufmängelgewährleistungsrecht herangezogen werden, haben Hunde ihren großen Auftritt im Deliktsrecht. Der vorliegende Fall zwingt Prüflinge sich strukturiert mit den deliktischen Vorschriften und insbesondere den einzelnen Tatbestandsmerkmalen der Tierhalterhaftung (§ 833 S. 1 BGB) auseinanderzusetzen. Aufgrund der offenen Frage, was genau den Sturz der Klägerin verursacht hat, eignet sich die Fallgestaltung zudem gut, um im zweiten Examen das Verständnis von Referendar:innen im Hinblick auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zu schulen.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat A gegen B einen Schadensersatzanspruch aufgrund einer unerlaubten Handlung (§ 823 Abs. 1 BGB).

Nein!

Eine eigene Handlung des B, welche zu den Verletzungen der A geführt hat, liegt nicht vor. Grundsätzlich besteht zwar eine Aufsichtspflicht des Hundehalters über sein Tier, maßgeblich ist die im Verkehr erforderliche Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB). Diese hat B durch Einzäunung seines Grundstücks erfüllt. Die Pflicht umfasst nicht, den Hund auf dem privaten Grundstück permanent anzuleinen.
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2. Beinhaltet die Tierhalterhaftung des § 833 BGB in S. 1 den Fall einer Gefährdungshaftung?

Genau, so ist das!

Der Anspruch setzt voraus (1) Rechtsgutsverletzung (Gesundheitsschädigung, Körperverletzung oder Sachbeschädigung), (2) Verursachung durch ein Tier (= Verwirklichung der „spezifischen“ Tiergefahr), (3) Haltereigenschaft des Anspruchsgegners, (4) Kein Ausschluss gemäß § 833 Satz 2 BGB (5) Kausaler Schaden (§§ 249 ff. BGB). Im Unterschied zum Grundtatbestand des § 823 Abs. 1 BGB ist das Verschulden der verletzenden Handlung nicht erforderlich (Gefährdungshaftung). Infolge der spezielleren Voraussetzungen der Tierhalterhaftung wäre § 833 Satz 1 BGB grundsätzlich vor § 823 Abs. 1 BGB zu prüfen.

3. Liegt eine Rechtsgutsverletzung vor?

Ja, in der Tat!

§ 833 BGB schützt Leben, Gesundheit sowie bewegliche und unbewegliche Sachen. Indem A sich beim Sturz den Arm gebrochen hat, hat sie eine Körperverletzung erlitten.

4. Ist die Rechtsgutverletzung „durch ein Tier verursacht“, wenn sich im Verhalten des Tieres spezifische oder typische Gefahren der Natur des Tieres verwirklicht hat?

Ja!

§ 833 S. 1 BGB stellt höhere Anforderungen an den Zurechnungszusammenhang zwischen dem tierischen Verhalten und dem Schaden im Vergleich zur üblichen Kausalitätsprüfung zwischen verursachender Handlung und Rechtsgutsverletzung (haftungsausfüllende Kausalität). Entscheidend ist die Realisierung einer spezifischen Tiergefahr. Eine typische Tiergefahr zeigt sich durch ein der tierischen Natur entsprechendes unberechenbaren und selbstständigen Verhalten des Tieres (Wagner, in: MüKoBGB 8.A. 2020 § 833 RdNr. 15).

5. Ist, im Getümmel zu Boden zu stürzen, eine Realisierung der spezifischen Tiergefahr und daher als - Verursachung durch B's Hund – zurechenbar (§ 833 S. 1 BGB)?

Genau, so ist das!

OLG: Die Rechtsgutsverletzung (hier Körperverletzung) müsse ihre Ursache in der Verwirklichung spezifischer oder typischer Gefahren der Natur des Tieres haben, hierbei genüge auch eine adäquate Mitverursachung. Erforderlich sei eine von keinem vernünftigen Wollen geleitete Entfaltung der tierischen Kraft und des tierischen Wesens (RdNr. 4 f.). Der frei laufende Hund des B rannte auf A's Hunde zu, ohne dass A die Möglichkeit zur Reaktion verblieben wäre. Dies ist als unberechenbares, tierisches Verhalten zu identifizieren und damit die Realisierung einer spezifischen Tiergefahr.

6. Ist Anspruchsgegner B Tierhalter?

Ja, in der Tat!

Halter eines Tieres ist, wer das Tier in seinem eigenen Interesse auf längere Dauer in seiner Gewalt oder Obhut hat, auf Eigentum kommt es nicht an. Da der Hund nach dem Sachverhalt B gehört, ist anzunehmen, dass B auch auf längere Dauer in eigenem Interesse die Gewalt über das Tier hat.

7. Es besteht Unklarheit darüber, weshalb die A konkret gestürzt ist: Liegt daher die Annahme einer Schadensverursachung durch ein Tier fern?

Nein!

OLG: Der Sturz der A stelle eine unmittelbare Folge auf das Getümmel der Tiere dar. Das Verhalten von B's Hund sei wiederum der Auslöser für das Getümmel gewesen. Dieses unkontrollierte Umherlaufen von Hunden als Reaktion auf ein Zusammentreffen mit anderen Hunden, stelle eine typische, tierische Verhaltensweise dar. Wie konkret der Sturz verursacht wurde, sei unerheblich (RdNr. 5). Auch würde eine Mitverursachung durch das Tier bereits ausreichen.

8. Ist der A, obwohl ihre Hunde angeleint waren, ein Mitverschulden anzurechnen?

Genau, so ist das!

Ursache für den Sturz waren weder ausschließlich B's Hund noch die Hunde der A, sondern das „Getümmel“. Da ihre Hunde daran ebenso beteiligt waren, muss sich A die von den eigenen Hunden ausgehende mitursächliche Tiergefahr anspruchsmindernd anrechnen lassen. Zu berücksichtigen ist, dass Initiator des Getümmels der frei laufende Hund des B war. Das OLG bewertet das Mitverschulden der A mit einem Drittel (RdNr. 7). Zusätzlich zum Ersatz der Behandlungskosten steht ihr ein angemessenes Schmerzensgeld zu (§ 253 Abs. 2 BGB). Beim Schmerzensgeld ist terminologisch darauf zu achten, dass das Mitverschulden bereits bei der Bestimmung der Schmerzensgeldhöhe als einer von mehreren Bemessungsfaktoren zu berücksichtigen ist. Bei anderen Schadenspositionen erfolgt dagegen zunächst die Ermittlung des Gesamtschadens, der dann quotal um den Mitverschuldensanteil gekürzt wird (§ 254 Abs. 1 BGB).
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du einen Schadensersatzanspruch aus Tierhalterhaftung (§ 833 S. 1 BGB)?

  1. Tatbestand
    1. Rechtsgutsverletzung (Personen- oder Sachschaden)
    2. Schadenverursachung durch ein Tier
      1. Haftungsbegründende Kausalität (Äquivalenztheorie)
      2. Spezifische Tiergefahr (Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens)
    3. Anspruchsgegner ist Tierhalter
    4. Kein Ausschluss gemäß § 833 S. 2 BGB (Nutztierprivileg)
  2. Rechtsfolge: Schadensersatz
    1. Ersatzfähiger Schaden (§§ 249 ff. BGB)
    2. Kausalität zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden
    3. Mitverschulden des Anspruchstellers (§ 254 BGB)?

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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

NI

Nikolas

9.12.2020, 16:59:01

Interessant für Klausuren wird’s wohl wenn man § 823 I BGB noch bejahen kann (VSP). Dann müsste B nach § 840 II analog alleine haften.

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

6.3.2021, 16:16:11

@Nikolas, an welche genaue Konstellation haben Sie gedacht?

NI

Nikolas

12.3.2021, 13:02:00

Wenn B zusätzlich zur Halterhaftung auch eine Verkehrssicherungspflicht verletzt hätte (->§823 (+)). Konkret: Bspw. wenn das Grundstück nicht umzäunt gewesen wäre.

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

12.3.2021, 23:51:42

@Nikolas, die analoge Anwendung des § 840 Abs. 2 ist mir noch nicht ganz ersichtlich, haben Sie eine Literaturempfehlung? In Brox/Walker 41. Aufl. § 52 Rn. 15a wird die von Ihnen beschriebene Konstellation wie folgt gelöst: „Nach dem Rechtsgedanken des § 840 III [!] tritt die Gefährdungshaftung des Geschädigten [hier A] hinter der Verschuldenshaftung [wegen der VSP] des Schädigers [hier B] zurück“.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

27.7.2021, 01:32:07

@lexderogans: in der Tat ist in den Fällen, in denen der Tierhalter (A) selbst geschädigt wird und der anderen Tierhalter (B) neben der

Tierhalterhaftung

nach § 833 S. 1 BGB eine Verschuldenshaftung aus § 823 Abs. 1 BGB trifft (zB wegen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten), § 840 Abs. 3 BGB analog anzuwenden (BeckOGK/Förster, 1.7.2021, § 840 Rn. 67). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

VALA

Vanilla Latte

22.2.2024, 03:02:11

Also würde das Mitverschulden der A dann nicht angerechnet werden?

CAR

Carl

15.12.2020, 08:11:42

Wie sieht es hier eig mit 830, 833 aus?

Mr_Monsense

Mr_Monsense

29.12.2020, 16:12:35

Gibt es mE keinen Anhaltspunkt für. Die Kausalität ist doch zweifelsfrei.

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

6.3.2021, 16:14:51

@Mr_Monsense, § 830 Abs. 1 S. 1 bezieht sich m. E. nicht auf Fälle der zweifelhaften Kausalität

Mr_Monsense

Mr_Monsense

6.3.2021, 16:27:06

@LEXDEROGANS Das sehe ich auch so. Allerdings bezog sich die Frage nach "830, 833 BGB" nicht ausdrücklich auf § 830 Abs. 1 S. 1 BGB. Ich ging davon aus, dass S. 2 gemeint war, der sich anders als S. 1 sehr wohl auf die zweifelhafte Kausalität bezieht. Für S. 1 sehe ich in diesem Fall keinen Anwendungsbereich. Die entscheidende Frage ist ja, wessen Hund den Sturz verursacht hat.

Mr_Monsense

Mr_Monsense

6.3.2021, 16:30:15

2/2 Oder jedenfalls liegt hier keine gemeinsame Begehung (S. 1) vor.

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

6.3.2021, 23:13:50

@Mr_Monsense, guter Punkt! Selbst wenn man annimmt, dass beide eine unerlaubte Handlung durch Nichtanleinen der Hunde begangen haben, mangelt es ja an der gemeinschaftlichen Begehung!

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

27.7.2021, 01:41:23

Hallo zusammen, in der Tat scheidet hier eine Anwendung des § 830 Abs. 1 S. 1 BGB aus mehreren Gründen aus. Im Hinblick auf die Gefährdungshaftung nach § 833 S. 1 BGB kann § 830 Abs. 1 BGB schon im Hinblick auf den Anwendungsbereich nicht greifen. Denn dieser umfasst eben nur die "vorsätzliche" Deliktsverwirklichung. §833 S. 1 BGB stellt indes eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung für die das voluntative Elemeent überhaupt keine Rolle spielt (BeckOGK/Förster, 1.7.2021, BGB, § 830 Rn. 10). Und im Hinblick auf eine evtl. Verschuldenshaftung nach § 823 Abs. 1 BGB fehlt es - wie ihr völlig zutreffend angemerkt habt, an einer gemeinschaftlichen Verwirklichung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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