Relative Unverhältnismäßigkeit § 439 Abs. 4 BGB


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Klassisches Klausurproblem
Neues Kaufrecht 2022

Anwältin A kauft bei Handyhändler H für ihre selbstständige berufliche Tätigkeit ein neues iPad Pro für €1.500. Als nach einem Monat einer der Lautstärkeregler abfällt, verlangt sie von H Lieferung eines neuen iPads (Kosten: €500). H verweigert dies und will lieber das iPad reparieren (Kosten: €5).

Einordnung des Falls

Relative Unverhältnismäßigkeit § 439 Abs. 4 BGB

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 3 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist die Kaufsache bei Gefahrübergang mangelhaft, kann der Käufer Nacherfüllung verlangen (§§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 BGB).

Ja!

Ist die Sache mangelhaft, kann der Käufer nach § 439 BGB Nacherfüllung verlangen (§ 437 Nr. 1 BGB). Er kann dabei als Nacherfüllung nach seiner Wahl die Beseitigung des Mangels (Nachbesserung) oder die Lieferung einer mangelfreien Sache (Nachlieferung) verlangen (§ 439 Abs. 1 BGB). An eine einmal getroffene Wahl ist der Käufer nach hM bis zur Vornahme der Nacherfüllung grundsätzlich nicht gebunden (Grenze: § 242 BGB). Der Käufer muss bei der Geltendmachung des Nacherfüllungsverlangens anbieten, dem Verkäufer am Erfüllungsort eine Untersuchung der erhobenen Mängelrügen zu ermöglichen (seit 1.1.2022 in § 439 Abs. 5 BGB kodifiziert).

2. Der Verkäufer könnte die Nachlieferung verweigern, wenn diese nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich wäre (§ 439 Abs. 4 BGB).

Genau, so ist das!

Der Verkäufer kann über die Fälle der §§ 275 Abs. 2, 3 BGB hinaus die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung verweigern, wenn sie nur unter unverhältnismäßigen Kosten möglich ist (§ 439 Abs. 4 S. 1 BGB). Ebenso wie bei § 275 Abs. 2 und 3 und handelt es sich um eine Einrede, auf die sich der Verkäufer berufen kann, aber nicht muss. § 439 Abs. 4 erfasst zwei Varianten: (1) Unverhältnismäßigkeit der gewählten Nacherfüllungsart im Vergleich mit der anderen Art der Nacherfüllung, wodurch der Verkäufer nur die andere Art vornehmen muss (relative Unverhältnismäßigkeit) und (2) Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung insgesamt im Vergleich mit dem Interesse des Käufers an der Nacherfüllung, wodurch die Nacherfüllung insgesamt verweigert werden kann (absolute Unverhältnismäßigkeit).

3. Die Nachlieferung ist hier relativ unverhältnismäßig.

Ja, in der Tat!

Ob relative Unverhältnismäßigkeit vorliegt, ist aufgrund eines Vergleichs der beiden Arten der Nacherfüllung festzustellen. Dabei ist abzuwägen zwischen dem Interesse des Verkäufers an der Minimierung seiner Kosten und dem Interesse des Käufers, gerade die gewählte (und nicht die andere) Art der Nacherfüllung zu erhalten. Zentrales Abwägungselement sind die Kosten, die die beiden Formen der Nacherfüllung dem Verkäufer verursachen. Relativ unverhältnismäßig kann immer nur eine der beiden Arten der Nacherfüllung sein, nämlich diejenige, die dem Verkäufer höhere Kosten verursacht als die andere. Ist eine Art der Nacherfüllung wegen Unmöglichkeit ausgeschlossen, stellt sich die Frage der relativen Unverhältnismäßigkeit nicht. Hier sind die Kosten einer Nachlieferung um ein Vielfaches höher, sodass V diese wegen relativer Unverhältnismäßigkeit verweigern kann.

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Juramaus

Juramaus

25.4.2022, 17:26:52

Wieso sind die Kosten einer Nachlieferung um ein vielfaches höher hier? Wenn die Nachbesserung wirklich nur 5 Euro kostet, könnte V doch auch das gebrauchte iPad zurücknehmen und bei sich reparieren, um es dann weiter zu verkaufen oder nicht? Natürlich entstehen dann noch ein bisschen Versandkosten und eventuell muss ein Abschlag vom Preis beim Zweitverkauf gemacht werden. Aber sehe jetzt nicht, dass das absolut unverhältnismäßig ist. Ich habe das Gefühl, dass für die Lösung hier 1.500 Euro mit 5 Euro verglichen wurde, was mMn nicht der Realität entsprechen würde, wenn man den Fall mal weiterdenkt. Oder unterliege ich hier einem Denkfehler?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.5.2022, 13:32:06

Hallo Juramaus, vielen Dank für den Hinweis. Wir haben den Sachverhalt entsprechend ergänzt. Falsch wäre es hier in der Tat die €1.500 mit den €5 zu vergleichen. Zwar ist der Wert der Sache immer der Ausgangspunkt. Im nächsten Schritt sind weitere Kosten wie Transport noch zu berücksichtigen. Aber in der Tat ist sodann der Wert der zurückzugebenden Sache abzuziehen sowie ggfs. auch ein bestehender Nutzungsersatzanspruch, den der Verkäufer ggü. dem Käufer evtl. hat (vgl. Höpfner, in: BeckOGK-BGB, 1.1.2022, § 439 RdNr. 146). Bei dem Verkauf von neuer Sachen ist dabei aber zu berücksichtigen, dass unabhängig von der objektiven Beschaffenheit die Sache bereits dadurch einen erheblichen Wertverlust erleidet, dass sie nun nur noch als Gebrauchtware verkauft werden kann. Inwieweit dieser groß genug ist, um die Nachlieferung gänzlich auszuschließen, ist dann letztlich eine Frage des Einzelfalls. In diesem Fall betragen die Nachlieferungskosten das 100-fache der Reparaturkosten, weswegen von der Unverhältnismäßigkeit ausgegangen werden kann. Ein derart hoher Wertverfall läge in der Praxis wohl noch nicht vor, dient hier aber dazu, den Fall eindeutig zu gestalten :-) Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

RAP

Raphaeljura

12.6.2023, 00:09:17

Wie ist den der § 275 II BGB von dem § 439 IV 1 BGB abzugrenzen? Nach § 439 IV 3 BGB kann der Verkäufer beide Nacherfüllungsarten verweigern.

DAV

David.

13.7.2023, 18:47:08

Bei § 439 IV handelt es sich um eine

wirtschaftliche Unmöglichkeit

seinrede, die Anforderungen sind allerdings geringer als bei § 275 II. Im Anwendungsbereich der Nacherfüllung wird § 275 II deswegen von § 439 IV praktisch verdrängt.

NATA

nataliaco

17.11.2023, 13:58:23

Liebes Jurafuchs-Team, wenn der Käufer sein Wahlrecht bzgl. der Art der Nacherfüllung ausgeübt hat und diese Art entweder fehlgeschlagen ist, vom Verkäufer nach § 439 IV verweigert wurde oder sonst wie nicht erbracht wird/werden kann, ist der Käufer dann wegen des Vorrangs der Nacherfüllung trotzdem verpflichtet, zuerst die andere Art der Nacherfüllung zu verlangen, oder kann er direkt die anderen Gewährleistungsrechte geltend machen?

LELEE

Leo Lee

18.11.2023, 14:49:35

Hallo nataliaco, auf deine Frage gibt es zwar in den Kommentaren keine Stelle, die mit „Ja“ oder „Nein“ antwortet. Allerdings fordern die anderen Gewährleistungsrechte (Rücktritt etwa) nur, dass eine Nachfrist gesetzt wurde (also bei §§ 437 ff. die Nacherfüllungsfrist) und mehr nicht. Und bei § 439 I hat der Käufer die Wahl, welche Modalität er verlangt (es sei denn natürlich, eine Modalität ist unmöglich gem. § 275). Daraus lässt sich schließen, dass es ausreicht, dass der Käufer sich für eine Nacherfüllungsmöglichkeit der Wahl entscheidet und sich dann auf Gewährleistungsrechte berufen kann, wenn dieser Nacherfüllungsmöglichkeit nicht nachgekommen wird. Hierzu kann ich die Lektüre von MüKo-BGB 9. Auflage, Ernst § 323 Rn. 48 und 8. Auflage, Westermann § 439 Rn. 6 empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo


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