Abwandlung zum obigen Fall - Besitzwehr gem. § 859 Abs. 1 BGB: Eingesetztes Gewaltmittel ist nicht erforderlich.


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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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Fahrraddieb D knackt das Schloss, welches das Fahrrad des E sichert. Gerade als D aufsteigen möchte, kommt E hinzu. E schießt auf D, um ihn am Wegfahren zu hindern. E hätte D auch vom Fahrrad stoßen können, statt zu schießen.

Einordnung des Falls

Abwandlung zum obigen Fall - Besitzwehr gem. § 859 Abs. 1 BGB: Eingesetztes Gewaltmittel ist nicht erforderlich.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 4 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. E hat den unmittelbaren Besitz an dem Fahrrad verloren, als D damit wegfahren wollte.

Nein, das trifft nicht zu!

Besitz (§ 854 Abs. 1 BGB) ist die von einem natürlichen Herrschaftswillen (subjektives Element) getragene tatsächliche Sachherrschaft (objektives Element) über eine Sache. Tatsächliche Sachherrschaft setzt voraus, dass die Person eine realisierbare Möglichkeit zur Einwirkung auf die Sache hat. E kann hier noch auf das Fahrrad zugreifen, da D noch nicht weggefahren ist.

2. D hat den Besitz des E am Fahrrad durch verbotene Eigenmacht (§ 858 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) beeinträchtigt.

Ja!

Verbotene Eigenmacht (§ 858 Abs. 1 BGB) ist jede widerrechtlich vorgenommene Beeinträchtigung des unmittelbaren Besitzers in der Ausübung seiner tatsächlichen Sachherrschaft. Widerrechtlich ist die Besitzbeeinträchtigung, wenn sie ohne den Willen des Besitzers erfolgt und gesetzlich nicht besonders gestattet ist. Die Beeinträchtigung kann in einer Sachentziehung oder in einer sonstigen Störung bestehen.D war im Begriff, E den Besitz an dem Fahrrad zu entziehen. Dazu hatte er kein Recht. Diese Bedrohung des unmittelbaren Besitzes stellt zwar noch keine Besitzentziehung, aber jedenfalls eine Besitzstörung dar.

3. E kann sich in dieser Situation grundsätzlich auf das Selbsthilferecht aus § 859 Abs. 1 BGB berufen.

Genau, so ist das!

Es gibt unterschiedliche Ausprägungen des Besitzschutzes im BGB. Eine davon sind die Gewaltrechte der §§ 859, 860 BGB, die dem Vorbesitzer ohne Einschaltung eines Gerichts ein Selbsthilferecht geben. Die Voraussetzungen für die Selbsthilfe des unmittelbaren Besitzers (§ 859 Abs. 1 BGB) sind: (1) (vorheriger) unmittelbarer Besitz oder Besitzdienerschaft, (2) verbotene Eigenmacht des Täters. Darüber hinaus bedarf es (3) der Verhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung. E war unmittelbarer Besitzer. D wollte ihm den Besitz durch verbotene Eigenmacht entziehen. Fraglich ist, ob der Schuss ein verhältnismäßiges Verteidigungsmittel darstellt.

4. Durfte E auf D schießen, um die drohende Besitzentziehung abzuwenden (§ 859 Abs. 1 BGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Besitzwehr (§ 859 Abs. 1 BGB) und Besitzkehr (§ 859 Abs. 2, 3 BGB) erlauben es dem bisherigen Besitzer jedes Gewaltmittel einzusetzen, das geeignet und erforderlich ist, um den Besitz wiederzuerlangen, und nicht rechtsmissbräuchlich ist. Gewaltmittel sind dann nicht erforderlich, wenn mildere, gleich erfolgversprechende Mittel existieren. Wie bei der Notwehr (§ 227 BGB) ist eine Güterabwägung aber nicht notwendig. Der Schuss des E auf D war geeignet, um die drohende Besitzentziehung durch D zu beenden. Er war jedoch nicht erforderlich, da E den D auch vom Fahrrad hätte stoßen können.

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Vulpes

Vulpes

16.2.2021, 09:41:05

Ich weiß das der Begriff Gewahrsam und Besitz nicht identisch sind, aber dennoch: Im Strafrecht wurde uns gegenüber steif und fest behauptet, dass der Dieb jedenfalls dann Gewahrsam begründet hat, wenn er ein/ zwei Mal in die Pedale getreten hat. Das ist unproblematisch (vgl auch Bosch in Übungen zum Strafrecht Fall 15). Der Gewahrsam sei lediglich nicht gesichert. Kann mir jemand erklären, warum der E noch tatsächliche Sachherrschaft ausübt, nur weil er doch an den D ran kommt?

Fiat Iustitia!

Fiat Iustitia!

21.5.2021, 10:13:19

Hi Adrian, vllt haben dich da Bild und Text etwas verwirrt. (mich auch erst). Im Text steht ja "gerade als er aufsteigen will". Der Dieb hat hier also den Eigentümer noch nicht dadurch des Besitzes entsetzt, dass er bereits in die Pedale tritt und wegfährt

FUCH

Fuchsfrauchen

31.10.2022, 22:10:57

Was ist eigentlich die (Rechts)folge von § 859? Der Besitz geht ja erstmal unabhängig von der Verhältnismäßigkeit des Selbsthilfeakts an den ursprünglichen Besitzer zurück. Wie würde sich das in einem Gutachten weiter auswirken, ob hier der Verhältnismäßigkeitgrundsatz eingehalten bzw. nicht wurde? Danke!

Nora Mommsen

Nora Mommsen

3.11.2022, 13:14:07

Hallo Fuchsfrauchen, danke für deine Frage. § 859 BGB kann zum Beispiel ein Rechtfertigungsgrund im Deliktsrecht sein, aber natürlich nur wenn alle Voraussetzungen gegeben sind. Ist dies nicht der Fall handelt der in vermeintlicher Selbsthilfe Handelnde unrechtmäßig und haftet entsprechend. Der Besitzstörende darf wiederum keine Notwehr üben, da er nicht in rechtswidriger Weise angegriffen wird. Auch findet der § 859 BGB Berücksichtigung im Strafrecht. Zudem entsteht schon durch die verbotene Eigenmacht ein gesetzliches Schuldverhältnis, auf das auch der § 241 Abs. 2 BGB Anwendung findet, sodass bei Überschreiten der Verhältnismäßigkeit Schadensersatz auch nach §§ 280 ff. BGB in Frage kommt. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

LEN

Lenny

2.5.2023, 13:34:48

Mag vielleicht trivial sein, aber kann es zeitgleich zwei unmittelbare Besitzer einer Sache geben? Am subjektiven Element wird es wahrscheinlich nicht scheitern, aber wie sieht es mit der tatsächlichen Sachherrschaft aus?

Edward Hopper

Edward Hopper

2.5.2023, 16:30:12

Ja. Alle Formen des Besitzes können auch gemeinschaftlich ausgeübt werden. Somit gibt es durchaus unmittelbaren Mitbesitz. Vergleiche auch 866. Dazu gibt es natürlich Ausnahmen. Aber tatsächlich ist es ja am unproblematischsten (Eheleute im selben Haus, Erbenbesitzer usw)

LEN

Lenny

2.5.2023, 19:30:22

Danke für die Antwort, meine Verwirrung war wohl der Definition der tatsächlichen Sachherrschaft geschuldet. Schließlich kann man ja darüber nachdenken, ob es begriffslogisch möglich ist, überhaupt die tatsächliche Herrschaft über eine Sache, wenn eine andere Person gleichsam dieselbige hat. Ich vermute, die Verwirrung kann man über das normative korrektiv der verkehrsanschauung, die im sachherrschaftsbegriff verankert ist und/oder mit bezugnahme auf 856 II BGB beseitigen?

Edward Hopper

Edward Hopper

2.5.2023, 22:18:06

Da musst du aufpassen . Der 856 abs 2 hat mit Mitbesitz nichts zu tun. Dabei geht es mehr um die

Besitzdiener

fälle oder wenn jemand was versteckt oder kurz vereist usw. Außerdem hat der Gesetzgeber dir diese Entscheidung abgenommen und gesagt das geht. Insoweit brauchst du dir da null Gedanken machen

LEN

Lenny

3.5.2023, 06:25:12

Das macht Sinn, vielen Dank für die Hilfe :)

Nora Mommsen

Nora Mommsen

3.5.2023, 10:23:21

Hallo ihr beiden, es muss deutlich differenziert werden.Mehrfacher unmittelbarer Besitz ist möglich. Man denke an einen Briefkasten, der mit einem Schlüssel zu öffnen ist. Dort lässt sich unproblematisch argumentieren, dass alle Schlüsselinhaber die Sachherrschaft über den Briefkasten haben. Ob es auch mehrfachen mittelbaren Besitz geben kann ist allerdings sehr umstritten. Für diese Konstellation hat sich der Begriff "Nebenbesitz" etabliert. Nach einer Ansicht wird mit der Begründung des mittelbaren Besitzes für einen Dritten der bisher bestehende mittelbare Besitz beseitigt. Dies läge daran, dass sich der Fremdbesitzerwille auf eine andere Person richtet und zudem der Nebenbesitz nicht gesetzlich vorgesehen sei. Eine andere Ansicht erkennt den Nebenbesitz, als nicht gesetzlich normierte Form des Besitzes an. Der Numerus Clausus des Sachenrechts könnte für die erste Ansicht sprechen. Es ist also nicht so, dass unproblematisch alle Besitzformen mehrfach auftreten können. Es können aber die unterschiedlichen Besitzformen nebeneinander auftreten. Ein

Besitzdiener

besitzt für einen unmittelbaren Besitzer, der wiederum zeitgleich mit Fremdbesitzerwillen für einen mittelbaren Besitzer den Besitz mittelt. Ich hoffe die Rechtslage ist euch nun etwas klarer. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team

LEN

Lenny

5.5.2023, 07:05:50

Vielen Dank für die Erläuterung, das hilft mir sehr, einen Überlick zu bekommen

EVA

evanici

14.9.2023, 12:28:59

Hinsichtlich des Verhältnisses von § 859 I und II/III ist I hier ja einschlägig, weil der Besitz noch nicht entzogen wurde. Ist II/III denn lex specialis zu I, wenn der Entzug bereits eingetreten ist? Und der Oberbegriff für beide Situationen wäre Beeinträchtigung, nicht Störung, richtig? Störung und Entzug schließen sich insoweit aus?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.10.2023, 11:05:53

Hallo evanici, richtig unter der verbotenen Eigenmacht versteht man eine widerrechtliche Beeinträchtigung des Besitzes. Beeinträchtigung ist insoweit der Oberbegriff zu Entziehung und Störung. Ebenfalls richtig ist, dass die Besitwehr nach § 859 Abs. 1 BGB tatbestandlich den gegenwärtigen Besitz voraussetzt. Ist der Besitz also bereits vollständig entzogen, so greift § 859 Abs. 2, 3 BGB (MüKoBGB/F. Schäfer, 9. Aufl. 2023, BGB § 859 Rn. 5). Da hier allerdings bislang nur ein Angriff auf den Besitz vorliegt und kein vollständiger Entzug, liegt hier bislang nur eine Besitzstörung vor. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

LAURA

Laura

9.10.2023, 11:21:09

Ich hätte eine Frage bezüglich des unmittelbaren Besitzes. In der Aufgabe davor, bei der, der Dieb eine Tasche klaut jedoch verfolgt wird, erlangt der Dieb unmittelbaren Besitz. In dieser Aufgabe erlangt er noch keinen unmittelbaren Besitz. Worin besteht der Unterschied in den beiden Konstellationen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

11.10.2023, 11:11:01

Hallo Laura, der entscheidende Unterschied liegt darin, dass der Besitzentzug hier noch nicht vollständig abgesschlossen ist. Laut Sachverhalt steigt D gerade erst auf, sodass E noch nicht gänzlich aus seiner Herrschaftsposition verdrängt wurde und insofern noch als gegenwärtiger Besitzer angesehen werden kann. Würde D nun allerdings losfahren, hätten wir einen vollständigen Entzug der Sachherrschaft. In diesem Fall wäre mangels Besitz des E eine Besitzwehr nach § 859 Abs. 1 BGB ausgeschlossen. Ihm stünden dann aber die Gewaltrechte nach §§ 859 Abs. 2, 3 BGB zur Verfügung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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