„Bordeaux-Fall“

9. Mai 2023

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Bordeaux-Fall (AG Bad Canstatt 16.3.2012 , 12 C 3263/11): Eine Frau möchte einen Flug nach Porto buchen. Aufgrund ihres starken Akzents versteht die Angestellte "Bordeaux" und bucht einen Flug nach Bordeaux.

Die aus Sachsen stammende S möchte gerne einen Flug nach Porto buchen. Aufgrund ihres starken Dialekts versteht die Angestellte A nach mehrfacher Nachfrage „Bordeaux“ und nennt S eine entsprechende Flugroute. Da S diese bestätigt, bucht A den entsprechenden Flug.

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Einordnung des Falls

„Bordeaux-Fall“

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat S ein Angebot zur Buchung eines Flugs nach Porto abgegeben?

Nein, das ist nicht der Fall!

Das Angebot ist nach dem wahren Willen und dem objektiven Empfängerhorizont unter Beachtung der Verkehrssitte und Treu und Glauben auszulegen (§§ 133, 157 BGB). Der wahre Wille der S war auf die Buchung eines Flugs nach Porto gerichtet. Bei der Auslegung muss aber auch der Empfängerhorizont berücksichtigt werden. Trotz mehrfacher Nachfrage klang die Buchung auf Hochdeutsch wie „Bordeaux“. Ein objektiver Empfänger durfte davon ausgehen, dass S ein Angebot zur Buchung eines Flugs nach Bordeaux abgegeben hat. Aus Verkehrsschutzgründen überlagert der Empfängerhorizont den wahren Willen des Erklärenden.
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2. Kann S ihre Willenserklärung anfechten (§§ 119 Abs. 1 Alt. 1, 142 Abs. 1 BGB)?

Ja, in der Tat!

In bestimmten Fällen (§§ 119 ff. BGB) macht das Gesetz eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass Verträge bindend sind („pacta sunt servanda“) und erlaubt die Anfechtung (§ 142 Abs. 1 BGB). Bei einem Inhaltsirrtum (§ 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB) besteht eine Diskrepanz zwischen dem Erklärten und dem Gewollten. Die Auslegung des wahren Willens ergibt, dass S einen Flug nach Porto buchen wollte. Objektiv hat sie jedoch ein Angebot zur Buchung eines Fluges nach Bordeaux abgegeben. Das Erklärte und das Gewollte fallen unbewusst auseinander, was eine Anfechtung ermöglicht. Unter Umständen ist S zum Schadensersatz verpflichtet (§ 122 BGB).
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

DO

DonQuiKong

25.2.2020, 08:04:35

Ist das dann ein Inhaltsirrtum “bodoh bedeutet gar nicht Porto“ oder ein erklärungsirrtum “bodoh nicht bodoh“

Henk

Henk

1.3.2020, 07:30:36

Sehr gute Frage. Ich würde einen Erklärungsirrtum annehmen (bin mir aber auch nicht ganz sicher). Die S muss sich ja das Wort Bordeaux zurechnen lassen. Als Gedankenstütze stelle ich mir vor, dass man der S handschriftlich das Wort vorlegt und sie sagen muss, ob es das ist, was sie will . Bei dem Wort Bordeaux würde sie nein sagen, denn sie verwechselt die Bedeutung nicht. Somit würde ich einen Erklärungsirrtum annehmen. Knackpunkt wäre bei mir, dass ich nicht auf bodoh abstelle, da der Begriff wohl nicht existiert, sondern auf den nächstmöglichen Begriff (Bordeaux) dem man das Akustische zuordnen kann.

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

14.3.2020, 22:16:17

@Henk, Ihnen ist m. E. insoweit zuzustimmen, als dass auf die Formulierung „Bordeaux“ abzustellen ist: Auslegung geht Anfechtung vor. Durch diesen Auslegungsschritt liegt aber womöglich doch ein Unterschied zu den typischen Erklärungsirrtumsfällen (wie z. B. Verschreiben: 100€ statt 1000€). Vielleicht kann sich kurz ein Jurafuchs-Mitarbeiter hierzu äußern...

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.3.2021, 12:03:03

Vielen Dank euch, für die interessante Rückfrage und guten Hinweise! In der Tat ist die Abgrenzung der beiden Irrtümer nicht immer ganz einfach. In der Praxis ist die Einordnung glücklicherweise nur von untergeordneter Bedeutung, da jedenfalls die Rechtsfolgen identisch sind. Insofern verwundert es nur wenig, dass sich das Amtsgericht hierzu nicht näher eingelassen hat. Besieht man sich indes die Definitionen für die beiden Irrtümer, so liegt vorliegend nach unserem Verständnis ein Inhaltsirrtum vor: Beim Erklärungsirrtum gibt der Erklärende seine Willenserklärung in einer Gestalt ab, in der er sie nicht abgeben wollte.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.3.2021, 12:06:41

Er unterliegt einem Irrtum in der äußeren (technischen) Erklärungshandlung; es missglückt ihm die praktische Umsetzung seines Erklärungswillens in eine diesen Willen zutreffend kundgebende Äußerung, indem er sich etwa verspricht, verschreibt oder vergreift Im Unterschied zum Erklärungsirrtum entspricht beim Inhaltsirrtum nach Abs. 1 Alt. 1 das äußere Bild der Willenserklärung dem Willen des Erklärenden. Indessen weicht der Bedeutungsgehalt, der dieser Erklärung vom

Empfängerhorizont

aus objektiv zuzumessen ist.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.3.2021, 12:07:09

Würde man S ihre eigene Aussage („bodoh“) noch einmal vorspielen und sie fragen, ob sie dies gesagt habe, würde sie dies bestätigen. Das äußere Bild (bzw. hier: der äußere Klang) entspricht insofern ihrem Willen. Was ihr indes nicht bewusst ist, ist, dass ein objektiver Empfänger, insbesondere bei mehrfacher Nachfrage, das nicht existierende Wort „bodoh“ als Bordeaux verstehen musste. Insofern irrt S hier über die aus objektiver Sicht zu verstehende Bedeutung des Wortes „bodoh“, weswegen insoweit ein Inhaltsirrtum vorliegt. Beste Grüße, Lukas – für das Jurafuchs-Team

GI

gizemthegemini

26.9.2021, 03:26:29

Sie erklärt genau das, was sie erklären wollte (einen Flug nach Porto), nur ist ihr nicht klar, was sie damit erklärt (einen Flug nach Bordeaux, weil sie von A falsch verstanden wird) - für mich ein Inhaltsirrtum

PIE

Pierre

6.6.2020, 10:03:48

Also wenn man nachfragen muss und unsicher bleibt , warum muss man dann nicht offenlegen, dass man es nicht versteht und auffordern zu buchstabieren? Als Profi sollte man das.

GEL

gelöscht

10.6.2020, 06:45:08

Hallo Pierre - sicherlich magst du Recht haben, dass man hier hätte nachfragen. Dazu gibt es aber keine gesetzliche Pflicht. Gäbe es diese im vorliegenden Fall, bedürfte es auch keiner Regelungen bezüglich eines Irrtums. Das ist hier die Lösung ☺

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

22.6.2020, 15:19:30

Danke für die Frage! Sie bezieht sich eher auf Sekundäransprüche (Gibt es vielleicht eine Schadensersatzpflicht für etwaig entstandene Schäden, wenn jemand unsicher ist, wie eine Erklärung zu verstehen ist, und zwar mehrfach nachfragt, aber nicht darum bittet, den Zielort zu buchstabieren). Hier geht es um Primäransprüche (ist ein Vertrag über die Flugbuchung nach Bordeaux zustande gekommen?). Zudem gibt der Sachverhalt uE nicht her, dass A nach ihren mehrfachen Nachfragen noch unsicher war, ob Bordeaux gemeint ist. Es heißt: A versteht … nach mehrfacher Nachfrage… Bordeaux.“

SO

Sonnenschein

29.12.2020, 00:14:28

Ich bin erstaunt, dass S ein Angebot zur Buchung machen soll. Es liegen doch noch gar nicht die essentialia negotii, wie Preis, Fluglinie etc vor. Auch steht noch gar nicht fest, ob das Reisebüro passendes anbieten kann. Ich finde, dass das Angebot erst durch das Reisebüro mit Nennung der gesamten Flugdaten erfolgt und die Annahme durch S.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

19.11.2021, 11:19:55

Hallo Sonnenschein, wir haben den Sachverhalt diesbezüglich noch etwas präzisiert. Im Originalfall kannst Du es Dir ungefähr so vorstellen: S ruft an und sagt Bodoh. A fragt mehrfach nach und sucht dann Verbindungen raus (inkl. Preis). Davon wählt S eine aus (Angebot) und A bucht diese dann verbindlich (Annahme). So jedenfalls das AG Cannstatt. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann man natürlich auch bereits in der Angabe der Flugrouten ein verbindliches Angebot sehen, dass dann durch Bestätigung der S bereits angenommen wurde - wie von Dir vorgeschlagen. Unabhängig davon wurde aber jedenfalls kein Angebot nach "Porto" abgegeben :-). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

KAT

Katzenkönigin🧞‍♀️

4.1.2021, 08:43:40

Hey, sächsisch ist kein Akzent, sondern ein Dialekt 😄 Ansonsten ist der Fall super zum Lernen. Vielen Dank für Eure Arbeit, viele Grüße 😊

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

8.1.2021, 11:41:29

Hey

Katzenkönig

in, danke für das Lob 😁 Du hast natürlich Recht, es ist ein Dialekt! Haben wir korrigiert!

CH

Christiane

25.11.2021, 18:51:58

Ich verstehe allgemein die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen nur teilweise. Kommt es nur auf den wirklichen Willen an, wenn der Empfänger diesen kannte? Weil in den Leveln am Anfang wurde gesagt, dass die WE grds. nach dem

objektiven Empfängerhorizont

auszulegen sind... Danach die Aufgaben waren mit dem wirklichen Willen zu lösen. Ehrlicherweise verstehe ich nach den Kapiteln noch weniger auf was es ankommt also ob auf den obj.

Empfängerhorizont

oder den wirklichen Willen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

26.11.2021, 10:10:33

Liebe Christiane, das tut uns sehr leid, dass Du durch die Beispiele verwirrt wurdest. Insofern finde ich es super, dass Du noch einmal nachfragst! Der GRUNDSATZ ist die Auslegung einer Willenserklärung nach dem

objektiven Empfängerhorizont

. Nicht maßgeblich soll damit grundsätzlich sein, was der Erklärende will, sondern was ein

objektiver Dritter

verstehen konnte. Dieser Grundsatz soll dem Rechtsverkehr dienen. Denn es ist leider (oder glücklicherweise?) nicht möglich, die Gedanken des Vertragspartners zu lesen. Würde der Vertrag nun ausschließlich davon abhängen, was dieser will, dann könnte man nie sicher sein, ob denn nun ein Vertrag zustande gekommen ist. Es muss außerdem ein

OBJEKTIVER Dritter

sein, weil der Erklärende wiederum nicht das Risiko tragen soll, dass der Empfänger aufgrund eines individuellen Mangels (zB Schwerhörigkeit) die Erklärung nicht versteht. Im vorliegenden Fall ist es also egal, wohin S tatsächlich will. Wenn sie für einen objektiven Empfänger einen Flug nach Bordeaux bucht, dann muss sie sich daran festhalten lassen. Bemerkt sie ihren Fehler, so kann sie anfechten (§ 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB) und den Vertrag rückwirkend beseitigen (

§ 142 BGB

). Dann muss sie ihrer Vertragspartnerin unter Umständen aber Schadensersatz zahlen (

§ 122 BGB

). Umgekehrt würde das gleiche für A gelten, wenn S objektiv Porto bucht und A aufgrund persönlicher Mängel Bordeaux versteht. Soviel zum Grundsatz. Nun zu der Ausnahmen der "

falsa demonstratio non nocet

", denn ohne diese würde das Studium nur halb so viel Spaß machen :D. Aber im Ernst - auch diese Ausnahme hat natürlich ihre Berechtigung. Wir haben oben ja festgestellt, dass die objektive Auslegung dem Schutz des Rechtsverkehrs dient. In den Fällen der beiderseitigen "Falschbezeichnung" bedarf es dieses Schutzes nicht. Der absolute Klassiker ist insofern der "

Haakjöringsköd

"-Fall (der vorherige Fall dieser Session). Wenn sowohl der Erklärende als auch der Empfänger Walfischfleisch handeln wollen, dann wäre es in der Tat gänzlich sinnwidrig sie nun an einem Vertrag über Haifischfleisch festzuhalten. Davon hätten beide nichts. In dieser Situation kommt es insoweit AUSNAHMSWEISE auf den WIRKLICHEN WILLEN des Erklärenden an. Ich hoffe dadurch wird es nun etwas klarer. Ansonsten melde Dich gerne noch einmal :-)! Beste Grüße, Lukas - für dass Jurafuchs-Team

IS

IsiRider

22.10.2022, 15:56:22

Und wann läge in Abgrenzung hierzu ein Dissenz vor?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

23.10.2022, 14:33:39

Hallo IsiRider, ein Dissens liegt nur dann vor, wenn sich im Wege der objektiven Auslegung gerade kein übereinstimmender Vertragsinhalt ermitteln lässt. Vorrang hat also immer erst die Auslegung. Liegt ein Dissens vor, so ist zu prüfen, ob er die wesentlichen Vertragsbestandteile betrifft, dann ist der Vertrag stets unwirksam (=

Totaldissens

). Betrifft der Dissens dagegen lediglich Nebenpunkte, so richtet sich die Wirksamkeit nach den §§ 154,

155 BGB

. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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