Öffentliches Recht
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Entscheidungen von 2019
Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts: Vollstreckung einer versammlungsrechtlichen Maßnahme
Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts: Vollstreckung einer versammlungsrechtlichen Maßnahme
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Bei einer Sitzblockade in der niedersächsischen Stadt B wird Demonstrantin D von Polizist P rechtmäßig aufgefordert, die Straße zu räumen. D weigert sich, sodass P sie zwangsweise von der Fahrbahn entfernt. D meint, für das zwangsweise Entfernen bestehe keine Rechtsgrundlage.
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Einordnung des Falls
Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts: Vollstreckung einer versammlungsrechtlichen Maßnahme
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 7 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. D kann mit der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) die Feststellung begehren, dass die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch P rechtswidrig war.
Nein, das ist nicht der Fall!
Jurastudium und Referendariat.
2. Im gesamten Bundesgebiet gilt das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG).
Nein, das trifft nicht zu!
3. Die Anordnung des P, die Straße zu räumen, beruht auf § 10 Abs. 2 S. 1 NVersG.
Ja!
4. Grundsätzlich gilt die „Polizeifestigkeit“ von Versammlungen, d.h. Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich in erster Linie nach dem einschlägigen Versammlungsgesetz.
Genau, so ist das!
5. Maßnahmen der Gefahrenabwehr bei Versammlungen können sich ausnahmsweise auch nach den Bestimmungen des Polizei- und Ordnungsrechts richten.
Ja, in der Tat!
6. Das niedersächsische Versammlungsgesetz enthält wie das Bundesversammlungsgesetz eigene Regelungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs, sodass P die Maßnahme nicht auf entsprechende polizeirechtliche Regelungen stützen kann.
Nein!
7. Die zwangsweise Durchsetzung der Anordnung durfte trotz der Polizeifestigkeit der Versammlungsfreiheit auf § 69 Abs. 1 NPOG gestützt werden.
Genau, so ist das!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Alex
10.8.2020, 15:54:45
Die Anwendung von Zwang wird häufig auch als VA angesehen, da eine
konkludente Duldungsverfügungimmanent ist. Evtl kann das bei der Antwort zur ersten Frage noch hinzugefügt werden
JV796
1.9.2020, 16:43:06
"Dulde meine Hiebe! Dulde!"
Alex
1.9.2020, 16:57:35
So ist es :D
Jan-Lukas S.
6.3.2021, 13:00:30
Lukas_Mengestu
28.7.2021, 13:11:54
Vielen Dank euch, für diesen Hinweis! In der Tat ist die "
konkludente Duldungsverfügung" nach wie vor in einigen Lehrbüchern zu finden, wird aber heute überwiegend abgelehnt. Wir haben trotzdem noch einen entsprechenden Vertiefungshinweis mit aufgenommen. Die L
ehrevon der
konkludente Duldungsverfügunghatte ihren Durchbruch spätestens mit der Entscheidung des BVerwG in den 60er Jahren, in der dem BVerwG das besondere Kunststück gelungen ist, aus einem rein tatsächlichen Vorgang (Polizist schlägt mit Knüppel zu) einen Verwaltungsakt zu konstruieren (BVerwG, Urt. v. 9.2.1967 - I C49.64=BVerwGE 26, 161 = "Schwabinger Krawalle"). Dieser Kunstgriff war indes sichtlich von dem Wunsch beseelt, den Betroffenen eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen das polizeiliche Handeln zu schaffen. Denn damals gab es primär Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, nicht aber die Möglichkeit nachträglich die Rechtswidrigkeit tatsächliches Handeln festzustellen. Heutzutage ist diese L
ehreindes weitgehend überholt und wird überwiegend abgelehnt. Gegen die
konkludente Duldungsverfügungwird zunächst eingewandt, dass hiermit unzulässigerweise von einem Eingriff auf das Bestehen einer Regelung geschlossen werde, was indes strikt zu trennen sei. Die Konstruktion der "
Duldungsverfügung" sei zudem rein künstlich und habe mit der Lebensrealität nichts zu tun. Das Bedürfnis für dieses Konstrukt sei zudem entfallen, da mittlerweile über § 43 VwGO auch die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit von schlichtem Verwaltungsakten möglich sei. Schließlich schaffe man sich bei Bejahung des Verwaltungsaktes zusätzliche Probleme im Hinblick auf die Bekanntgabe. Einen guten Überblick hierzu findet ihr u.a. Finger, Polizeiliche Standardmaßnahmen und ihre zwangsweise Durchsetzung - Rechtsnatur, Rechtsgrundlage und Rechtsschutz am Beispiel der Ingewahrsamnahme, JuS 2005, 116. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
13.6.2022, 00:00:58
@[JV796](26448) sag ich auch immer, wenn ich auf Hippies einprügle. 😌
iura novit curia👨🏼⚖️
24.4.2022, 20:01:10
Es würde sich hier vielleicht anbieten einen ähnlichen Fall abzufragen, der sich aber auf das VersammlG des Bundes stützt. Dann wäre es zumindest für die Leute, die nicht aus Niedersachsen kommen, lehrreicher.
Lukas_Mengestu
26.4.2022, 18:55:44
Hallo ZaWiGnY, vielen Dank für die Anregung. In den vergangenen beiden Jahren haben eine Reihe von weiteren Bundesländern nun eigene Versammlungsgesetze erlassen, sodass die Bedeutung des Bundesversammlungsgesetzes zunehmend schwindet. Insofern haben wir uns entschieden von einer Spiegelung abzusehen. Damit der Fall aber auch ohne Kenntnisse des niedersächsischen Rechts lösbar ist, haben wir hier den Fall etwas überarbeitet und insbesondere die entsprechenden Landestexte verlinkt. Ich hoffe, dies erleichtert die Bearbeitung. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
iura novit curia👨🏼⚖️
26.4.2022, 19:01:57
Vielen Dank!
Donald
24.3.2023, 10:22:30
Ich habe zu dieser Thematik eine Frage: Wie verhält es sich eigentlich, wenn die Polizei die Sitzblockade - welche ja in aller Regel unter den Versammlungsbegriff fallen wird - vorher auflöst? Kann sie sich dann uneingeschränkt auf die Vorschriften des jeweiligen Polizeirechts berufen, weil die aufgelöste Versammlung nicht mehr den Schutz des Artikel 8 genießt?
Lukas_Mengestu
24.3.2023, 10:37:31
Hallo Donald, die Anwendbarkeit des Versammlungsgesetzes und damit seine Sperrwirkung gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht ist an das Bestehen der Versammlung geknüpft. Das heißt, dass sie durch die Auflösung der Versammlung (§§ 13, 15 Abs. 3 VersG) beseitigt wird. An die Auflösung einer Versammlung werden allerdings hohe Hürden gestellt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
MusterschüLAW
4.12.2023, 20:20:46
Hallo Lukas, ich verstehe Donald so, dass man eine Versammlung schon in der Entstehung durch
Realaktunterbinden könnte und dann fraglich ist, ob das vom Polizeirecht gedeckt ist. Ich würde ablehnen, da ich sonst grundsätzlich verhindern kann, dass das jeweilige VersG überhaupt zur Anwendung kommt. Grüßle
Lukas_Mengestu
8.12.2023, 09:07:55
Hallo MusterschülLAW, vielen Dank für die Ergänzung. In der Tat muss man beim Versammlungsrecht sauber verschiedene Konstellationen differenzieren: a) die Polizei handelt, bevor eine Versammlung stattfindet, b) die Polizei handelt während eine Versammlung stattfindet, c) die Polizei handelt, nachdem eine Versammlung aufgelöst worden ist. Wichtig: Der Grundrechtsschutz von Artikel 8 GG ist weiter als der Anwendungsbereich der Versammlungsgesetze. Geschützt wird der gesamte Vorgang des sich Versammelns, also auch der Zugang und die Anreise (sog. Vorwirkung). Ein schönes Beispiel hierzu bietet der Tornado-Fall (https://applink.jurafuchs.de/50WwANAdmFb). Wie verhält es sich nun mit der
Polizeifestigkeit? Diese besagt grds., dass das Versammlungsgesetz als speziellere Norm dem allgemeinen Polizeirecht vorgeht. Allerdings nur soweit, wie das jeweilige Versammlungsgesetz Regelungen trifft. Im Vorfeld einer Versammlung (a) und nach Auflösung (c) kann also ohne weiteres auf die polizeirechtlichen Regelungen zurückgegriffen werden. Während der Versammlung (b) ist zu prüfen, inwieweit die Versammlungsgesetze Regelungen bereithalten. Im vorliegenden Fall fehlte es an einer entsprechenden Regelung im Versammlungsgesetz, sodass subsidiär auf das Polizeirecht zurückgegriffen werden konnte. Ich hoffe, jetzt wird es noch einmal verständlicher. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
MusterschüLAW
8.12.2023, 09:26:17
Hallo Lukas, ja, jetzt ist es verständlicher - besten Dank für die ausführliche Antwort!
YB13
17.10.2023, 08:50:34
Wenn das Bundesversammlungsgesetz gilt, gilt dann auch das Bundesverwaltungsvollstreckungsgesetz oder trotzdem die Vollstreckungsvorschriften des entsprechenden Bundeslandes (in meinem Fall HmbVwVG)? Die Einordnung gelingt mir leider momentan nicht….