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Korrektur des Rücktrittshorizont: aus beendetem Versuch wird unbeendeter Versuch - Jurafuchs

Korrektur des Rücktrittshorizont: aus beendetem Versuch wird unbeendeter Versuch - Jurafuchs

leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration: T irrt darüber, dass O ohne weiteres Zutun stirbt und erkennt gerade, dass dies nicht der Fall ist.

T verletzt O mit Tötungsvorsatz mit einer Waage und einem Hammer am Kopf und einem Brotmesser am Hals. T denkt, O werde sterben, und raucht eine Zigarette. Doch O beginnt um Hilfe zu rufen. T merkt, dass O überlebt. Er dämpft mit einem Kopfkissen die Laute, wobei er darauf achtet, dass O frei atmen kann. O überlebt.

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Einordnung des Falls

Diese Entscheidung des BGH beschäftigt sich mit der Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch. Das maßgebliche Kriterium ist, ob bei der letzten Ausführungshandlung der Erfolgseintritt aus Sicht des Täters ohne weiteres Zutun eintritt oder nicht (Rücktrittshorizont). Diese Einschätzung des Täters kann sich jedoch ändern. Hält der Täter zunächst alles Erforderliche für den Erfolgseintritt für getan, liegt ein beendeter Versuch vor. Findet er dann heraus, dass doch noch weitere Handlungen für den Erfolgseintritt notwendig wären, liegt doch ein unbeendeter Versuch vor (Korrektur des Rücktrittshorizonts).

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 6 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Ist ein Rücktritt (§ 24 Abs. 1 StGB) vom Versuch des Totschlags hier ausgeschlossen, da der Versuch des T fehlgeschlagen ist?

Nein!

Fehlgeschlagen ist der Versuch, wenn der Taterfolg aus Tätersicht mit den zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr erreicht werden kann, ohne dass eine neue Handlungs- oder Kausalkette in Gang gesetzt wird. Bilden bei mehraktigem Geschehensablauf mehrere Einzelakte ein einheitliches Geschehen, kommt es für die Beurteilung des Fehlschlags allein auf die subjektive Tätersicht nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung an (Gesamtbetrachtungslehre) (Fischer, 64.A. 2017, § 24 RdNr. 6f.). Die Schläge mit Waage und Hammer stellen keine fehlgeschlagenen Versuche dar. Sie sind zusammen mit dem aus Sicht des T erfolgreichen Messereinsatz zu beurteilen. Auch, dass T daraufhin erkannte, dass der Messerstich doch nicht zum Erfolg führen würde, führt nicht zum Fehlschlag, da T die Möglichkeit gehabt hätte, O erneut mit dem Messer zu attackieren.
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2. Ist ein Versuch beendet, wenn der Täter glaubt, alles zur Verwirklichung des Tatbestands Erforderliche getan zu haben?

Genau, so ist das!

Genau so ist das (Fischer, 65.A. 2018, § 24 RdNr. 14).

3. Ist T im Ergebnis strafbefreiend vom versuchten Totschlag zurückgetreten?

Ja, in der Tat!

Für den Alleintäter des nicht fehlgeschlagenen, unbeendeten Versuchs reicht es zum strafbefreienden Rücktritt aus, dass er „die weitere Ausführung der Tat aufgibt“ (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1), d.h. die begonnene Tathandlung abbricht. Dafür genügt bloße Untätigkeit. Der Versuch des T war unbeendet. Nach der letzten Ausführungshandlung (Zeitpunkt 2) hielt T den Erfolgseintritt weder für sicher noch für möglich. Er ging vielmehr davon aus, dass O überleben wird. BGH: Als T dem O das Kissen auf das Gesicht gedrückt hat, habe er darauf geachtet, dass O frei atmen könne (RdNr. 3). Diese bloße Aufgabe der Tat genügte für einen strafbefreienden Rücktritt (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB).

4. Hängen die Anforderung an die Rücktrittshandlung des Alleintäters davon ab, ob der Versuch unbeendet ist (dann § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB) oder beendet ist (dann § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 oder Abs. 1 S. 2 StGB)?

Ja!

Für den Alleintäter des nicht fehlgeschlagenen, unbeendeten Versuchs reicht es zum strafbefreienden Rücktritt aus, dass er „die weitere Ausführung der Tat aufgibt“ (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1), d.h. die begonnene Tathandlung abbricht. Dafür genügt bloße Untätigkeit. Anders beim beendeten Versuch: Hier genügt der bloße Abbruch der Tathandlung nicht. Der Täter muss den Erfolgseintritt verhindern (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2). Im speziellen Fall des § 24 Abs. 1 S. 2 StGB (Erfolg tritt nicht ein, aber „ohne ein Zutun des Täters“, z.B. weil Dritte dies verhindern), genügt es, wenn der Täter sich ernsthaft bemüht, den Erfolg zu verhindern (Fischer, 64.A. 2017, § 24 RdNr. 26, 36).

5. War der Versuch des T (nach h.M.) beendet?

Nein, das ist nicht der Fall!

Bei mehraktigen Geschehensverläufen ist der Versuch beendet, wenn der Täter den Erfolgseintritt nach der letzten Ausführungshandlung für möglich hält. In engen zeitlichen und räumlichen Grenzen ist jedoch (nach h.M.) eine Korrektur des Rücktritthorizonts möglich: Der Versuch ist nicht beendet, wenn der Täter alsbald erkennt, dass der Erfolg nicht eintreten wird, und er dann von der Tat Abstand nimmt (Fischer, 64.A. 2017, § 24 RdNr. 15d). Nach dem Messereinsatz (Zeitpunkt 1) ging T zunächst davon aus, O tödlich verletzt zu haben und alles Erforderliche zur Verwirklichung des Tatbestands getan zu haben. Stellt man auf Zeitpunkt 1 ab, war der Versuch beendet. Beim Rauchen (Zeitpunkt 2) merkt T jedoch, dass O überleben wird. Wegen des engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs ist der Versuch (nach h.M.) noch nicht beendet, weil T alsbald im Zeitpunkt 2 erkannt hat, dass der Erfolg nicht eintreten wird (Korrektur des Rücktritthorizonts) (RdNr. 6ff.).

6. Hat T die Schwelle zur Versuchsstrafbarkeit (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs.1 StGB) überschritten?

Ja, in der Tat!

Versuch gemäß § 22 StGB ist gegeben, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat zur Tatverwirklichung unmittelbar ansetzt. Dies ist dann der Fall, wenn der Täter ein Geschehen in Gang gesetzt hat, das bei ungehindertem Ablauf ohne wesentliche Zwischenschritte in die Tatbestandsverwirklichung einmünden soll, sodass das geschützte Rechtsgut bereits konkret gefährdet erscheint, und der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschritten hat (Fischer, 65.A. 2018, § 22 RdNr. 10). Die Schläge und der Schnitt sollten nach der Vorstellung des T bereits tödlich sein.
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du den Rücktritt vom unbeendeten Versuch (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB)?

  1. Kein fehlgeschlagener Versuch
  2. Unbeendeter Versuch
  3. Rücktrittshandlung: Aufgabe der weiteren Tatausführung (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB)
  4. Freiwilligkeit

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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

JO301

Jo3011

18.11.2019, 18:21:06

Hat T nicht eher aus heteronomen Verdeckungsabsichten gehandelt als freiwillig (autonom)?

Christian Leupold-Wendling

Christian Leupold-Wendling

19.11.2019, 10:09:22

Wie meinst Du das? Heteronom/autonom sind doch Aspekte, die sich auf den Rücktritt beziehen, nicht die Begehung der Straftat. Der Rücktritt diente aber nicht der Verdeckung einer Straftat. Aufgrund des Rücktritts hat O überlebt.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

4.1.2020, 12:34:35

Naja, es fehlen Angaben dazu, aus welchem Grund er die weitere Tatausführung aufgab. Steht dazu was in dem Urteil?

Vulpes

Vulpes

11.3.2021, 16:02:37

Hallo Jo3011, also ich kann aus dem Sachverhalt keine Verdeckungsabsicht herauslesen. Da dem nichts entgegensteht kann man meiner Meinung nach annehmen, dass T freiwillig gehandelt hat. 🙂

PPAA

Philipp Paasch

19.8.2022, 23:55:43

Verdeckungsabsicht würde aber dennoch einem heteronomen Grund nicht entgegenstehen, er handelt nur nach der Verbrechervernunft.

🦊LEXD

🦊LEXDEROGANS

11.2.2020, 00:29:24

Dass T nur „merkt“, dass O überlebt und sodann dessen Hilferufe vereitelt könnte m. E. gegen Freiwilligkeit beim Rücktritt sprechen. Zmd. aber dürfte das anschließende Vereiteln der Hilferufe bei gleichzeitiger Nichtleistung von Hilfe auf 212, 13, 22 deuten (sofern T ausgeht, dass bei fehlender ärztl. Hilfe O der Tod droht).

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

13.7.2020, 18:16:48

Hallo Lexderogans, das ist je nach Sachverhaltskonstellation durchaus vertretbar! Freiwilligkeit könnte dann an einer äußeren Zwangslage (Hilferufe von O) scheitern. Allerdings muss dem Täter natürlich auch im Hinblick auf den Opferschutz eine goldene Brücke zurück in die Legalität gebaut werden. Es soll ja auch verhindert werden dass T, wenn ihm sowieso die Strafbarkeit nach § 212, 211 droht, O zur Zeugenbeseitigung endgültig tötet. Strafbarkeit durch Unterlassen dann, wenn T davon ausgeht, dass O ohne Hilfe stirbt, ja ;)

JEHH

Jenny Uni HH

28.4.2020, 11:19:17

Der Sachverhalt ist unklar was die Reihenfolge ohne Erfolg der Akte angeht. Beim Fehlschlag wird der Messerangriff als letzte Ausführung angenommen. Bei Beendigung dann das Rauchen? Das ist irgendwie unschlüssig.

Eigentum verpflichtet 🏔️

Eigentum verpflichtet 🏔️

13.7.2020, 18:09:07

Hallo Jenny, danke für den super berechtigten Kommentar. Da fehlte beim Fehlschlag tatsächlich noch am Ende ein Satz, denn die Zeiträume der

Gesamtbetrachtungslehre

und des

Rücktrittshorizont

s hängen nach dem BGH zusammen (vgl. BGH NStZ 1996, 429). Demnach ist auch für den Fehlschlag der Zeitraum bis zum

Rücktrittshorizont

für Fortsetzungs- und Wiederholungshandlungen entscheidend. Also hier der Zeitpunkt des Rauchens.


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