Hypothetische Kausalität

2. April 2025

14 Kommentare

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leichtmittelschwer

+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Nach dem Genuss einiger Biere fährt T die Passantin P an. T sieht, dass P lebensgefährlich verletzt ist und einen Arzt braucht. Aus Angst um den Führerschein fährt T aber, ohne etwas zu unternehmen, weg. P stirbt. Bei unverzüglicher ärztlicher Hilfe hätte P möglicherweise überlebt.

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Einordnung des Falls

Hypothetische Kausalität

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 1 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hätte T sofort den Notarzt gerufen, wäre P mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gestorben (§§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB).

Nein, das trifft nicht zu!

Die Conditio-sine-qua-non-Formel muss für den Fall des Unterlassens im Sinne einer Quasi-Kausalität modifiziert werden: Ein Unterlassen ist dann für den Erfolgseintritt kausal, wenn die gebotene und physisch-reale Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Dass Ps Tod ausgeblieben wäre, wenn T sofort ärztliche Hilfe herbeigerufen hätte, ist nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu bejahen. Nach dem Grundsatz in dubio pro reo muss die hypothetische Kausalität verneint werden. Eine Mindermeinung überträgt die beim Fahrlässigkeitsdelikt verbreitete Risikoerhöhungslehre als Risikoverminderungstheorie auf das Unterlassungsdelikt. Es reiche aus, dass die Vornahme der Handlung das Risiko des Erfolgseintritts verringert hätte. Dagegen spricht, dass so gänzlich auf einen Kausalzusammenhang verzichtet und Verletzungs- in Gefährdungsdelikte umgewandelt werden. Es kommt noch eine Strafbarkeit des T wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) durch Anfahren der P in Betracht.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

Prudenz

Prudenz

9.10.2021, 23:36:55

Müsste es hier nicht eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen sein bzw. sofern sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt hätte?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

10.10.2021, 19:12:23

Hallo Prudenz, sofern die Quasi-Kausalität bejaht worden wäre, träte die fahrlässige Tötung (durch Anfahren) hinter der

vorsätzlich

en Tötung durch Unterlassen (durch Wegfahren) zurück. Der Klausurhinweis stellt lediglich klar, dass man bei Verneinen der Kausalität die Prüfung nicht beenden darf, sondern §222 prüfen muss. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

YO

yolojura

10.12.2022, 15:47:50

Könnte man dann einen

Mord durch Unterlassen

annehmen, weil T nicht wollte, dass der Unfall aufgedeckt wird und sie ihren Führerschein nicht verlieren wollte (

Verdeckungsabsicht

)?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.5.2023, 14:21:40

Hallo yoloyura, in der Tat wäre hier zudem auch ein

Verdeckungsmord durch Unterlassen

zu bejahen gewesen, sofern die Quasi-Kausalität vorläge. So kommt allenfalls ein Versuch in Betracht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

TI

Tinki

13.9.2024, 15:59:56

Im Klausurhinweis müsste man dann aber § 13 I StGB ergänzen, oder? Ich würde nach Ablehnung von §§ 212, 13 I durch Wegfahren/Nicht-helfen eine Strafbarkeit gem. §§ 222, 13 I durch Wegfahren/Nicht-helfen prüfen, richtig?

TI

Tinki

13.9.2024, 16:01:35

habe das "Anfahren" im Klausurenhinweis überlesen- sorry! Werde man nach §§ 222, 13 I trotzdem auch noch prüfen wegen des Wegfahrens?

DAV

David

10.11.2023, 12:15:34

Wie wäre es denn hier mit einem versuchten

Verdeckungsmord durch Unterlassen

? Wie verhält sich dann der versuchte Mord (wegen

Vorsatz

es) zur fahrlässigen Tötung und zusätzlich § 142 StGB konkurrenzrechtlich?

MAT

matse

5.11.2024, 14:07:35

Ein Versuch scheidet meines Erachtens deswegen aus, weil ja der tatbestandliche Erfolg (Tod des Opfers) eingetreten ist. Hier würdest du also in der Vorprüfung rausfliegen. Konkurrenztechnisch würde ich die fahrlässige Tötung durch Tun in Tatmehrheit zur Unfallflucht setzen, § 53. Denn das Anfahren durch den Täter und der später gefasste Entschluss zu flüchten, sind zwei separate Handlungen bzw. Willensbetätigungen. Wollte man diesen Vorgang unbedingt in Handlungseinheit sehen (was ich wie gesagt bezweifeln würde), ist auch vom Schutzgut her jedenfalls eine Nennung beider Delikte erforderlich: Fahrlässige Tötung schützt Leib und Leben des Geschädigten. Die § 142 StGB zugrunde liegende Verhaltensnorm schützt ausschließlich das private

Feststellungsinteresse

der Unfallbeteiligten und Geschädigten zum Zwecke der Durchsetzung oder Abwehr zivilrechtlicher Ansprüche (BGH NJW 1980, 896; Wessels/Hettinger/Engländer Rn. 1106). Aufgrund dieser unterschiedlichen Schutzwirkungen muss zu Klarstellungszwecken beides genannt werden.

Julian Ost

Julian Ost

21.11.2024, 16:47:10

Dem würde ich widersprechen. Hier ist mMn ein Versuch anzunehmen. Die Vollendung kann nicht quasikausal dem Unterlassen zugerechnet werden. Folglich ist anzunehmen, dass der konkrete tatbestandliche Erfolg eben nicht eingetreten ist. Folglich müsste man hier an eine Versuchsstrafbarkeit denken.

Julian Ost

Julian Ost

21.11.2024, 16:48:29

Ergänzung: Natürlich sind dazu die subjektiven Elemente bezüglich des Todes und der vorgestellten Quasi-Kausalität nicht genügend ausformuliert. Folglich würde man mMn im

Tatentschluss

rausfliegen.

geraumezeit

geraumezeit

22.11.2024, 13:22:56

@[David](79732) Der Täter muss das Opfer in der Absicht getötet oder sterben lassen haben, um "eine andere Straftat zu verdecken". Die Verknüpfung von Unrecht mit weiterem Unrecht (nämlich der Tötung) ist der Strafgrund. Das Anfahren ist hier Teil der Tötungshandlung. Ein

Verdeckungsmord

somit scheidet bereits mangels Vorliegen "einer anderen Straftat" aus. Entsprechend würde ich die vorgeschlagene Prüfung nicht ansprechen.

Simon

Simon

17.1.2025, 17:44:03

@[Julian Ost](228435), du hast recht. Eine Strafbarkeit aus §§ 212 I, 211 I, II Var. 9, 13 I StGB scheitert hier wegen des Grundsatzes

in dubio pro reo

nach h.M. an der hypothetischen Kausalität. Damit liegt eine Vollendungsstrafbarkeit nicht vor und die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus §§ 23 I Alt. 1, 12 I StGB, sodass die Vorprüfung durchgeht (vgl. zu einem ähnlichen Fall BGH, NStZ-RR 2002, 303). Beim

Tatentschluss

muss geprüft werden, ob T es zumindest als möglich erachtete und billigend in Kauf nahm, dass O sterben würde (Erfolgseintritt) und dass eine Verständigung des Rettungsdienstes O (rechtlich gebotene und erforderliche Handlung) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet hätte (

hypothetische Kausalität

). Zudem ist ihr

Tatentschluss

hinsichtlich der

Garantenstellung aus Ingerenz

und der

Entsprechungsklausel

zu prüfen. Bzgl. des Mordmerkmals der Verdeckung einer anderen Straftat wäre m.E. zu problematisieren, ob dies auch durch Unterlassen verwirklicht werden kann und zudem ob es T bewusstseinsdominant auf die Verdeckung der Straftat oder um das Behaltendürfen ihres Führerscheins ging. Die restliche Strafbarkeitsvoraussetzungen liegen vor, insbesondere ist das Verständigen des Rettungsdienstes ang

esi

chts der Lebensgefahr für O nicht unzumutbar. Dazu tritt in Tateinheit die Strafbarkeit aus § 142 I Nr. 2 StGB. Die Strafbarkeit nach

§ 222 StGB

(welche § 229 im Wege der Subsidiarität verdrängt) steht m.E. dazu in Tatmehrheit wegen des neuen Willensentschlusses. Zu § 222 kommt in Tateinheit § 315c I Nr. 1a StGB, sofern eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit vorliegt. Dieser verdrängt dann § 316 I im Wege der Subsidiarität.


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