+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
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Klassisches Klausurproblem
Emil (E) ist unheilbar krank und hat jeden Lebenswillen verloren. Seine Frau Fanny (F) reicht ihm einen tödlichen Medikamentencocktail, den er einnimmt. Zusätzlich bittet er F ihm eine tödliche Dosis Insulin zu spritzen, da er hierzu zu schwach ist. E schläft kurz darauf ein und verstirbt an dem Insulin. Ein Notarzt hätte dies verhindern können.
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Einordnung des Falls
In dieser umstrittenen Entscheidung befasst sich der BGH wieder einmal mit der feinen Grenze zwischen straffreier Beihilfe zum Suizid und der strafbaren Tötung auf Verlangen. Dem Fall lag die Konstellation zugrunde, dass eine Frau auf Drängen ihres schwerkranken Mannes diesem eine tödliche Insulinspritze gab. Obwohl der Ehemann also selbst keine aktive Handlung unternahm, nahm der BGH im Ergebnis hier lediglich eine straflose Beihilfe zum Suizid an.
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Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 14 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat F hat sich der Tötung auf Verlangen strafbar gemacht, indem sie E die Medikamente reichte (§ 216 Abs.1 StGB)?
Nein!
Der Tötung auf Verlangen macht sich strafbar, wer vorsätzlich den Tod eines anderen Menschen kausal aufgrund dessen ausdrücklichen und ernsthaften Verlangen herbeiführt.
Im vorliegenden Fall verstarb E nicht aufgrund der eingenommenen Medikamente, sondern an der tödlichen Dosis Insulin. Dass die Einnahme des Medikamentencocktails ebenfalls zu einem späteren Zeitpunkt zum Tod des E geführt hätte, stellt einen unbeachtlichen hypothetischen Kausalverlauf dar.
Kommt eine Tötung auf Verlangen in Betracht, so ist diese als Privilegierung der übrigen Tötungsdelikte vorrangig zu prüfen.
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2. Hat sich F der versuchten Tötung auf Verlangen strafbar gemacht, indem sie E den Medikamentencocktail reichte (§§ 216, 22, 23 Abs.1 StGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
Die straflose Beihilfe zur (versuchten) Selbsttötung wird von der (versuchten) Fremdtötung anhand des Kriteriums der Tatherrschaft abgegrenzt. Bei einer Selbsttötung hat der Sterbewillige selber das letztlich todbringende Geschehen in der Hand, während bei einer Fremdtötung eine andere Person die Tatherrschaft inne hat.Hier reichte F dem E zwar den Medikamentencocktail. E nahm ihn jedoch selbst ein. Somit hatte E selbst die Kontrolle über den potentiell tödlichen Akt inne, weswegen es hinsichtlich der Medikamente auch am notwendigen Tatenschluss für eine versuchte Fremdtötung fehlt.
3. Könnte F sich der Tötung auf Verlangen strafbar gemacht haben, indem sie E das Insulin gespritzt hat (§ 216 Abs.1 StGB)?
Ja, in der Tat!
Der Tötung auf Verlangen macht sich strafbar, wer vorsätzlich den Tod eines anderen Menschen kausal herbeiführt und zur Tötung durch ausdrückliches und ernsthaftes Verlangen des Getöteten bestimmt wurde.
E ist aufgrund der Insulininjektion verstorben, somit ist der Taterfolg eingetreten. Für die Kausalität ist es unerheblich, dass E aufgrund des Medikamentencocktails zu einem späteren Zeitpunkt ohnehin verstorben wäre. Fraglich ist allerdings ob F die Tatherrschaft inne hatte, mithin ihr der Erfolg objektiv zurechenbar ist.
4. Ist der Erfolg „naturalistisch“ betrachtet F objektiv zurechenbar?
Ja!
Objektiv zurechenbar ist der Erfolg, wenn die Täterin ein rechtlich missbilligendes Risiko geschaffen hat, das sich im tatbestandlichen Erfolg niederschlägt. Täterin einer Tötung auf Verlangen ist eine Person, wenn sie das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn sie sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist dafür, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Nach naturalistischer Betrachtung ist dies der Fall, wenn die Täterin aktiv die maßgebliche Todesursache ausgeführt hat.Im Gegensatz zur bloßen Übergabe der Medikamente an E, injizierte F direkt das Insulin und nahm damit aktiv die zum Tode führende Handlung vor. Damit hatte sie nach naturalistischem Verständnis die Tatherrschaft inne.
5. Ist nach der neueren Rechtsprechung des BGH in Suizidfällen allerdings eine normative Betrachtung geboten?
Genau, so ist das!
BGH: Behalte der Sterbewillige bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gelte nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom anderen bewirkt worden sei. Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibe, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liege nur Beihilfe zur Selbsttötung vor (RdNr. 14).Die normative Betrachtung ist an sich nicht neu, sondern wurde gerade in der Literatur schon lange vertreten. So hat beispielsweise Roxin eine Festlegung der Herrschaft über den point of no return danach gefordert, ob dem Opfer nach der letzten Handlung des Dritten noch eine Entscheidungsfreiheit über den Eintritt des eigenen Todes verbleibt. Erstmalig hat der 2. Senat des BGH die normative Betrachtung in Fällen des „einverständlichen Behandlungsabbruchs“ angewandt (BGH, Urt. v. 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09). 6. Hatte F nach Ansicht des 6. Strafsenats Tatherrschaft über das Geschehen, sodass sie sich durch das Spritzen des Insulins wegen Tötung auf Verlangen strafbar gemacht hat (§ 216 Abs. 1 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
BGH: Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibe, sich den Auswirkungen der Tathandlung zu entziehen oder sie zu beenden, liege nur Beihilfe zur Selbsttötung vor (RdNr. 14).Der 6. Strafsenat nutzt zwei Argumentationslinien, um Fs Tatherrschaft „normativ“ abzulehnen: (1) Die Einnahme des Medikamentencocktails und die Injektion des Insulins sei als einheitliches Gesamtgeschehen zu betrachten, sodass sich die Tatherrschaft des E über die Einnahme der Medikamente auch auf die Injektion des Insulins erstreckt. Es habe lediglich vom Zufall abgehangen, dass das Insulin und nicht die Medikamente den Tod bewirkten. (2) E hätte nach der Gabe des Insulins zudem die Möglichkeit gehabt selbst Rettungsmaßnahmen einzuleiten, zB indem er F dazu aufforderte, den Notarzt zu rufen.
7. Überzeugt die vom 6. Strafsenat herangezogene Argumentation dogmatisch auf ganzer Linie und wird von der Literatur einhellig begrüßt?
Nein!
Die Entscheidung mag moralisch verständlich sein, ist aber juristisch durchaus angreifbar (vgl. Jäger). Kritisiert wird zunächst, dass das Kriterium der „eigenhändigen Ausführung des lebensbeendenden Aktes“ durch die Interpretation des 6. Strafsenates so ausgelegt wird, „dass [es] sich auflöst" (Walter). Denn E hatte an der finalen Todesursache „nur“ insoweit Anteil, dass er F um die Injektion gebeten hat. Sinn und Zweck des § 216 Abs.1 StGB sei aber gerade, dass der freiverantwortlich geäußerte Wunsch des Sterbewilligen nicht die Verantwortung der aktiv Handelnden ausschließt. Gegen die Annahme eines einheitlichen Gesamtgeschehens (aktive Medikamenteneinnahme, passives Dulden des Insulinspritzens), lässt sich anführen, dass dies der dogmatischen Trennung von Handlungsakten widerspricht. Die Medikamenten hatten faktisch keinen kausalen Einfluss auf Es Tod und müssten insoweit bei der strafrechtlichen Beurteilung außer Betracht bleiben.
Die Entscheidung des BGH hat die Abgrenzung im Einzelfall nicht einfacher gemacht. In der Klausur kommt es insoweit nicht auf das Ergebnis, sondern primär Deine Begründung an.
8. Ist es, selbst wenn man den rechtlichen Maßstäben des BGH folgt, fraglich, ob E in der konkreten Situation tatsächlich in der Lage war, selbst Rettungsmaßnahmen einzuleiten?
Genau, so ist das!
BGH: Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des
anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor (RdNr. 14).E war bettlägerig und nicht mehr in der Lage, sich selbst das Insulin zu spritzen. Die Annahme, er könnte in diesem Zustand ohne weiteres erfolgreich Rettungsmaßnahmen einleiten, bedürfte insoweit vertiefter Begründung. Die vom BGH benannte Möglichkeit, F um das Rufen des Notarztes zu bitten, muss streng genommen außer Betracht bleiben. Denn die „volle Freiheit“ verbleibt dem Opfer nur dann, wenn es gerade nicht der Mitwirkung der Täterin bedarf.
9. Kommt neben der aktiven Tötung auf Verlangen aber eine Unterlassensstrafbarkeit der F in Betracht (§§ 216 Abs.1, 13 Abs.1 StGB)?
Ja, in der Tat!
Eine Strafbarkeit wegen Unterlassen setzt im objektiven Tatbestand (1) den tatbestandsmäßigen Erfolg voraus. Die Täterin muss (2) eine Verhinderungshandlung trotz individueller physisch-realer Handlungsmöglichkeiten unterlassen haben, die (3) den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte. Die Täterin muss (4) eine Garantenstellung innehaben, (5) ihr muss der Erfolg objektiv zurechenbar sein und (6) das Unterlassen einem aktiven Handeln entsprechen.
F wäre es möglich gewesen den Notarzt zu rufen, als E einschlief. Dieser hätte E auch noch retten können. Der Anruf kann also nicht hinzugedacht werden, ohne dass der tatbestandliche Erfolg nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in seiner konkreten Gestalt entfallen wäre. Fraglich ist jedoch, ob F eine Garantenstellung inne hatte. 10. Ist F als Ehefrau grundsätzlich Garantin des E?
Ja!
Garantenstellungen können sich aus Gesetz, Vertrag, engen Lebensbeziehungen und vorausgegangenem gefährdendem Tun ergeben.
Als Ehefrau ist F grundsätzlich Garantin für Leib und Leben ihres Ehemannes E (§ 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB).Des Weiteren kommt eine Garantenstellung aus Ingerenz in Betracht, da F dem E das Insulin gespritzt hat. 11. Besteht Fs Garantenpflicht trotz des Sterbewunsches von E?
Nein, das ist nicht der Fall!
BGH: Aus dem Selbstbestimmungsrecht und der Eigenverantwortlichkeit des Sterbewillige folge, dass die Garantenpflicht des Ehegatten jedenfalls dann ende, wenn der Sterbewillen ohne Wissens-
und Verantwortungsdefizit formuliert wurde (RdNr. 25). Die freiverantwortliche Entscheidung des Sterbewilligen stehe zudem auch einer Garantenstellung aus Ingerenz entgegen (RdNr. 32).Da E seinen Sterbewunsch freiverantwortlich geäußert habe, ist Fs Garantenpflicht suspendiert bzw. gar nicht erst entstanden. Durch die „Suspendierung“ bzw. Ablehnung der Garantenpflicht vermeidet es der 6. Strafsenat, sich mit der früheren „Peterle“-Entscheidung des 3. Strafsenates auseinanderzusetzen (BGHSt 32, 367). Nach dieser sei die Garantin in dem Moment zur Hilfe verpflichtet, in dem der Sterbewillige die Tatherrschaft endgültig verloren hat (Schlaf, Bewusstlosigkeit) und der Eintritt des Todes einzig vom Verhalten der Garantin abhängt. 12. Hat F sich aber wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht (§ 323c StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Der unterlassenen Hilfeleistung macht sich strafbar, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zumutbar ist. Ein Unglücksfall ist jedes plötzlich eintretende Ereignis, das erhebliche Gefahren für eine Person oder erhebliche Sachwerte mit sich bringt
Die Hilfeleistung sei für F aufgrund des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben unzumutbar gewesen (RdNr. 37).In der Literatur wird darüber hinaus bei Suiziden das Vorliegen eines Unglücksfalls abgelehnt. Denn es handele sich in diesem Fall nicht um ein plötzliches Ereignis. 13. Hat F sich allerdings der Aussetzung strafbar gemacht (§ 221 Abs.1 Nr.1, Nr.2 StGB)?
Nein!
Die Täterin einer Aussetzung müsste einen Menschen vorsätzlich in eine hilflose Lage versetzt (§ 221 Abs.1 Nr.1 StGB) oder in einer hilflosen Lage im Stich gelassen haben, obwohl sie ihn in ihrer Obhut hatte oder ihm sonst beizustehen verpflichtet war, und ihn dadurch der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung ausgesetzt haben.
§ 221 Abs.1 Nr.1 StGB scheitert daran, dass F keine Tatherrschaft über das Versetzen in die hilflose Lage hatte. Für § 221 Abs.1 Nr.2 StGB mangelt es an einem Obhutverhältnis, welches gleich einer Garantenstellung zu verstehen ist. 14. F bleibt im Ergebnis also straffrei. Verbleibt nach dieser Entscheidung noch viel Raum für die strafbare Tötung auf Verlangen?
Nein, das ist nicht der Fall!
Der 6. Strafsenat hat mit dieser Entscheidung den Anwendungsbereich der straflosen Beihilfe zum Suizid zulasten der strafbaren Tötung auf Verlangen deutlich ausgeweitet. Dafür hat er teilweise heftige Kritik geerntet („Für Alte und Kranke lebensgefährliche Entscheidung“ - Walter). Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten. Spannend sind dabei auch die verfassungsrechtlichen Zweifel, die der Senat in seinem obiter dictum aufgeworfen hat (RdNr. 23). Darin lässt er die Absicht erkennen sich gewichtigen Stimmen der Literatur anzuschließen. Der Tatbestand des § 216 StGB solle in Fällen teleologisch zu reduzieren sein, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich sei, ihre freiverantwortliche Enscheidung aus dem Leben zu scheiden, umzusetzen. Zur Begründung der Zweifel verweist er insbesondere auf die Ähnlichkeit der Norm mit dem mittlerweile für verfassungswidrig erklärten Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB a.F.).
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