„Haustyrannenfall“
9. Mai 2023
16 Kommentare
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Prüfungsschema
Wie prüfst Du die Rechtfertigung wegen Notwehr (§ 32 StGB)?
- Notwehrlage
- Angriff
- Gegenwärtigkeit
- Rechtswidrigkeit
- Notwehrhandlung
- Erforderlichkeit
- Gebotenheit
- Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille")
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Haustyrann H hat seine körperlich unterlegene Frau F über Jahre immer wieder verprügelt. Als H nachts schläft, sieht F keinen Ausweg mehr und erschießt den H mit dessen Revolver.
Diesen Fall lösen 85,5 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Im Haustyrannen-Fall setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, wie die an sich heimtückische Tötung eines gewalttätigen Haustyrannen durch seine Ehefrau rechtlich zu bewerten ist. Im zugrundeliegenden Sachverhalt erschoss eine Ehefrau ihren Ehemann im Schlaf. Er war ihr gegenüber jahrelang handgreiflich geworden. Rechtlich stellt sich die Frage, ob diese Tötung gerechtfertigt oder entschuldigt sein kann. Damit sind wichtige Rechtsfragen aus dem Allgemeinen Teil als auch dem Besonderen Teil des StGB angesprochen. Im Kern geht es um die restriktive Auslegung des Mordmerkmals der Heimtücke und die sogenannte Rechtsfolgenlösung im Rahmen des § 211 StGB. Entscheidend sind darüber hinaus zentrale Fragen der Notwehr (§ 32 StGB) und des rechtfertigenden und entschuldigenden Notstands (§§ 34, 35 StGB). Insbesondere der Begriff der „Dauergefahr“, die Güterabwägung und die Frage, ob die Dauergefahr des Haustyrannen nicht anders abwendbar war als durch den Heimtückemord, wurden vom BGH geklärt.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat F den Tatbestand des Mordes (§ 211 StGB) erfüllt?
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Liegt darin, dass H die F über Jahre misshandelte, ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf F (§ 32 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Milena Ortac
7.6.2021, 12:33:32
Ein
Angriffan sich ist doch aber auch schon nicht gegeben. Bedeutet die Notwehr als Rechtfertigungsgrund würde bereits bei der Prüfung des
Angriffs nicht erfüllt werden. Bei der Schussabgabe wurde die Frau ja nicht angegriffen. Müsste es sich also hier nicht um eine Gefahr handeln, sodass der
Notstandhätte geprüft werden müssen?

Lukas_Mengestu
7.6.2021, 23:44:45
Hallo Juan, in der Tat lag zum Zeitpunkt des Schusses seitens H kein
Angriffauf die körperliche Unversehrtheit der F vor. Da er aber regelmäßig F verprügelt hat, kann man den
Angriffauf ihre körperliche Unversehrtheit grundsätzlich bejahen, das Vorliegen der Notwehrlage aber damit ablehnen, dass eben diese
Angriffe nicht "gegenwärtig" stattgefunden haben. Richtig ist auch, dass in einer gutachterlichen Falllösung die Prüfung bei Ablehnung der Notwehr noch nicht vorbei wäre. In unseren Fällen erfolgt selten eine abschließende gutachterliche Prüfung. Vielmehr ist unser Ziel, besonders wichtige Aspekte der verschiedenen Entscheidungen darzustellen. In der Klausur muss man in einem solchen Fall aber natürlich auch über das Vorliegen eines rechtfertigenden (
§ 34 StGB) bzw. ent
schuldigenden (§ 35 StGB)
Notstandnachdenken. Eine Rechtfertigung nach
§ 34 StGBscheidet aber im Ergebnis bereits deshalb aus, da hier immer eine Interessenabwägung erfolgen muss. Nur bei einem Überwiegen des bedrohten Rechtsgutes tritt Rechtfertigung ein. Eine Abwägung "Leben gegen Leben" wird aufgrund der in Art. 1 GG verankerten Menschenwürdegarantie indes als unzulässig erachtet, weswegen eine Rechtfertigung nach §34 StGB von vorneherein ausscheidet. In Betracht kommt aber ein ent
schuldigender
Notstand(§ 35 StGB), der u.a. die von dir angesprochene gegenwärtige "Gefahr" einer Verletzung besonderer Rechtsgüter genügen lässt. Auch eine
Dauergefahr, wie sie in den Haustyrannenfällen vorliegt, kann darunter subsumiert werden, da hier jederzeit der gefahrdrohende Zustand in einen
Schadenumschlagen kann. Um aber den ent
schuldigenden
Notstandbejahen zu können, bedürfte es im Sachverhalt noch Angaben, ob die Gefahr "nicht anders abwendbar" wäre. Denkbar wäre zB das Verlassen des H oder die Inanspruchnahme staatlicher oder karitativer Hilfen. Da die Rechtsprechung hohe Hürden für die Alternativlosigkeit ansetzt, dürfte im Ergebnis aber auch der ent
schuldigende
Notstandausscheiden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Viooola
3.12.2024, 12:50:35
Warum ist der
Angriffnicht gegenwärtig? Ich dachte bei den Haustyrannenfällen besteht eine
Dauergefahr, sodass die Gegenwärtigkeit zu bejahen wäre

maurice146
31.1.2025, 21:06:39
Wäre das hier vertretbar liebes Team?

Cosmonaut
7.2.2025, 12:21:58
@[Viooola](278844) @[maurice146](286887) Hi zusammen, Die Gegenwärtigkeit ist schlichtweg von der bekannten Definition her („unm. bevorsteht oder noch andauert“) zu bewerten; eine Überdehnung auf bloß
latente Gefahren ist unzulässig und kommt mit dem strafrechtlichen Analogieverbot in Konflikt. Die „
Dauergefahr“ kommt allerdings im Rahmen des
§ 34 StGBdurchaus zum Tragen, insofern ließe sich wie folgt argumentieren: Eine Notwehrlage nach § 32 erfordert einen gegenwärtigen
rechtswidrigen
Angriff. Sämtliche vorherigen Attacken auf A
waren aber beendet, als M schlief. Notwehr scheidet aus. Jedoch könnte A nach § 34 gerechtfertigt sein. Eine
Notstandslage nach § 34 erfasst auch die
Dauergefahr, d.h. einen gefahrdrohenden Zustand, der jederzeit in einen
Schadenumschlagen kann (s. das entsprechende Problemfeld). M hat A und die Kinder bereits viele Jahre geschlagen und mehrfach verletzt, es besteht daher eine Wahrscheinlichkeit auch künftiger Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit bzw. sogar des Lebens von A und den Kindern. Da M die A schon zuvor aus dem Schlaf heraus ohne Anlass angegriffen hat, ist die Gefahr auch gegenwärtig. Allerdings muss bei der
Notstandshandlung geprüft werden, ob das geschützte Interesse das beeinträchtigte überwiegt. Hier überwiegt aber das Leben des M als höchstes Rechtsgut die körperliche Unversehrtheit der A und ihren Kindern. Selbst wenn man annimmt, dass A auch eine Lebensgefahr droht, darf nicht Leben gegen Leben abgewogen werden. Damit kommt auch eine Rechtfertigung nach § 34 nicht in Betracht. A könnte indes gem. § 35 I ent
schuldigt sein. Auch § 35 I erfasst die
Dauergefahr. Diese dürfte aber nicht anders abwendbar gewesen sein. Als Abwendungsmöglichkeit käme hier die Inanspruchnahme behördlicher Hilfe oder karitativer Einrichtungen in Betracht. A hätte z.B. zur Polizei gehen oder mit ihren Kindern in ein Frauenhaus ziehen können. Der BGH führt dazu aus, dass grundsätzlich davon auszugehen sei, dass infolge solcher Maßnahmen wirksame Hilfe geleistet werde. Schließlich seien staatliche Stellen zum Einschreiten verpflichtet. Zudem sei mit dem Leben des M ein hochrangiges Rechtsgut betroffen, weswegen eine anderweitige Abwendbarkeit nicht zu streng beurteilt werden dürfe. Regelmäßig müsse daher angenommen werden, dass eine
Dauergefahranders als durch Tötung abgewendet werden könne. Im vorliegenden Fall konnte der BGH keine abschließende Bewertung vornehmen, ob A die Gefahr anders hätte abwenden können. Dies hänge u.a. davon ab, wie ernst die
Drohungen des M genommen werden müssten. … to be continued

Cosmonaut
7.2.2025, 12:22:17
… Im Übrigen wäre eine Ent
schuldigung ausgeschlossen, wenn A die Hinnahme der Gefahr zugemutet werden konnte (§ 35 I 2). Der BGH stellt dazu fest, dass A die Gefahr durch das jahrelange Erdulden nicht verursacht hat. Auch die Ehe mit M kann die Zumutbarkeit angesichts der schweren Gewalttätigkeiten nicht begründen. Sofern man annimmt, dass die Gefahr anders abwendbar war, wäre schließlich möglich, dass A sich über das Vorliegen der
Notstandslage irrte. Dies würde nach § 35 II zur Straflosigkeit führen, sofern der
Irrtumunvermeidbar war. Auch dies hat der BGH letztlich offengelassen und zur weiteren Verhandlung zurückverwiesen. Quelle und hilfreiche Querverweise: https://strafrecht-online.org/problemfelder/rechtsprechung/at/rw/haustyrannen-fall/
Viooola
8.2.2025, 14:53:44
@[Cosmonaut](188718) Danke für deine ausführliche Antwort!

ri
27.7.2021, 20:20:42
Kann mir jemand nochmal die restriktiven Ansätze erläutern, insbesondere die Rechtsfolgenlösung des BGH? Im Erklärungstext steht, die
feindliche Willensrichtungsei hL, ich dachte so würde die Rspr. vorgehen.

Lukas_Mengestu
5.1.2022, 18:45:05
Hallo Ri, wir haben das noch einmal überarbeitet. Die
feindliche Willensrichtungwurde vom BGH früher verwendet, um in Fällen des (fehlgeschlagenen) Mitnahmesuizids eine Strafbarkeit zu verneinen. Ein Teil der Literatur versucht die Heimtücke dagegen durch das Merkmal des besonders
verwerflichen Vertrauensbruchs zu begrenzen. Nur wenn ein solcher vorliegt, könne insofern Heimtücke vorliegen. Dagegen wird allerdings eingewandt, dass der besonders
verwerfliche Vertrauensbruch reichlich unscharf ist. Zudem ist das Merkmal in Fällen wie diesen nicht unbedingt geeignet, eine Restriktion herbeizuführen. Denn aufgrund des Fortbestands des Zusammenlebens könnte man hier durchaus noch ein gewisses Vertrauensverhältnis bejahen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Charles "Chuck" McGill
12.2.2025, 20:30:22
Der BGH lässt den Tatbestand unangetastet und wendet bei ganz außergewöhnlichen Fällen der Heimtücke, in denen eine lebenslange Freiheitsstrafe unvertretbar hoch erscheint, einfach auf Rechtsfolgenseite § 49 I 1 StGB analog an, womit der Strafrahmen auf 3-15 Jahre verkürzt wird. De facto ist das ein Vorgehen contra legem, zumal die Mindeststrafe damit 2 Jahre unter die für
Totschlagfällt. Auch diese Lösung ist also alles andere als das Gelbe vom Ei. Aus diesem Grund ist sie auch auf extreme Ausnahmefällen beschränkt und gilt nur für das Merkmal der Heimtücke.
Jose
10.8.2021, 19:46:37
Dass der Haustyrann, der seine Frau seit Jahren misshandelt, allein wegen ihrer körperlichen Unterlegenheit
arglossein soll, finde ich nicht überzeugend. Dadurch würden stets starke Personen privilegiert werden. Müsste er nicht vielmehr damit rechnen, dass sie eben Hilfsmittel einsetzt, um sich zu wehren? Wäre er gerade dabei sie zu verprügeln und sie würde eine Pistole greifen, wäre er doch auch nicht
arglos, auch wenn sie eigentlich körperlich unterlegen ist.

Lukas_Mengestu
2.12.2021, 13:57:00
Hallo Jose, in der Tat könnte man hier noch andere Argumente anführen. Der Umstand, dass sich F über Jahre nicht gewehrt hat, ist ebenfalls ein Anhaltspunkt dafür, dass H sich keines
Angriffes versehen hat und insoweit
argloswar. Anders wäre dies aber wohl in der Tat zu bewerten, wenn er sie gerade aktiv attackiert. Dass das im Ergebnis aber zu einem unbilligen Ergebnis führt, wird in der Rechtsprechung und der Literatur aber gesehen, weswegen sich ja verschiedene Ansätze herausgebildet haben, um dies zu korrigieren. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
lawfulthings
24.2.2025, 17:15:16
Ich finde die Subsumtion nicht einleuchtend. Immerhin hat die Frau zu jedem Zeitpunkt mit einem
Angriffrechnen müssen, da könnte man die Gegenwärtigkeit doch auch bejahen oder geht das nicht? Zumindest müsste man das doch dem Einzelfall nach entscheiden.