„Haustyrannenfall“

9. Mai 2023

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs Illustration zum Haustyrannenfall (NJW 2003, 2464): Ehefrau erschießt Ehemann mit Revolver im Schlaf.

Haustyrann H hat seine körperlich unterlegene Frau F über Jahre immer wieder verprügelt. Als H nachts schläft, sieht F keinen Ausweg mehr und erschießt den H mit dessen Revolver.

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Einordnung des Falls

Im Haustyrannen-Fall setzte sich der BGH mit der Frage auseinander, wie die an sich heimtückische Tötung eines gewalttätigen Haustyrannen durch seine Ehefrau rechtlich zu bewerten ist. Im zugrundeliegenden Sachverhalt erschoss eine Ehefrau ihren Ehemann im Schlaf. Er war ihr gegenüber jahrelang handgreiflich geworden. Rechtlich stellt sich die Frage, ob diese Tötung gerechtfertigt oder entschuldigt sein kann. Damit sind wichtige Rechtsfragen aus dem Allgemeinen Teil als auch dem Besonderen Teil des StGB angesprochen. Im Kern geht es um die restriktive Auslegung des Mordmerkmals der Heimtücke und die sogenannte Rechtsfolgenlösung im Rahmen des § 211 StGB. Entscheidend sind darüber hinaus zentrale Fragen der Notwehr (§ 32 StGB) und des rechtfertigenden und entschuldigenden Notstands (§§ 34, 35 StGB). Insbesondere der Begriff der „Dauergefahr“, die Güterabwägung und die Frage, ob die Dauergefahr des Haustyrannen nicht anders abwendbar war als durch den Heimtückemord, wurden vom BGH geklärt.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat F den Tatbestand des Mordes (§ 211 StGB) erfüllt?

Genau, so ist das!

Der Mord setzt neben der Tötung eines Menschen zusätzlich ein Mordmerkmal voraus. In Betracht kommt Heimtücke. Heimtücke ist das Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit. Arglos ist, wer sich keines Angriffs versieht. Wehrlos ist, wer infolge der Arglosigkeit in seiner Verteidigungsbereitschaft eingeschränkt ist. F hat vorsätzlich einen anderen Menschen getötet (§ 212 Abs. 1 StGB). H erwartete aufgrund der körperlichen Unterlegenheit seiner Frau keine Gegenwehr. Er nahm seine Arglosigkeit mit in den Schlaf. Nach der Rspr. handelte F heimtückisch. Ein Teil der Literatur hält in solchen Fällen eine lebenslange Freiheitsstrafe für unverhältnismäßig und nimmt eine Einschränkung über das Merkmal des „besonders verwerflichen Vertrauensbruchs“ vor. Gegen das Bestehen eines Vertrauensverhältnisses sprechen hier die Gewalttätigkeiten. Für ein noch bestehendes Vertrauensverhältnis, die fortgesetzte Ehe.
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2. Liegt darin, dass H die F über Jahre misshandelte, ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf F (§ 32 StGB)?

Nein, das trifft nicht zu!

Notwehr erfordert zunächst eine Notwehrlage (§ 32 Abs. 2 StGB). Voraussetzung für eine Notwehrlage ist ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff auf ein geschütztes Rechtsgut. Gegenwärtig ist der Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch andauert. Bei Schussabgabe lag kein gegenwärtiger Angriff auf F vor. Sie musste zwar befürchten, dass H in Zukunft zu weiteren Angriffen auf ihre körperliche Unversehrtheit ansetzen würde. Eine derartige Präventivnotwehr würde den Wortlaut und damit das scharfe Schwert des Notwehrrechts jedoch überdehnen. F handelte nicht in Notwehr.
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Prüfungsschema

Wie prüfst Du die Rechtfertigung wegen Notwehr (§ 32 StGB)?

  1. Notwehrlage
    1. Angriff
    2. Gegenwärtigkeit
    3. Rechtswidrigkeit
  2. Notwehrhandlung
    1. Erforderlichkeit
    2. Gebotenheit
  3. Subjektives Rechtfertigungselement ("Verteidigungswille")
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

MO

Milena Ortac

7.6.2021, 12:33:32

Ein Angriff an sich ist doch aber auch schon nicht gegeben. Bedeutet die Notwehr als Rechtfertigungsgrund würde bereits bei der Prüfung des Angriffs nicht erfüllt werden. Bei der Schussabgabe wurde die Frau ja nicht angegriffen. Müsste es sich also hier nicht um eine Gefahr handeln, sodass der Notstand hätte geprüft werden müssen?

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

7.6.2021, 23:44:45

Hallo Juan, in der Tat lag zum Zeitpunkt des Schusses seitens H kein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit der F vor. Da er aber regelmäßig F verprügelt hat, kann man den Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit grundsätzlich bejahen, das Vorliegen der Notwehrlage aber damit ablehnen, dass eben diese Angriffe nicht "gegenwärtig" stattgefunden haben. Richtig ist auch, dass in einer gutachterlichen Falllösung die Prüfung bei Ablehnung der Notwehr noch nicht vorbei wäre. In unseren Fällen erfolgt selten eine abschließende gutachterliche Prüfung. Vielmehr ist unser Ziel, besonders wichtige Aspekte der verschiedenen Entscheidungen darzustellen. In der Klausur muss man in einem solchen Fall aber natürlich auch über das Vorliegen eines rechtfertigenden (§ 34 StGB) bzw. entschuldigenden (§ 35 StGB) Notstand nachdenken. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB scheidet aber im Ergebnis bereits deshalb aus, da hier immer eine Interessenabwägung erfolgen muss. Nur bei einem Überwiegen des bedrohten Rechtsgutes tritt Rechtfertigung ein. Eine Abwägung "Leben gegen Leben" wird aufgrund der in Art. 1 GG verankerten Menschenwürdegarantie indes als unzulässig erachtet, weswegen eine Rechtfertigung nach §34 StGB von vorneherein ausscheidet. In Betracht kommt aber ein entschuldigender Notstand (§ 35 StGB), der u.a. die von dir angesprochene gegenwärtige "Gefahr" einer Verletzung besonderer

Rechtsgüter

genügen lässt. Auch eine Dauergefahr, wie sie in den Haustyrannenfällen vorliegt, kann darunter subsumiert werden, da hier jederzeit der gefahrdrohende Zustand in einen Schaden umschlagen kann. Um aber den entschuldigenden Notstand bejahen zu können, bedürfte es im Sachverhalt noch Angaben, ob die Gefahr "nicht anders abwendbar" wäre. Denkbar wäre zB das Verlassen des H oder die Inanspruchnahme staatlicher oder karitativer Hilfen. Da die Rechtsprechung hohe Hürden für die Alternativlosigkeit ansetzt, dürfte im Ergebnis aber auch der entschuldigende Notstand ausscheiden. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

ri

ri

27.7.2021, 20:20:42

Kann mir jemand nochmal die restriktiven Ansätze erläutern, insbesondere die Rechtsfolgenlösung des BGH? Im Erklärungstext steht, die feindliche Willensrichtung sei hL, ich dachte so würde die Rspr. vorgehen.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

5.1.2022, 18:45:05

Hallo Ri, wir haben das noch einmal überarbeitet. Die feindliche Willensrichtung wurde vom BGH früher verwendet, um in Fällen des (fehlgeschlagenen)

Mitnahmesuizid

s eine Strafbarkeit zu verneinen. Ein Teil der Literatur versucht die Heimtücke dagegen durch das Merkmal des besonders

verwerflich

en Vertrauensbruchs zu begrenzen. Nur wenn ein solcher vorliegt, könne insofern Heimtücke vorliegen. Dagegen wird allerdings eingewandt, dass der besonders

verwerflich

e Vertrauensbruch reichlich unscharf ist. Zudem ist das Merkmal in Fällen wie diesen nicht unbedingt geeignet, eine Restriktion herbeizuführen. Denn aufgrund des Fortbestands des Zusammenlebens könnte man hier durchaus noch ein gewisses Vertrauensverhältnis bejahen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

JO

Jose

10.8.2021, 19:46:37

Dass der Haustyrann, der seine Frau seit Jahren misshandelt, allein wegen ihrer körperlichen Unterlegenheit arglos sein soll, finde ich nicht überzeugend. Dadurch würden stets starke Personen privilegiert werden. Müsste er nicht vielmehr damit rechnen, dass sie eben Hilfsmittel einsetzt, um sich zu w

ehre

n? Wäre er gerade dabei sie zu verprügeln und sie würde eine Pistole greifen, wäre er doch auch nicht arglos, auch wenn sie eigentlich körperlich unterlegen ist.

Lukas_Mengestu

Lukas_Mengestu

2.12.2021, 13:57:00

Hallo Jose, in der Tat könnte man hier noch andere Argumente anführen. Der Umstand, dass sich F über Jahre nicht gewehrt hat, ist ebenfalls ein Anhaltspunkt dafür, dass H sich keines Angriffes versehen hat und insoweit arglos war. Anders wäre dies aber wohl in der Tat zu bewerten, wenn er sie gerade aktiv attackiert. Dass das im Ergebnis aber zu einem unbilligen Ergebnis führt, wird in der Rechtsprechung und der Literatur aber gesehen, weswegen sich ja verschiedene Ansätze herausgebildet haben, um dies zu korrigieren. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team


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