Öffentliches Recht
Examensrelevante Rechtsprechung ÖR
Entscheidungen von 2021
Auflösung einer Versammlung zur Verhinderung einer anderen Versammlung (Blockadeversammlung)
Auflösung einer Versammlung zur Verhinderung einer anderen Versammlung (Blockadeversammlung)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Angesichts eines Bundesparteitages der AfD kam es zu Protestveranstaltungen. Einige Personen blockierten Zufahrtswege zu Autobahn und Flughafen und setzten Pyrotechnik ein. Die Polizei kesselte 419 von ihnen, darunter K, ein und nahm sie in Gewahrsam. Erst abends wurde K entlassen.
Diesen Fall lösen 84,1 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Auflösung einer Versammlung zur Verhinderung einer anderen Versammlung (Blockadeversammlung)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 18 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K sieht sich durch das Handeln der Polizei in seinen Rechten verletzt. Für eine Klage ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, wenn eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt und es an einer abdrängenden Sonderzuweisung fehlt (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO ).
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Handelt es sich bei der Identitätsfeststellung und der erkennungsdienstlichen Behandlung um reine Maßnahmen der Strafverfolgung, sodass der Rechtsstreit gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG den ordentlichen Gerichten zugewiesen ist?
Nein, das trifft nicht zu!
3. Der Platzverweis hat sich bereits vor Klage erledigt. Ist die Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog statthaft?
Ja!
4. K erhebt erst ein Jahr nach Erledigung der polizeilichen Maßnahmen Klage beim zuständigen VG. Ist die Klage unzulässig, weil er sein Klagerecht verwirkt hat?
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Die (Fortsetzungs-)Feststellungsklage ist nur zulässig, wenn K ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der polizeilichen Maßnahmen nachweisen kann.
Ja, in der Tat!
6. Bei Vollzug der Ingewahrsamnahme fesselte die Polizei K und verweigerte ihm angeblich grundlegende Bedürfnisse (Trinkwasser und Toilettengang). Handelt es sich bei den angegriffenen Maßnahmen um schwerwiegende Grundrechtseingriffe, die ein besonderes Feststellungsinteresse begründen?
Ja!
7. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, sofern der Verwaltungsakt vor seiner Erledigung rechtswidrig war und K dadurch in seinen Rechten verletzt wurde (§ 113 Abs. 1 S. 1, S. 4 VwGO).
Genau, so ist das!
8. Soweit Befugnisnormen des Versammlungsgesetzes anwendbar sind, ist die Anwendung der Befugnis- und Aufgabenzuweisungsnormen des Polizeirechts grundsätzlich ausgeschlossen.
Ja, in der Tat!
9. Die Anwendung des Versammlungsrechts setzt voraus, dass es sich bei der Personengruppe um eine Versammlung handelte.
Ja!
10. Sind sog. „Verhinderungsblockaden“ Versammlungen i.S.d Versammlungsgesetzes?
Nein, das ist nicht der Fall!
11. Einige Personen hielten Transparente (z.B. „Den nationalistischen Konsens brechen“) und Plakate und skandierten entsprechende Sprechchöre. Handelte es sich bei der Personengruppe deswegen nach Ansicht des VGH um eine „demonstrative Blockade“?
Nein, das trifft nicht zu!
12. § 33 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW (§ 28 Abs. 1 Nr. Nr. 1 PolG BW a.F.) verlangt für die Ingewahrsamnahme einer Person eine (unmittelbar bevorstehende) erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung. Stellt die Blockade eine solche dar?
Ja!
13. K behauptet, er sei an den Blockaden nicht beteiligt gewesen, sondern erst kurz vor der Einkesselung dazugestoßen. Hat die Polizei ihn deswegen fälschlicherweise als Verhaltensstörer (§ 6 PolG BW) eingestuft?
Nein, das ist nicht der Fall!
14. War die mehrere Stunden andauernde Ingewahrsamnahme verhältnismäßig?
Ja, in der Tat!
15. Es gab zu wenig Richter, um allen in Gewahrsam genommenen Personen rechtliches Gehör zu gewähren. Über Ks Ingewahrsamnahme wurde demnach keine richterliche Entscheidung eingeholt. War sie deswegen nach § 33 Abs. 3 S. 3 PolG BW (§ 28 Abs. 3 S. 3 PolG BW a.F.) rechtswidrig?
Nein!
16. K wurde während des 4-stündigen Gewahrsams ein Toilettenbesuch versagt. Liegt darin ein Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG)?
Genau, so ist das!
17. K greift mit ihrer Klage verschiedene polizeiliche Maßnahmen an. Musst Du i.R.d. statthaften Klageart zwischen den verschiedenen Maßnahmen unterscheiden?
Genau, so ist das!
18. Die Ingewahrsamnahme dient hier der Durchsetzung eines Platzverweises. Ist der Platzverweis (§ 30 Abs. 1 PolG) ein Verwaltungsakt?
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Ranii
27.10.2022, 13:59:46
Kam in abgewandelter Form heute im ersten Examen Berlin
Lukas_Mengestu
27.10.2022, 16:51:37
Vielen Dank für den Hinweis, Leo! Hättest Du Lust uns vielleicht nach Deinem Durchgang noch in ein/zwei Sätzen mitzuteilen, welche Unterschiede bestanden? Das wäre großartig :-) Jetzt aber erst einmal gutes Durchhalten und viel Erfolg morgen bei der letzten Klausur! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Mangopüree
31.10.2022, 13:57:43
Es ging um Hooligans bei nem Hochrisikospiel, die in einem Fan-Zug zum Stadion gelaufen sind und die Fenster in umliegenden Geschäften eingeschlagen haben. Die Polizei hat sie eingekesselt zwecks Feststellung der Identitäten, um ihnen ein Gefährderanschreiben zustellen zu können… ungefähr so, soweit ich mich erinnern kann 😅
Mangopüree
31.10.2022, 13:58:55
Der Betroffene hat dann gemeint, dass er zwei Stunden nicht auf Toilette durfte, dass es genieselt habe und es ja wohl nicht okay sei, dass er hier in
Gewahrsamgehalten wird.
Lukas_Mengestu
31.10.2022, 14:01:37
Super, vielen Dank @[Mangopüree](151570) !
Foxxy
22.7.2024, 19:19:50
Hallo, vielen Dank für dein Lob! Deine positive Rückmeldung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben. Beste Grüße, Foxxy, für das Jurafuchs-Team
Cecilie
4.11.2022, 09:53:36
Wieso wird hier in der Zulässigkeit im
Fortsetzungsfeststellungsinteresseauch auf
Realakte der Polizei abgestellt? Wurden hier die Zulässigkeiten von ffk und lk einfach zusammen gelegt? Sonst würde ich doch nur darauf abstellen dass die in
gewahrsamnahme ein kurzfristiger erheblicher grundrehctseingriff war
mo§
27.11.2023, 21:12:13
Ja, das versteh ich auch nicht ganz. Die In
gewahrsamnahme ist meines Erachtens ein
Realaktund der
Platzverweishat sich ja auch nur erledigt, wenn von ihm keine rechtlichen Wirkungen mehr ausgehen, der Vollzug an sich reicht dafür nicht. Das wird in dem kurzen Sachverhaltsauszug zu den Fragen nicht deutlich.
mo§
27.11.2023, 21:13:58
Ah okay mein Fehler, die Erledigung ergibt sich ja aus der Fragestellung. Dann bleibt das mit der In
gewahrsamnahme aber immer noch offen für mich.
CR7
8.5.2024, 15:52:14
Sonst super aufgearbeitet, aber in diesem Punkt gebe ich dir recht, das ist einfach etwas oberflächlich. Das Gericht sagt selbst, dass die Rechtsnatur der Maßnahmen streitig ist, lässt es aber letztlich offen: 1. Die Klage ist ungeachtet der Frage, ob es sich bei den angegriffenen polizeilichen Maßnahmen im Einzelnen um eigenständige Verwaltungsakte mit entsprechendem Regelungsgehalt (wie die In
gewahrsamnahme und den
Platzverweis) oder bloße
Realakte bei Vollzug des polizeilichen
Gewahrsams (wie die Ermöglichung eines Toilettengangs und die Versorgung mit Trinkwasser) handelt, jedenfalls als Fortsetzungs
feststellungsklageentsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (st. Rspr.;vgl. Senat, Urt. v. 27.01.2015 - 1 S 257/13 -, juris Rn. 23; BVerwG, Urt. v. 24.11.2010 - 6 C 16.09 -, juris Rn. 26) oder als
allgemeine Feststellungsklagegemäß § 43 Abs. 1 VwGO s
tatthaft, nachdem sich diese vor Klageerhebung erledigt haben. Da mich dieser Punkt extrem irritiert hat, wäre ich dankbar, wenn man diesen Streit kurz aufmacht und es dann offen lässt. Meines Erachtens handelt es sich bei der In
gewahrsamnahme regelmäßig um ein
Realakt. Die Konstruktion über die Duldungsanordnung braucht es nicht. Hier kann man vertiefen: https://www.zjs-online.com/dat/artikel/2016_2_990.pdf
Linne_Karlotta_
23.7.2024, 10:43:41
Hallo in die Runde, danke für eure Hinweise.
Tatsächlich haben wir uns in der Falllösung zu stark an den Ausführungen des VGH orientiert, wonach die In
gewahrsamnahme ohne weitere Begründung als Verwaltungsakt eingeordnet wird (RdNr. 30). Wir haben nun noch einige Fragen ergänzt, um die Thematik differenzierter darzustellen. Interessant ist in dem Zusammenhang auch das Revisionsurteil des BVerwG (Urteil vom 27.03.2024 - BVerwG 6 C 1.22), welches wir ebenfalls für Euch aufbereitet haben: https://applink.jurafuchs.de/HOV81c4FsLb In diesem Urteil wird bereits die Einkesselung als In
gewahrsamnahme eingeordnet. Diese enthalte ein – über die
tatsächliche Wirkung der In
gewahrsamnahme hinausgehendes – Gebot, in dem Kessel zu verbleiben, bis die Personen einzeln abtransportiert werden. Diese Entscheidung zeigt: Man sollte nicht vorschnell ein reines Realhandeln annehmen, sondern sich immer im
Einzelfallfragen, ob die Maßnahme nicht doch eine Regelungswirkung hat. In der Klausur gilt aber (wie immer): Solange ihr das Problem gesehen und ein paar Argumente abgewogen habt, ist es unwichtig, wie ihr euch entscheidet. Ob die
Feststellungsklageoder die FFK s
tatthaft ist, ändert wenig an dem weiteren Verlauf eurer Prüfung. Ihr solltet aber vermeiden, die Frage offen zu lassen (so wie es die Rechtsprechung oft tut). Ich hoffe, ich habe euch damit weitergeholfen! Viele Grüße - Linne, für das Jurafuchs-Team
Respektive
29.12.2023, 15:39:09
Wie genau würde dann das Ergebnis der Prüfung lauten? Der VA zur In
gewahrsamnahme und der
Gewahrsamselbst waren ja rechtmäßig aber die einzelnen Verweigerung währenddessen (Toilettengang usw.) - die
Realakte sein dürften - waren
rechtswidrig
Tat
30.3.2024, 16:09:17
Es dürfte sich hier wohl um eine Klagehäufung isd 44 VwGO handeln (FFK + Allg.
Feststellungsklage). Die FFK wäre unbegründet und daher abzuweisen und die
Feststellungsklagebzgl. der
Realakte wäre begründet.
Wendelin Neubert
22.7.2024, 19:17:01
@[Respektive](150829) @[
Tat](225189) genauso ist es! Es besteht objektive Klagehäufung. Alle einzelnen Maßnahmen sind separat auf ihre
Rechtmäßigkeitzu überprüfen. Manche Maßnahmen waren rechtmäßig, andere
rechtswidrig(solche „geteilten“ Ergebnisse sind auch in Klausuren sehr beleibt). Teilweise waren die Maßnahmen dem Grunde nach rechtmäßig, aber die Dauer unverhältnismäßig (so jedenfalls später das BVerwG). Hoffe das hilft! Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Wendelin Neubert
22.7.2024, 19:34:26
Hallo liebe Jurafüchse, diese Entscheidung wurde im Rahmen der Revision vor dem BVerwG teilweise aufgehoben (BVerwG, Urt. v. 27.03.2024 – 6 C 1.22 –, jetzt hier bei Jurafuchs: https://applink.jurafuchs.de/5YQ2HbuDrLb). Ganz entscheidend dabei: Das BVerwG hat die Rechtsauffassung des VGH zur Verhinderungsblockade verworfen! Damit habe der VGH laut BVerwG „den Versammlungsbegriff des Art. 8 Abs. 1 GG verkannt“ (RdNr. 44). Wir haben die Entscheidung des VGH auf Grundlage der Entscheidung des BVerwG überarbeitet, aber sie ansonsten hier stehen gelassen, weil darin noch andere Aspekte geprüft wurden – insbesondere weitere Maßnahmen –, die wir hier aus Darstellungsgründen in der Bearbeitung des Urteils des BVerwG ausgespart haben. Beste Grüße - Wendelin für das Jurafuchs-Team
dario.b
7.12.2024, 11:44:51
@[Wendelin Neubert](409) Wäre es vor diesem Hintergrund vielleicht möglich die Aufgabe nochmal etwas anzupassen, sodass nicht nach der (nach Auffassung des BVerwG)
rechtsfehlerhaften Auffassung des VGH gefragt wird? Im Assessorexamen müssen wir ja letztendlich ohnehin der Rechtsprechung folgen, da erscheint es mir sinnwidrig, wenn wir in der Aufgabe die (ggfs unbekannte) Mindermeinung nennen sollen, anstelle dass wir hier schlicht danach gefragt werden, ob es sich um eine Verhinderungsblockade handelt, was dann abzulehnen wäre.