„Flugreisefall“
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der 17-jährige M fliegt mit der Fluggesellschaft F von München nach Hamburg. Ohne Ticket gelingt es M, den nicht ausgebuchten Flug der F nach New York zu nehmen. Gegen Entgelt hätte M den Flug nicht angetreten. M darf ohne Visum nicht einreisen. F befördert M zurück nach München und verlangt von M den Flugpreis.
Diesen Fall lösen 77,7 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Der Flugreisefall ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1971, die bis heute für die Rechtswissenschaft von Bedeutung ist. Der Fall handelt von einem Minderjährigen, der ohne Flugschein an Bord eines Flugzeugs nach New York gelangte. Die Fluggesellschaft verlangte die Bezahlung beider Flüge. Der BGH entschied, dass der Minderjährige den Wert des Fluges nach § 812, § 818 Abs. 2 BGB ersetzen muss, da er die Beförderungsleistung erlangt hat.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat F hat gegen M für den Flug von Hamburg nach New York einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz (§ 823 Abs. 2 S. 1 BGB i.V.m. § 265a Abs. 1 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
Jurastudium und Referendariat.
2. Hat F gegen M für den Flug von Hamburg nach New York einen Aufwendungsersatzanspruch aus GoA (§§ 677ff. BGB)?
Nein!
3. Hat M durch die Beförderungsleistung nach New York „etwas“ erlangt (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB)?
Genau, so ist das!
4. Hat M die Beförderungsleistung in sonstiger Weise und ohne rechtlichen Grund erlangt (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Eingriffskondiktion))?
Ja, in der Tat!
5. Haben F und M (konkludent) einen Beförderungsvertrag (§ 631 BGB) für den Flug von Hamburg nach New York geschlossen?
Nein!
6. Ist M nicht mehr bereichert (§ 818 Abs. 3 BGB)?
Genau, so ist das!
7. Bezüglich des Rückfluges von New York nach Hamburg: Hat F gegen M einen Anspruch aus GoA (§§ 677ff. BGB)?
Ja, in der Tat!
8. Schuldet M F Wertersatz in Höhe der üblichen Vergütung (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Eingriffskondiktion)), sofern er sich nicht auf Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen kann?
Ja!
9. Wenn M nach den „allgemeinen Vorschriften“ (§ 818 Abs. 4 BGB) haftet, ist dann die Berufung auf Entreicherung ausgeschlossen?
Genau, so ist das!
10. Ist zur Beurteilung der Kenntnis vom fehlenden Rechtsgrund nach der Rechtsprechung auf die Kenntnis der gesetzlichen Vertreter des M abzustellen?
Nein, das trifft nicht zu!
Fundstellen
Prüfungsschema
Wie prüfst Du die allgemeine Eingriffskondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB)?
- Etwas Erlangt
- In sonstiger Weise, nicht durch Leistung
- Auf Kosten des Bereicherungsgläubigers, durch Eingriff
- Ohne Rechtsgrund
- Rechtsfolge: Herausgabe des Erlangten
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Vojtech
11.11.2021, 00:34:03
Ich frage mich, ob man bei der letzten Erklärung auch auf den Willen der Eltern abstellen kann. Müsste man den Willen des M vom Willen der Eltern nicht trennen? Oder kann man bei dem GoA-Anspruch gegen M auch auf den Willen der Eltern abstellen?
Lukas_Mengestu
12.11.2021, 09:50:41
Hallo Vojtech, in der Tat wird bei der GoA, bei der Minderjährige die Geschäftsherren sind, auf den Willen der gesetzlichen Vertreter zurückgegriffen und zur Begründung § 166 Abs. 1 BGB herangezogen (vgl. Sprau, in: Grüneberg, § 682 RdNr. 2; Staudinger/Steinrötter, Minderjährige im Zivilrecht, JuS 2012, 97 - mit weiteren Nachweisen). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Helena
15.12.2021, 18:17:08
Eine mehr generelle Frage: ist es Wichtig zu wissen, wer welche Meinung vertritt? Ich habe da immer unterschiedliche Meinungen gehört. Manche sagen, dass man sagen soll der BGH vertritt das eine, die Literatur vertritt das andere, aber andere sagen man sollte das ganz rauslassen.
Der BGBoss
15.12.2021, 18:32:05
Schadet nicht, methodisch ist es aber wesentlich schöner das Gesetz auszulegen und so das Problem zu lösen. Quasi als hätte man es sich selbst so erarbeitet gerade
Marilena
15.12.2021, 18:40:08
Liebe Helena, danke für die Frage! Im Rahmen des Referendariats und für das zweite Examen ist es sehr wichtig, zu wissen, was genau die Rechtsprechung vertritt. Für Klausuren im Studium und im ersten Examen sollte man bei bekannten Problemen wissen, welche Ansichten dazu vertreten werden. Es ist dann aber methodisch korrekter und stilistisch schöner, diese Ansichten durch Rückgriff auf die Auslegungsmethoden (grammatikalische, evtl. historische, systematische und teleologische Auslegung) darzustellen (zB: Der Wortlaut könnte dafür sprechen, dass …) und nicht nach dem Schema: „Die Rspr vertritt dies; die Literatur vertritt das.“ Es kommt nicht auf den konkreten Urheber der Gedanken an, sondern auf den Inhalt. Triffst Du in der Klausur auf ein Dir unbekanntes „Problem“, gehst Du letztlich
Marilena
15.12.2021, 18:41:08
ja auch so vor, dass Du es mithilfe der Auslegung der in Betracht kommenden Norm(en) löst. Ich schließe mich insofern meinem Vorredner an.😊 Ich hoffe das beantwortet Deine Frage? Liebe Grüße Marilena für das Jurafuchs-Team
Marilena
15.12.2021, 18:41:25
Danke Dir, Der BGBoss!
Nachdenker
26.11.2023, 17:26:45
Wieso sollte F gegen M keinen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verstoßes gegen ein
Schutzgesetzhaben, nur weil M niemandem „den Platz weggenommen hat“? Durch den Antritt des Fluges hat doch M zumindest den Kerosinverbrauch des Flugzeuges erhöht, wodurch ein Schaden für F entstanden ist?
Lukas_Mengestu
5.12.2023, 16:56:58
Hallo Nachdenker, schöner Gedanke! Hierzu fehlen im SV und Originalfall allerdings entsprechende Informationen. Auch in der Praxis wird dieser Schaden kaum bezifferbar sein. Neben Beladung (Gepäck, Personen, Tank) kommt es bzgl. des Verbrauchs ja auf eine Unmenge Faktoren an: Wetter, Wind, häufiges Wechseln der Flughöhen, die Flughöhe an sich... Der Schaden durch die Mehrbeladung mit einem 17-jährigen (vermutlich 60-80 kg), dürfte hier im Ergebnis vernachlässigbar sein und jedenfalls deutlich unter dem Preis für den Erwerb eines Tickets liegen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
gottloser Vernunftsjurist
26.11.2023, 23:08:23
Man könnte auch zum Ergebnis gelangen, dass hier eine Leistungs- statt einer
Eingriffskondiktionvorliegt. Denn grds. ist die Fluggesellschaft an einen Vertragsschluss interessiert, der ist hier jedoch gescheitert. Die Rückabwicklung gescheiterter Verträge sollte daher in die Sphäre der Leistungskondiktion einbezogen werden. Wenn man dann zum Punkt gelangt, ob der Minderjährige Kenntnis vom fehlenden Rechtsgrund hatte, müsste man mit der hL mit der Kenntnis der gesetzlichen Vertreter arbeiten. Da diese wohl aber auch wissen müssten, dass man ohne Bezahlung nicht in den Genuss einer Flugreise kommt, ist §§
818 III, 819 I BGB hier auch anzunehmen, sodass sich die Lösungswege letztlich nicht unterscheiden.
An
8.12.2023, 20:44:57
@[Luk7_8](220959) scheitert die Leistungskondiktion nicht schon daran, dass die F gar nicht wusste, dass M an Board ist? Damit konnte sie ja gar nicht bewusst und zweckgerichtet fremdes Vermögen m
ehren.
gottloser Vernunftsjurist
9.12.2023, 13:27:19
Guter Beitrag, das kann man jedoch anders sehen: Das Personal ging bei den Kontrollen davon aus, einen Flugpassagier aufgrund eines abgeschlossenen Beförderungsvertrages zu befördern, hat also, als es den M einsteigen ließ, bewusst und zweckgerichtet das Vermögen des M gemehrt.
Swiss
6.12.2023, 15:52:28
Liebe Moderatoren , die Anmerkung sei mir gestattet , die Fallkonstellation, nicht die Rechtslage, ist wohl lebensfremd (geworden), besonders aufgrund der aktuellen Flugsicherheitsstandards .
An
8.12.2023, 20:41:55
Liebe/r @[Swiss](222535), das mag wohl durchaus sein, dass die Fallkonstellation heute noch nur bedingt lebensnah ist. Gleichwohl geht es in dieser Playlist ja um „Klassiker des Zivilrechts“ und Klassiker nehmen idR wenig Rücksicht auf Aktualität.