Flugreisefall (BGHZ 55, 128): examensrelevante Rechtsprechung | Jurafuchs


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Minderjähriger Schwarzfahrer an Board eines Linienflugs nach New York.
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streitig (Rechtsprechung vs. Lehre)

Der 17-jährige M fliegt mit der Fluggesellschaft F von München nach Hamburg. Ohne Ticket gelingt es M, den nicht ausgebuchten Flug der F nach New York zu nehmen. Gegen Entgelt hätte M den Flug nicht angetreten. M darf ohne Visum nicht einreisen. F befördert M zurück nach München und verlangt von M den Flugpreis.

Einordnung des Falls

Der Flugreisefall ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1971, die bis heute für die Rechtswissenschaft von Bedeutung ist. Der Fall handelt von einem Minderjährigen, der ohne Flugschein an Bord eines Flugzeugs nach New York gelangte. Die Fluggesellschaft verlangte die Bezahlung beider Flüge. Der BGH entschied, dass der Minderjährige den Wert des Fluges nach § 812, § 818 Abs. 2 BGB ersetzen muss, da er die Beförderungsleistung erlangt hat.

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Hat F hat gegen M für den Flug von Hamburg nach New York einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz (§ 823 Abs. 2 S. 1 BGB i.V.m. § 265a Abs. 1 StGB)?

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Nein, das trifft nicht zu!

Der Anspruch auf Schadensersatz wegen Verstoßes eines Schutzgesetzes (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Schutzgesetz) setzt voraus: (1) Verstoß gegen ein Schutzgesetz, (2) haftungsbegründende Kausalität, (3) Verschulden, (4) kausaler Schaden. Ein Vermögensschaden (§ 249 Abs. 1 BGB) liegt vor, wenn der jetzige tatsächliche Wert des Vermögens geringer ist als der Wert, den das Vermögen ohne das die Ersatzpflicht begründende Ereignis haben würde. Sollte gegen M ein zivilrechtlicher Verschuldensvorwurf (§ 823 Abs. 2 S. 2 BGB) vorliegen, fehlt es für einen deliktischen Anspruch im Rahmen des haftungsausfüllenden Tatbestands bereits an einem Schaden. Es waren mehrere Plätze im Flugzeug noch frei. Ein Schaden wäre beispielsweise dann denkbar, wenn F aufgrund des Zusteigens des M einen zahlungswilligen Gast hätte abweisen müssen. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.

2. Hat F gegen M für den Flug von Hamburg nach New York einen Aufwendungsersatzanspruch aus GoA (§§ 677ff. BGB)?

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Nein!

Die berechtigte GoA (§§ 677ff. BGB) setzt voraus: (1) Geschäftsbesorgung, (2) fremdes Geschäft, (3) Fremdgeschäftsführungswillen, (4) ohne Auftrag, (5) Berechtigung. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Beförderung des M für F ein fremdes Geschäft war, welches diese mit Fremdgeschäftsführungswillen getätigt hat (§§ 683 S. 1, 670 BGB). Geht man davon aus, dass es sich bei der Beförderung des M um ein fremdes Geschäft der F handelt, scheitert ein Aufwendungsersatzanspruch aus GoA jedenfalls bereits aufgrund der fehlenden Kenntnis der F über die Fremdheit, da sie den M offenbar nicht persönlich identifizierte (§ 687 Abs. 1 BGB).

3. Hat M durch die Beförderungsleistung nach New York „etwas“ erlangt (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB)?

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Genau, so ist das!

„Etwas“ (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB) ist jeder vermögenswerte Vorteil. Dies ist nicht nach der gesamten Vermögenslage des Schuldners zu beurteilen („ersparte Aufwendungen“), sondern konkret und gegenständlich zu bestimmen. M hat durch die Beförderung von Hamburg nach New York gegenständlich eine Beförderungsleistung und somit „etwas“ erlangt.

4. Hat M die Beförderungsleistung in sonstiger Weise und ohne rechtlichen Grund erlangt (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Eingriffskondiktion))?

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Ja, in der Tat!

Der Anspruch aus Eingriffskondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) setzt voraus: (1) etwas erlangt, (2) in sonstiger Weise, also nicht durch Leistung, (3) auf Kosten des Bereicherungsgläubigers (= Eingriff in ein fremdes Recht), (4) ohne Rechtsgrund. M hat die Beförderungsleistung nicht durch Leistung der F erlangt. M hat sich vielmehr eigenmächtig einen Sitzplatz zugewiesen. Hierdurch hat M in den wirtschaftlichen Zuweisungsgehalt einer geschützten Rechtsposition der F, namentlich der Verwertungsmöglichkeit von Gebrauchsvorteilen und Dienstleistungen, eingegriffen. Somit hat M die Beförderungsleistung in sonstiger Weise erlangt. M besaß zudem keinen Behaltensgrund, sodass M die Leistung auch ohne Rechtsgrund erlangt hat. F hat gegen M einen Anspruch aus Eingriffskondiktion (§ 812 Abs. 1 S.1 Alt. 2 BGB).

5. Haben F und M (konkludent) einen Beförderungsvertrag (§ 631 BGB) für den Flug von Hamburg nach New York geschlossen?

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Nein!

Ein Vertrag kommt zustande durch übereinstimmende Willenserklärungen der Parteien (§§ 145ff. BGB). Es fehlt bereits an einer Einigung zwischen F und M (§§ 145ff. BGB). Die Frage, ob bereits durch die Inanspruchnahme des Fluges ein Vertrag zustande gekommen ist, so wie es bei Leistungen der Daseinsvorsorge oder beim Massenverkehr vertreten wird, kann offen bleiben. Das Bereitstellen des Flugzeuges kann nicht mit dem Massenverkehr verglichen werden. Alle Passagiere werden in der Regel namentlich erfasst, sodass es bereits an der Anonymität fehlt. F und M haben daher keinen Beförderungsvertrag geschlossen.

6. Ist M nicht mehr bereichert (§ 818 Abs. 3 BGB)?

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Genau, so ist das!

Der Bereicherungsgläubiger kann vom Bereicherungsschuldner nur herausverlangen, was dieser durch die Bereicherung an „Mehr“ in seinem Vermögen hat (vgl. § 818 Abs. 3 BGB). Durch die Inanspruchnahme des Fluges nach New York hat M nicht mehr und nicht weniger in der Tasche als zuvor. Zudem hätte M den Flug nicht angetreten, wenn er für diesen hätte zahlen müssen. M kann sich damit auf eine Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen.

7. Bezüglich des Rückfluges von New York nach Hamburg: Hat F gegen M einen Anspruch aus GoA (§§ 677ff. BGB)?

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Ja, in der Tat!

Die berechtigte GoA (§§ 677ff. BGB) setzt voraus: (1) Geschäftsbesorgung, (2) fremdes Geschäft, (3) Fremdgeschäftsführungswillen, (4) ohne Auftrag, (5) Berechtigung. Insbesondere entsprach es dem objektiven Willen des M, dass F ihn umgehend zurückfliegt. M ist so unvermeidlichen Schwierigkeiten mit der amerikanischen Grenzbehörde aufgrund seiner illegalen Einreise entgangen. Auch entsprach es dem Willen der Eltern, dass F für eine umgehende Rückkehr des M sorgt. F durfte annehmen, dass die Eltern des M nach den gegebenen Umständen einen Rückflug befürworten.

8. Schuldet M F Wertersatz in Höhe der üblichen Vergütung (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Eingriffskondiktion)), sofern er sich nicht auf Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen kann?

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Ja!

Grundsätzlich schuldet der Kondiktionsschuldner die Herausgabe des Erlangten in Natur (§ 812 Abs. 1 S.1 Alt. 2 BGB). Ist dies nicht möglich, ist Wertersatz zu leisten (§ 818 Abs. 2 BGB). Die erlangte Beförderungsleistung ist keine gegenständliche Vermögensmehrung und kann daher nicht selbst herausgegeben werden. M muss daher die übliche Vergütung, also hier das Beförderungsentgelt, zahlen (§ 818 Abs. 2 BGB).

9. Wenn M nach den „allgemeinen Vorschriften“ (§ 818 Abs. 4 BGB) haftet, ist dann die Berufung auf Entreicherung ausgeschlossen?

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Genau, so ist das!

Weitere Rechtsfolge von § 818 Abs. 4 BGB neben der Haftung nach den „allgemeinen Vorschriften“ ist, dass sich der Schuldner nicht mehr auf die Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen kann und daher - verschuldensunabhängig - zum Wertersatz (§ 818 Abs. 2 BGB) verpflichtet ist („bereicherungsunabhängige Wertersatzhaftung“). § 818 Abs. 4 BGB setzt voraus, dass der Schuldner entweder verklagt ist oder positive Kenntnis davon hat, dass es keinen Rechtsgrund für die Bereicherung gibt (§ 819 Abs. 1 BGB).

10. Ist zur Beurteilung der Kenntnis vom fehlenden Rechtsgrund nach der Rechtsprechung auf die Kenntnis der gesetzlichen Vertreter des M abzustellen?

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Nein, das trifft nicht zu!

Würde man auf die Kenntnis des Minderjährigen abstellen, widerspräche dies dem durch die in §§ 104ff. i.V.m. 818 Abs. 3 BGB angelegten Minderjährigenschutz, der eine Haftung nur bei verbleibender Bereicherung vorsieht. Eine Auffassung (etwa Staudinger, Larenz/Canaris) stellt deshalb auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters ab. Die h.L. stellt bei Leistungskondiktionen auf die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters ab, bei Eingriffskondiktionen auf den Minderjährigen, soweit er deliktsfähig (§§ 827, 828 BGB) war. Die Eingriffskondiktion stehe dem Deliktsrecht näher, hier sei der Minderjährige weniger schützenswert. Der BGH hat hier auf den M abgestellt, da er den Tatbestand des Erschleichens von Leistungen (§ 265a Abs. 1 StGB) verwirklicht, d.h. die Leistung durch unerlaubte Handlung erhalten habe. Er sei nicht schutzwürdig. M war 17 Jahre alt und kurz vor seinem 18. Geburtstag. Von einem 17-Jährigen ist ein gewisses Maß an Reife zu erwarten. M kann sich daher nicht auf Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen.

Prüfungsschema

Wie prüfst Du die allgemeine Eingriffskondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB)?

  1. Etwas Erlangt
  2. In sonstiger Weise, nicht durch Leistung
  3. Auf Kosten des Bereicherungsgläubigers, durch Eingriff
  4. Ohne Rechtsgrund
  5. Rechtsfolge: Herausgabe des Erlangten

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