Examensrelevante Rechtsprechung
Rechtsprechung Zivilrecht
Klassiker im Zivilrecht
„Flugreisefall“ – GoA bei Minderjährigen
„Flugreisefall“ – GoA bei Minderjährigen
9. Mai 2023
29 Kommentare
4,7 ★ (73.713 mal geöffnet in Jurafuchs)
Prüfungsschema
Wie prüfst Du die allgemeine Eingriffskondiktion (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB)?
- Etwas Erlangt
- In sonstiger Weise, nicht durch Leistung
- Auf Kosten des Bereicherungsgläubigers, durch Eingriff
- Ohne Rechtsgrund
- Rechtsfolge: Herausgabe des Erlangten
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der 17-jährige M fliegt mit der Fluggesellschaft F von München nach Hamburg. Ohne Ticket gelingt es M, den nicht ausgebuchten Flug der F nach New York zu nehmen. Gegen Entgelt hätte M den Flug nicht angetreten. M darf ohne Visum nicht einreisen. F befördert M zurück nach München und verlangt von M den Flugpreis.
Diesen Fall lösen 76,0 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Der Flugreisefall ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1971, die bis heute für die Rechtswissenschaft von Bedeutung ist. Der Fall handelt von einem Minderjährigen, der ohne Flugschein an Bord eines Flugzeugs nach New York gelangte. Die Fluggesellschaft verlangte die Bezahlung beider Flüge. Der BGH entschied, dass der Minderjährige den Wert des Fluges nach §§ 812, 818 Abs. 2 BGB ersetzen muss, da er die Beförderungsleistung erlangt hat.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Hat F hat gegen M für den Flug von Hamburg nach New York einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verstoßes gegen ein Schutzgesetz (§ 823 Abs. 2 S. 1 BGB i.V.m. § 265a Abs. 1 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
2. Hat F gegen M für den Flug von Hamburg nach New York einen Aufwendungsersatzanspruch aus GoA (§§ 677ff. BGB)?
Nein!
3. Hat M durch die Beförderungsleistung nach New York „etwas“ erlangt (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB)?
Genau, so ist das!
4. Hat M die Beförderungsleistung in sonstiger Weise und ohne rechtlichen Grund erlangt (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Eingriffskondiktion))?
Ja, in der Tat!
5. Haben F und M (konkludent) einen Beförderungsvertrag (§ 631 BGB) für den Flug von Hamburg nach New York geschlossen?
Nein!
6. Ist M nicht mehr bereichert (§ 818 Abs. 3 BGB)?
Genau, so ist das!
7. Bezüglich des Rückfluges von New York nach Hamburg: Hat F gegen M einen Anspruch aus GoA (§§ 677ff. BGB)?
Ja, in der Tat!
8. Schuldet M F Wertersatz in Höhe der üblichen Vergütung (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Eingriffskondiktion)), sofern er sich nicht auf Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen kann?
Ja!
9. Wenn M nach den „allgemeinen Vorschriften“ (§ 818 Abs. 4 BGB) haftet, ist dann die Berufung auf Entreicherung ausgeschlossen?
Genau, so ist das!
10. Ist zur Beurteilung der Kenntnis vom fehlenden Rechtsgrund nach der Rechtsprechung auf die Kenntnis der gesetzlichen Vertreter des M abzustellen?
Nein, das trifft nicht zu!
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Vojtech
11.11.2021, 00:34:03
Ich frage mich, ob man bei der letzten Erklärung auch auf den Willen der Eltern abstellen kann. Müsste man den Willen des M vom Willen der Eltern nicht trennen? Oder kann man bei dem GoA-Anspruch gegen M auch auf den Willen der Eltern abstellen?

Lukas_Mengestu
12.11.2021, 09:50:41
Hallo Vojtech, in der Tat wird bei der GoA, bei der Minderjährige die Geschäftsherren sind, auf den Willen der gesetzlichen Vertreter zurückgegriffen und zur Begründung § 166 Abs. 1 BGB herangezogen (vgl. Sprau, in: Grüneberg, § 682 RdNr. 2; Staudinger/Steinrötter, Minderjährige im Zivilrecht, JuS 2012, 97 - mit weiteren Nachweisen). Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

Helena
15.12.2021, 18:17:08
Eine mehr generelle Frage: ist es Wichtig zu wissen, wer welche Meinung vertritt? Ich habe da immer unterschiedliche Meinungen gehört. Manche sagen, dass man sagen soll der BGH vertritt das eine, die Literatur vertritt das andere, aber andere sagen man sollte das ganz rauslassen.

Der BGBoss
15.12.2021, 18:32:05
Schadet nicht, methodisch ist es aber wesentlich schöner das Gesetz auszulegen und so das Problem zu lösen. Quasi als hätte man es sich selbst so erarbeitet gerade

Marilena
15.12.2021, 18:40:08
Liebe Helena, danke für die Frage! Im Rahmen des Referendariats und für das zweite Examen ist es sehr wichtig, zu wissen, was genau die Rechtsprechung vertritt. Für Klausuren im Studium und im ersten Examen sollte man bei bekannten Problemen wissen, welche Ansichten dazu vertreten werden. Es ist dann aber methodisch korrekter und stilistisch schöner, diese Ansichten durch Rückgriff auf die Auslegungsmethoden (grammatikalische, evtl. historische, systematische und teleologische Auslegung) darzustellen (zB: Der Wortlaut könnte dafür sprechen, dass …) und nicht nach dem Schema: „Die Rspr vertritt dies; die Literatur vertritt das.“ Es kommt nicht auf den konkreten Urheber der Gedanken an, sondern auf den Inhalt. Triffst Du in der Klausur auf ein Dir unbekanntes „Problem“, gehst Du letztlich

Marilena
15.12.2021, 18:41:08
ja auch so vor, dass Du es mithilfe der Auslegung der in Betracht kommenden Norm(en) löst. Ich schließe mich insofern meinem Vorredner an.😊 Ich hoffe das beantwortet Deine Frage? Liebe Grüße Marilena für das Jurafuchs-Team

Marilena
15.12.2021, 18:41:25
Danke Dir, Der BGBoss!
Nachdenker
26.11.2023, 17:26:45
Wieso sollte F gegen M keinen Anspruch auf
Schadensersatz wegen Verstoßes gegen ein
Schutzgesetzhaben, nur weil M niemandem „den Platz weggenommen hat“? Durch den Antritt des Fluges hat doch M zumindest den Kerosinverbrauch des Flugzeuges erhöht, wodurch ein
Schadenfür F entstanden ist?

Lukas_Mengestu
5.12.2023, 16:56:58
Hallo Nachdenker, schöner Gedanke! Hierzu fehlen im SV und Originalfall allerdings entsprechende Informationen. Auch in der Praxis wird dieser
Schadenkaum bezifferbar sein. Neben Beladung (Gepäck, Personen, Tank) kommt es bzgl. des Verbrauchs ja auf eine Unmenge Faktoren an: Wetter, Wind, häufiges Wechseln der Flughöhen, die Flughöhe an sich... Der
Schadendurch die Mehrbeladung mit einem 17-jährigen (vermutlich 60-80 kg), dürfte hier im Ergebnis vernachlässigbar sein und jedenfalls deutlich unter dem Preis für den Erwerb eines Tickets liegen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team

FW
15.11.2024, 16:18:44
Hi, Was ist hier mit dem Kommerzalisierungsgedanke des § 249? Hätte man den noch bringen können und dadurch den
Schadenbejahen können?
gottloser Vernunftsjurist
26.11.2023, 23:08:23
Man könnte auch zum Ergebnis gelangen, dass hier eine Leistungs- statt einer
Eingriffskondiktionvorliegt. Denn grds. ist die Fluggesellschaft an einen Vertragsschluss interessiert, der ist hier jedoch gescheitert. Die Rückabwicklung gescheiterter Verträge sollte daher in die Sphäre der
Leistungskondiktioneinbezogen werden. Wenn man dann zum Punkt gelangt, ob der Minderjährige Kenntnis vom fehlenden Rechtsgrund hatte, müsste man mit der hL mit der Kenntnis der gesetzlichen Vertreter arbeiten. Da diese wohl aber auch wissen müssten, dass man ohne Bezahlung nicht in den Genuss einer Flugreise kommt, ist §§
818 III, 819 I BGB hier auch anzunehmen, sodass sich die Lösungswege letztlich nicht unterscheiden.
An
8.12.2023, 20:44:57
@[Luk7_8](220959) scheitert die
Leistungskondiktionnicht schon daran, dass die F gar nicht wusste, dass M an Board ist? Damit konnte sie ja gar nicht bewusst und
zweckgerichtetfremdes Vermögen mehren.
gottloser Vernunftsjurist
9.12.2023, 13:27:19
Guter Beitrag, das kann man jedoch anders sehen: Das Personal ging bei den Kontrollen davon aus, einen Flugpassagier aufgrund eines abgeschlossenen Beförderungsvertrages zu befördern, hat also, als es den M einsteigen ließ, bewusst und
zweckgerichtetdas Vermögen des M gemehrt.

FalkTG
30.12.2024, 13:03:30
YanWing
28.3.2025, 15:17:23
Ich sehe auch eine Leistung. Es ist ja nicht so, dass er sich an Bord versteckt hätte. Das Personal wusste von ihm, der Pilot will alle an Bord befindlichen Passagiere befördern, dies schließt M mit ein. Das Einzige was sie nicht wussten war, dass er kein Flugticket hatte, die Beförderungsleistung wollten sie allerdings eben schon an ihn erbringen.
Swiss
6.12.2023, 15:52:28
Liebe Moderatoren , die Anmerkung sei mir gestattet , die Fallkonstellation, nicht die Rechtslage, ist wohl lebensfremd (geworden), besonders aufgrund der aktuellen Flugsicherheitsstandards .
An
8.12.2023, 20:41:55
Liebe/r @[Swiss](222535), das mag wohl durchaus sein, dass die Fallkonstellation heute noch nur bedingt lebensnah ist. Gleichwohl geht es in dieser Playlist ja um „Klassiker des Zivilrechts“ und Klassiker nehmen idR wenig Rücksicht auf Aktualität.
caulpoy
9.1.2025, 21:53:43
Besteht ein § 812 auch beim Rückflug? Wie verhält sich das bei Vorliegen eines Anspruch aus GoA?
Lalalu
19.1.2025, 10:36:13
die berechtigte GoA stellt einen Rechtsgrund dar :) Ein Anspruch aus 812 ist (bzgl des Rückflugs) nicht gegeben.

Jan Marsalek
21.5.2025, 17:24:37
Ich halte die Frage und die Antwort, dass "wenn die Voraussetzungen der verschärften Haftung vorliegen, sich der bösgläubige bzw. verklagte Bereicherungs
schuldner gem. §§ 819 I, 818 IV BGB nicht auf den Wegfall der Bereicherung berufen kann" sehr ungenau und irreführend. Rechtsfolge des § 818 IV BGB ist mMn lediglich erstmal die "Haftung nach den allgemeinen Vorschriften" und es ist eben strittig, ob als Rechtsfolge der verschärften Haftung des Bereicherungs
schuldners nur eine Haftung nach den allgemeinen Vorschriften in Betracht kommt ODER ob DANEBEN der
bereicherungsrechtliche Anspruch bestehen bleibt. Die hM lässt sogar einen Rückgriff auf §
818 II BGBzu, wenn tatsächlich die Voraussetzungen der Haftung nach den allgemeinen Vorschriften vorliegen. Danach besteht also sogar eine echte Parallelität der Haftung nach den allg. Vorschriften und auf Wertersatz nach §
818 II BGB(s. zB Grüneberg, § 818 Rn. 53). Entfällt dagegen eine Haftung aus den allgemeinen Vorschriften, so kann sich der
Schuldner auf
Entreicherungberufen, was als Restwirkung des
§ 818 III BGBbezeichnet wird.
Erik_1995
26.5.2025, 12:35:31
Ich habe das Gefühl, die Anwendung des § 687 I ist mehr Ergebnisorientiert als logisch vertretbar. Denn, wenn man den Hinflug daran scheitern lässt, dass die Erfüllung einer vermeintlichen Verbindlichkeit mangels
Fremdgeschäftsführungswillen scheiterte, gleichzeitig aber bei Leistung auf einen nichtigen oder bestehenden Vertrag den
Fremdgeschäftsführungswillen annimmt, argumentiert man gegen sich selbst. Es ist doch das selbe, ob ich auf eine nichtige oder gar nicht bestehende Verbindlichkeit leiste. Aber eimal sagt der BGH
Fremdgeschäftsführungswille+, einmal sagt er § 687 I FGW -. Also warum ist der
Flugreisefall(Hinflug) nicht genauso zu behandeln wie die Leistung auf einen nichtigen Vertrag (im glauben er sei wirksam). Die subjektive Seite ist die selbe: Der Leistende glaubt er würde durch das Geschäft seine Verbindlichkeit erfüllen. 1. Erfüllen eines wirksamen Vertrags: FGW +, aber Subsidiarität der GoA 2. Erfüllen eines unwirksamen Vertrags: FGW + (BGH), FGW - (Lit) 3. Erfüllen gar kein Vertrages: FGW - da § 687. Warum Erfüllen eines nichtigen Vertrages != Erfüllen eines vermeintlichen Vertrages? Es ist doch subjektiv exakt das selbe!

Nadim Sarfraz
30.5.2025, 10:30:05
Lieber @[Erik_1995](177911), danke für deine Frage. Vorliegend war es der Fluggesellschaft bzw. der für sie handelnden Mitarbeiter beim Hinflug gar nicht bewusst, dass sie den minderjährigen Fluggast mit nach NYC nahmen - daran scheitert hier der
Fremdgeschäftsführungswille, da ohne Wissen um das fremde Geschäft auch kein dem entsprechender Wille entstehen kann. Unterstellt man, dass die Mitarbeiter von der Anwesenheit des Minderjährigen beim Hinflug wussten und davon ausgingen, diesen auf Grundlage eines nicht existenten Vertrags nach NYC zu fliegen, würde die Rspr. (wie beim nichtigen Vertrag) ebenfalls von einem
Fremdgeschäftsführungswillen ausgehen (siehe hierzu Thole in: BeckOGK, § 677 Rn. 125). Auch Lorenz, NJW 1996, 883, 885 stellt diese beiden Fallgruppen gleich. Insofern liegt hier mE kein Widerspruch vor. (: Liebe Grüße Nadim für das Jurafuchs-Team