Ergänzende Vertragsauslegung (2)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

Tabakhändler T verpachtet P sein Tabakwarengeschäft. Vertraglich ist es T untersagt, in demselben Gebäude einen Laden gleicher Art zu betreiben. T eröffnet vor dem Haus einen Kiosk und verkauft dort Tabakwaren.

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Einordnung des Falls

Ergänzende Vertragsauslegung (2)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Haben sich Vertragsparteien nicht über alle (Neben-)Punkte geeinigt, die nach Erklärung mindestens einer Partei Vertragsbestandteil sein sollten, ist der Vertrag gleichwohl wirksam geschlossen.

Nein, das ist nicht der Fall!

Haben die Parteien sich nicht über alle Punkte geeinigt, über die eine Vereinbarung getroffen werden sollte, ist ein Vertrag im Zweifel nicht geschlossen (offener Dissens, § 154 Abs. 1 S. 1 BGB). Ist hingegen anzunehmen, dass der Vertrag auch ohne eine Bestimmung über diesen Punkt geschlossen sein würde, ist der Vertrag wirksam (versteckter Dissens, § 155 BGB). Wichtig: Die §§ 154, 155 BGB betreffen nur Nebenabreden. Fehlt es an einer Einigung über die vertragswesentlichen Bestandteile (=essentialia negotii), so fehlt es stets an einem wirksamen Vertragsschluss.
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2. Es besteht eine ausfüllungsbedürftige Lücke im Vertrag zwischen P und T hinsichtlich der Geltung des Konkurrenzverbots auch vor dem Gebäude.

Ja, in der Tat!

Nach Vertragsschluss kann sich herausstellen, dass ein bestimmter Punkt von den Parteien (bewusst oder unbewusst) nicht geregelt wurde. Eine solche Lücke ist ausfüllungsbedürftig, wenn ohne deren Schließung die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet wäre. Ob eine solche Lücke besteht, muss durch Auslegung (§§ 133, 157 BGB) ermittelt werden. T und P haben ein potenzielles Konkurrenzproblem gesehen, die Möglichkeit der Errichtung eines tabakverkaufenden Kiosks vor dem Gebäude jedoch nicht bedacht. Der Verkauf von Tabakwaren vor dem Gebäude lässt eine Abwanderung des Kundenstammes vermuten und gefährdet damit den Vertragszweck.

3. Ein vollumfängliches Konkurrenzverbot zwischen T und P könnte sich im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§ 157 BGB) ergeben. Dazu müsste der Pachtvertrag eine ausfüllungsbedürftige Lücke aufweisen und der hypothetische Parteiwille müsste darauf gerichtet sein.

Ja!

Ergänzende Vertragsauslegung bedeutet Ergänzung eines lückenhaften Rechtsgeschäfts. Sie setzt voraus: (1) einen wirksamen Vertragsschluss und (2) eine ausfüllungsbedürftige Lücke im Vertrag. Rechtsfolge ist die Ausfüllung der Lücke anhand des hypothetischen Parteiwillens nach Treu und Glauben und der Verkehrsanschauung. Es stellt sich die Frage, was die Parteien vereinbart hätten, hätten sie die Lücke bedacht. Arbeite auch hier stets sauber: Erst musst Du prüfen, ob eine ausfüllungsbedürftige Lücke besteht (= Tatbestand), dann musst Du prüfen, wie die Lücke zu füllen ist (Rechtsfolge).

4. P und T hätten – wenn sie die Möglichkeit der Eröffnung eines tabakverkaufenden Kiosks seitens T in der Nachbarschaft bedacht hätten – ein vollumfängliches Konkurrenzverbot vereinbart.

Genau, so ist das!

Eine Auslegung des hypothetischen Parteiwillens nach Treu und Glauben und der Verkehrssitte ergibt: Hätte P und T die Möglichkeit der Eröffnung eines tabakverkaufenden Kiosks seitens T in der Nachbarschaft bedacht, hätten sie ein vollumfängliches Konkurrenzverbot vereinbart. Zweck des lokalen Konkurrenzverbots war der Schutz des P vor einer Kundenabwanderung zu T. Dieser Zwecke wäre verfehlt, wenn T einen Kiosk vor dem Gebäude betreiben dürfte. Somit ist die Lücke im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung durch Annahme eines umfassenden Konkurrenzverbots zu schließen (§§ 133, 157 BGB). Der Betrieb des Kiosks vor dem Gebäude ist T im Rahmen ergänzender Vertragsauslegung untersagt. Bei der Prüfung des hypothetischen Parteiwillens musst Du den Sachverhalt ausschlachten und lebensnah argumentieren.

5. Da P und T sich nicht über ein vollumfängliches Konkurrenzverbot auch vor dem Gebäude geeinigt haben, liegt ein offener Dissens (§ 154 Abs. 1 S. 1 BGB) und deshalb kein wirksamer Pachtvertrag vor.

Nein, das ist nicht der Fall!

Im Zweifel ist der Vertrag nicht geschlossen, solange die Parteien sich nicht über alle Punkte geeinigt haben, über die eine Vereinbarung getroffen werden sollte (§ 154 Abs. 1 S. 1 BGB). Zwischen T und P war von einem Konkurrenzverbot außerhalb des Gebäudes nie die Rede, sodass lediglich ein versteckter Einigungsmangel in Betracht kommt, bei dem der Vertrag wirksam ist, wenn anzunehmen ist, dass er auch ohne ein weitergehendes Konkurrenzverbot geschlossen sein würde (§ 155 BGB). Eine Auslegung (§§ 133, 157 BGB) ergibt, dass T und P den Willen zu einem Pachtvertrag hatten – auch ohne weitergehendes Konkurrenzverbot.
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