Zivilrecht
BGB Allgemeiner Teil
Anfechtung der Willenserklärung
Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte, Kipp'sche Lehre zu „Doppelwirkungen im Recht“
Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte, Kipp'sche Lehre zu „Doppelwirkungen im Recht“
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Der 16-jährige M verkauft K seinen Motorroller. Dabei gibt M eine zu niedrige Laufleistung an, um einen höheren Preis zu erzielen. Die Eltern des M sind mit alledem nicht einverstanden. K möchte zudem anfechten, als er von der Täuschung erfährt.
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Einordnung des Falls
Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte, Kipp'sche Lehre zu „Doppelwirkungen im Recht“
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 2 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Zwischen M und K ist ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen (§ 433 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
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2. K kann den nichtigen Kaufvertrag zusätzlich auch wegen arglistiger Täuschung anfechten (§ 123 Abs. 1 BGB).
Ja, in der Tat!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Basti
15.1.2020, 19:56:49
Wenn kein KV zustande gekommen ist, wie kann dann ein KV angefochten werden? 🤔
Maus
17.1.2020, 19:09:23
Steht doch in der Lösung drin?
Jarl Holzblock
22.2.2020, 09:29:28
Es ist ein Vertrag geschlossen worden, er ist nur nicht wirksam.
Eda
25.10.2020, 09:08:37
In der Lösung steht, dass der Vertrag nicht existiert, weil er nichtig ist.
Bienenschwarmverfolger
20.4.2021, 09:47:42
Die „Erkenntnis“ der
Lehre von der Doppelnichtigkeit(auch „
Doppelwirkung im Recht“) könnt ihr euch so vorstellen: Ein nichtiger Vertrag ist kein bloßes „Nichts“, das man nicht weiter vernichten könnte. Stellt ihn euch eher als normalen Vertrag vor, dem ein Mangel anhaftet (hier zunächst die fehlende Zustimmung der Eltern). Diesem Mangel können aber später noch weitere Mängel hinzugefügt werden, wie hier die Anfechtung. Das ist wichtig, weil der Anfechtende so zB wegen
142 II BGBden Dritte „bösgläubig machen“ und so deren gutgläubigen Erwerb verhindern kann.
ri
28.1.2022, 12:37:28
Dass der Vertrag durch die fehlende Einwilligung weiterhin (schwebend unwirksam) existiert, ergibt sich auch aus 108 I BGB ("(1) Schließt der Minderjährige einen Vertrag ohne die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters, so hängt die Wirksamkeit des Vertrags von der Genehmigung des Vertreters ab.").
Irina95
4.2.2022, 16:41:19
Find das auch ein wenig verwirrend. Kann man die Frage nicht vielleicht umformulieren? „K kann den bereits nichtigen Kaufvertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten (§123 Abs.1 BGB) ‘‘
Christian Leupold-Wendling
5.2.2022, 23:05:43
@[Lukas Mengestu](136780)
Lukas_Mengestu
7.2.2022, 10:14:12
@Irina95: wir haben die Frage zur Klarstellung gerne noch etwas angepasst :-) @all: Die "Kipp'sche Lehre" von der
Doppelwirkung im Rechtist begrifflich in der Tat auf den ersten Blick etwas widersprüchlich und wurde deshalb in der Anfangszeit (Anfang des 20. Jahrhunderts) verhement abgelehnt. Es galt damals ein eher naturalistisches Rechtsverständnis. Es sei völlig unlogisch, ein nicht oder nicht mehr existentes Rechtsgeschäft anzufechten. Erst nach und nach hat ein Wandel stattgefunden, bis die Lehre auch von der der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt wurde (vgl. BGH JZ 1955, 500). Die wertende Betrachtungsweise hat insofern den Vorrang erlangt. Einen guten Überblick über die Entwicklung findet ihr auch bei Würdinger, Doppelwirkungen im Zivilrecht - Eine 100-jährige juristische Entdeckung, JuS 2011, 769 Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
QuiGonTim
14.3.2022, 21:23:29
Mir kommen hier zwei Fragen/Anmerkungen in den Sinn: 1. In der Lösung wird von der Anfechtung des Kaufvertrages gesprochen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist jedoch nur die Willenserklärung anfechtbar. Ist es reine Wortklauberei oder ist es tatsächlich falsch von der Anfechtung des Vertrages zu sprechen? 2. Würde es sich in einem solchen um eine Irrtumsanfechtung handeln, könnte dann ein Schadenersatzanspruch aus
122 BGBentstehen? Dies würde dann doch der Schutzfunktion des Minderjährigenrechts widersprechen.
Lukas_Mengestu
16.3.2022, 11:42:26
Hallo QuiGonTim, vielen Dank für diese sehr guten Fragen! Zu 1): Da aus der Anfechtung der Willenserklärung unmittelbar die Unwirksamkeit des dadurch begründeten Rechtsgeschäftes folgt, ist es durchaus üblich und zulässig insoweit von der Anfechtung des Vertrages zu sprechen (vgl. BGH, Urt. v. 06.03.2020 - V ZR 2/19, RdNr. 10 = http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&az=V%20ZR%202/19&nr=107761). Zu 2): Im Falle der
Doppelnichtigkeitist zwar die Anfechtung des Vertrages zulässig, sodass §
122 BGBdem Wortlaut nach eingreift. Die Norm wird aus Wertungsgründen indes nicht angewandt (=teleologische Reduktion). Da der Anfechtungsgegner unabhängig von den §§ 118, 119, 120 BGB nicht auf die Gültigkeit des Rechtsgeschäftes vertrauen durfte (Baetge, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9.A. 14.02.2022, § 122 RdNr. 7). Etwas anders liegt es in unserem Fall hier. Aufgrund der systematischen Stellung und des Wortlautes findet §
122 BGBohnehin bei der Anfechtung wegen Arglist keine Anwendung. In Betracht kommen also nur Schadensersatzansprüche aus c.ic. (§§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) oder unerlaubter Handlung (§ 823 Abs. 2 iVm § 263 StGB). Bei Minderjährigen scheidet eine c.i.c.-Haftung nach dem Rechtsgedanken der §§ 104 ff. BGB aber aus. Denn sonst würde der Schutzzweck der Vorschriften durch die quasivertragliche Haftung unterlaufen. Im Hinblick auf die deliktische Haftung ist auf die Einsichtfähigkeit des Minderjährigen (§ 828 BGB) bzw. die Strafmündigkeit (§ 823 Abs. 2 BGB, § 19 StGB) abzustellen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Blackpanther
13.4.2022, 15:15:00
Ich verstehe noch nicht so ganz, warum die Anfechtung bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung weiterreichende Folgen hat als die bloße Nichtigkeit (§
818 III)🙈 Worin liegt da genau der Unterschied?
Lukas_Mengestu
22.4.2022, 14:44:32
Hallo Blackpanther, der HInweis bezog sich darauf, dass die Berufung auf die Bereicherung entfällt, wenn der Bereicherungsschuldner bösgläubig ist. Dies ist erst bereits, wenn er Kenntnis von der Anfechtbarkeit des Geschäfts hat (§ 142 Abs. 2 BGB). Relevanter ist in diesem Zusammenhang die Konstellation, dass der gutgläubige Erwerb eines Dritten an einer Sache ausgeschlossen wird, wenn dieser lediglich Kenntnis davon hat, dass die
Übereignungangefochten werden kann, er aber nicht weiß, dass sie auch nichtig ist. Könnte das Geschäft in diesem Fall nicht angefochten werden, so wäre ein gutgläubiger Erwerb möglich. Wir haben den Hinweistext insoweit angepasst. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
NickFischer
6.4.2023, 18:10:04
Wird bei einer Anfechtung das Rechtsgeschäft oder die eigene Willenserklärung angefochten? §§ 119 und 142 sind widersprüchlich.
se.si.sc
8.4.2023, 09:40:30
Präzise muss man zB sagen "die auf den Abschluss des (Rechtsgeschäft) bezogene/gerichtete Willenserklärung der/s (Person)", wie es auch in §§ 119 ff BGB steht, dort ist ja nur die "Erklärung" erfasst. Das ergibt auch inhaltlich Sinn, weil zB bei einem (einseitigen) Irrtum im zweiseitigen Rechtsgeschäft ja nur die Erklärung des einen anfechtbar ist und man nicht gleichzeitig die Erklärung des anderen Teils anfechten kann. Dass das dann iE zur Anfechtbarkeit auch des Rechtsgeschäfts als Ganzem führt, ist zwar zutreffend, steht aber auf einem anderen Blatt. Im "umgangssprachlichen Austausch" zwischen Juristen wird auch oft von der Anfechtbarkeit des Rechtsgeschäfts gesprochen, für Klausuren/Prüfungsleistungen würde ich aber nur auf die Anfechtbarkeit der Erklärung abstellen, damit ist man immer auf der sicheren Seite.
QuiGonTim
29.1.2024, 07:17:30
Inwiefern ist durch die Anfechtung der gutgläubige Erwerb ausgeschlossen? Ist in der
Übereignungohne Rechtsgrund ein Abhandenkommen im Sinne des § 935 Abs. 1 S. 1 BGB zu sehen?
luc1502
14.3.2024, 12:44:37
Hi, diese Konstellation spielt insb. auf den §142 II und 932 II BGB an und wird v.a. dann relevant, wenn ein Dritter versucht, vom Nichtberechtigten zu erwerben. Da der Mj. schon gar nicht wirksam ohne Einwilligung der Eltern die dingliche Einigungserklärung abgeben kann, würde in einer Dreieckskonstellation der „Vertragspartner“ des Mj. nicht wirksam Eigentum erwerben. Will nun den VP an D übereignen, kommt nur ein gutgläubiger Erwerb in Betracht. Folglich kommt es darauf an, ob der D davon ausgehen durfte, dass der VP wirksam Eigentümer geworden ist. Wenn der D nun bspw. weiß, dass der VP den Mj. arglistig getäuscht hat, dann kennt D die Anfechtbarkeit des RG (in einem solchen Fall der arglistigen Töuschung sind rglm. beide RG anfechtbar). Wenn nun der Mj. das RG anficht, dann greift die RF des §142 II und dies schaltet dann einen gutgläubigen Erwerb des D aus. Dass man trotz Unwirksamkeit des RG noch anfechten kann, ist Folge der Kippschen
Doppelwirkung im Recht. Das Abhanden kommen wird definiert als „unfreiwilliger Verlust des unmittelbaren Besitzes“ und da das ein
Realaktist, können die §§104ff. hier nicht angewendet werden. Vielmehr kommt es auf die natürliche Einsichtsfähigkeit des 16 Jährigen an (und bei diesem wird man wohl behaupten können, dass er weiß, dass er durch die Weggabe den Besitz verliert). Das ist aber einzelfallabhängig.