"Tel Quel" (Verkehrssitte)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Händler V macht Händler K ein Angebot über 10 Körbe Erdbeeren „tel quel“. K nimmt dieses Angebot an. „Tel quel“ bedeutet im Handelsverkehr, dass der Käufer die Ware so zu nehmen hat, wie sie ausfällt. K kennt diese Verkehrssitte nicht.
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Einordnung des Falls
"Tel Quel" (Verkehrssitte)
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 5 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. V hat K ein Angebot über den Kauf von 10 Körben Erdbeeren „tel quel“, d.h. zu keiner bestimmten Beschaffenheit, gemacht (§ 346 HGB).
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. K hat das Angebot über den Kauf von 10 Körben Erdbeeren „tel quel“ angenommen.
Genau, so ist das!
3. V kann den Kaufvertrag durch die Lieferung von 10 Körben Erdbeeren geringster Qualität erfüllen (§ 362 Abs. 1 BGB).
Ja, in der Tat!
4. K unterlag im Hinblick auf den Handelsbegriff "tel quel" einem Inhaltsirrtum (§ 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB).
Ja!
5. K kann seine Willenserklärung anfechten (§§ 119 Abs. 1 Alt. 1, 142 Abs. 1 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
KathiBinnig
18.4.2020, 23:06:10
Da K auch Händler ist, müsste er die Begriffe unter Händlern doch eigentlich kennen und kann das Angebot nicht anfechten (Frage 3). Oder?!
gelöscht
19.4.2020, 08:32:45
Hi - nur weil K auch Händler ist, muss er nicht zwangsweise jeden Handelsbrauch kennen. Er war nicht arglistig. Sein Anfechtungsrecht schädigt den anderen Händler auch nicht, da dieser den Ersatz des Vertrauensschaden verlangen kann. Hoffe, dass hilft dir.
Stefan Thomas Neuhöfer
19.4.2020, 21:45:04
Hi, vielen Dank für die Frage! Marcus erklärt das recht gut - auch ein Händler kann sich über eine genaue Bezeichnung irren. Das ist der "klassische" Fall eines Inhaltsirrtums nach § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB - ein Auseinanderfallen zwischen objektiv Erklärtem und subjektiv Gewolltem. Hier ist die Anwendung der Anfechtungsregeln möglich. So will es das Gesetz und eine Ausnahme, die § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB ausschließt, besteht nicht.
Stefan Thomas Neuhöfer
19.4.2020, 21:45:43
Auf eine mögliche Arglist (vgl. § 123 BGB, nicht einschlägig) kommt es deshalb garnicht an. Rechtsfolge der Anfechtung ist aber die Schadensersatzpflicht nach
§ 122 BGB. Viele Grüße Für das Jurafuchs-Team - Stefan
Harun
24.10.2021, 12:57:13
Hallo zusammen, auch kommt es doch bei def Anfechtung auf die Frage des Verschuldens nicht an? Die Anfechtung ist von dieser losgelöst? Der V hätte jedoch Anspruch auf Interessenausgleich und der K wäre folglich schadensersatzpflichtig.
Lukas_Mengestu
25.10.2021, 09:56:42
Hallo ihr Lieben, wir haben die Aufgabe jetzt noch einmal überarbeitet. Grundsätzlich ist das Anfechtungsrecht natürlich nicht verschuldensabhängig. Allenfalls kann das Verschulden im Hinblick auf die Schadensersatzpflicht von Bedeutung sein. Nichtsdestotrotz gelten im Handelsverkehr verschärfte Maßstäbe. Denn die "Schnelligkeit und Leichtigkeit" des Handelsverkehrs ist ein hohes und schützenswertes Gut. Anders als im Handel zwischen Privatleuten gilt hier ein erhöhter Verkehrsschutz, um eben schnelle Transaktionen zu ermöglichen. Das heißt zwar nicht, dass das Anfechtungsrecht komplett ausgeschlossen ist. Jedenfalls im Hinblick aber auf Klauseln, die im Handelsverkehr gebräuchlich sind, ist überwiegend anerkannt, dass der Kaufmann, der die Klausel nicht kennt, sich nicht auf einen Inhaltsirrtum berufen kann und insofern der Schutz des Handelsverkehrs vorgeht. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Dave K. 🦊
25.10.2021, 08:46:22
„Eine Irrtumsanfechtung wegen Unkenntnis ist nicht möglich, Hopt in: Baumbach/Hopt, 39. Auflage 2020, § 34
6 HGBRn. 9.“ So wurde es uns auch in der Vorlesung beigebracht 🤔. „Arg.: es würde dem Wesen des Handelsbrauches widersprechen, wenn nun eine Anfechtung möglich sei“ —— Mir ist bewusst, dass einziges umstritten ist. Und deshalb das Format -Ja/Nein- seine Schwächen besitzt. Nichtsdestotrotz ist es oft ärgerlich, wenn es dann als „falsch“ bezeichnet wird, obwohl es sehr gut vertretbar ist 😕. Man verliert seine Strähne und den heiß ersehnten goldenen 🏆😜. Ich bin trotzdem sehr dankbar für die App und die Arbeit die das Jurafuchs-Team leistet. Es hat für mich die XX-Fälle von H. ganz klar abgelöst und bereichert jede Fahrt mit den Öffentlichen.
Lukas_Mengestu
25.10.2021, 09:51:34
Hallo Dave, erst einmal freut es uns riesig, dass Dir Jurafuchs so gut gefällt und wir Dich auf deinen täglichen Fahrten in den Öffis begleiten dürfen 😊. Ich habe mir die Aufgabe noch einmal angeschaut und stimme Dir zu, dass an dieser Stelle die Ansichten überwiegen, die eine Irrtumsanfechtung aus Verkehrsschutzgründen nicht zulassen. Wir haben die Aufgabe insoweit noch einmal überarbeitet, um nicht noch weitere Strähnen zu gefährden :D. Danke Dir und sorry für den verlorenen Pokal! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
juramen
26.12.2021, 22:55:37
Handelt es sich dann um eine teleologische Reduktion des 119 I BGB?
Lukas_Mengestu
28.12.2021, 18:16:41
Hallo juramen, in der Tat wird dem Kaufmann die Berufung auf § 119 Abs. 1 BGB bei Handelsbräuchen verwehrt, mit denen der Kaufmann vertraut sein musste. Insofern wird der Anwendungsbereich des § 119 Abs. 1 BGB in diesen Fällen teleologisch reduziert. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Daniel
30.9.2022, 12:16:14
Für die
Beschaffenheitsvereinbarung„mittlerer Art und Güte“ zitiert Ihr § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB. Diesen gibt es nicht. Müsste es nicht der § 243 Abs. 1 BGB sein?
Lukas_Mengestu
3.1.2023, 14:20:05
Hallo Daniel, vielen Dank für den Hinweis. Da es sich hier um einen alten Fall handlet, bezog sich § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB noch auf die alte Rechtslage vor 1.1.2022. Nun lautet der Verweis § 434 Abs. 3 S. 1 Nr.2 BGB. Wir haben das korrigiert :-) Du hast aber natürlich recht, dass sich diese Verpflichtung bei
Gattungsschulden allgemein auch aus § 243 Abs. 1 BGB ergibt. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Edward Hopper
14.11.2022, 22:43:55
Hier liegt kein Irrtum vor. Weil er hat es ja gesagt und ihm war egal was das bedeutet, insoweit ist es schon gar kein Irrtum? Wenn man ne WE annimmt mit den Gedanken "what ever ist egal" braucht es keinen handelskauf. Hier wäre eine Anfechtung schon per se ausgeschlossen
Edward Hopper
14.11.2022, 22:44:55
Den Irrtum ist per Definition das abweichen des gesagten vom gewollten (und
eigenschaftsirrtum). Liegt beides nicht vor
Nora Mommsen
15.11.2022, 10:54:07
Hallo Edward Hopper, danke für deine Rückmeldung. Vorliegend ist es so, dass K nicht wusste welche Bedeutung 'tel quel hat. Erwollte aber nicht einfach "irgendwelche" Erdbeeren, egal welche Qualität. Das gesagte weicht somit von dem gewollten ab. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
silasowicz
4.8.2023, 12:14:31
Normativ würde man das aber weiterhin auf § 34
6 HGBstützen, oder? Also "prüfen" ließe sich das beispielsweise so, dass K grundsätzlich seine Erklärung wegen eines Inhaltsirrtums gem. § 119 I F. 1 GBG aufgrund der Abweichung des Erklärten vom Gewollten anfechten könnte, etwas anderes aber gelten könnte, wenn er Kaufmann ist und nach unproblematischer Bejahung dann auf § 34
6 HGBabstellen...
David.
4.8.2023, 12:52:48
Genau, weil eine Irrtumsanfechtung wegen fehlender Kenntnis eines bestehenden Handelsbrauchs eben ausgeschlossen ist.
Friedrich-Schiller-Universität Jena
12.9.2023, 22:22:01
Hier liegt doch dann aber auch kein Inhaltskrrtum nach § 119 I 1 Alt. 1 BGB vor, wenn man nicht anfechten kann. Der Käufer irrt ja auch nicht über die Sache, wenn er gar keine Vorstellung unter der Begrifflichkeit hat! Nur wenn er eine Vorstellung hat (Bsp. tel quel = mittlere Art und Güte) kann ein Inhaltsirrtum bejaht liegen. Oder wo habe ich einen Denkfehler?
Marc-Randolph
27.9.2023, 09:32:03
Das keine Anfechtung möglich ist bedeutet nicht, dass kein Inhaltsirrtum vorliegt. Der Irrtum ist darin begründet, dass der Käufer nicht die tatsächliche Bedeutung von tel quel kennt. Dabei ist unerheblich, ob er eine andere oder gar keine Vorstellung der Bedeutung hat. Der Inhaltsirrtum nach § 119 Abs.1 Alt.1 BGB liegt tatbestandlich vor, nur die Rechtsfolge der Möglichkeit der Anfechtung wird durch die entsprechenden Normen des HGB ausgeschlossen.
ajboby90
15.12.2023, 12:03:26
Dass man bei tatbestandlichem Vorliegen eines Inhaltsirrtums mal einfach so das Anfechtungsrecht verw
ehren kann, ist mir aber neu.
mwally
25.12.2023, 17:31:13
@[ajboby90](222400) Dazu findest du in der angegebenen Literatur Informationen. Dass eine Irrtumsanfechtung wegen Unkenntnis eines Handelsbrauchs nicht möglich ist, ist strittig, aber vertretbar.
Sebastian Schmitt
15.9.2024, 17:27:41
Hallo @[Friedrich-Schiller-Universität Jena](134036), vielen Dank für die Nachfrage und vielen Dank an die anderen für die gute Diskussion. Zum ersten Teil Deiner Frage haben @[Marc-Randolph](137667) und @[mwally](225215) bereits sehr gute Hinweise gegeben, denen ich kaum etwas hinzufügen kann. Nur noch einmal in aller Kürze: Nur weil wir das Anfechtungsrecht hier letztlich aufgrund handelsrechtlicher Wertungen als ausnahmsweise ausgeschlossen ansehen, heißt das nicht, dass auf Tatbestandsebene kein Irrtum vorliegt (so jedenfall die wohl ganz hM). Zum zweiten Teil: Darüber kann man schon eher diskutieren. Wer sich überhaupt keine Vorstellung von der Bedeutung eines Vertrags oder einer bestimmten Passage macht, unterliegt keiner Fehlvorstellung und irrt demzufolge nicht (vgl MüKoBGB/Armbrüster, 9. Aufl 2021, § 119 Rn 54 ff). Wir haben den Fall sprachlich in dieser Richtung bewusst etwas offen gelassen. Zusammen mit dem Bild zur Erklärung ist er aber dahingehend auszulegen, dass K jedenfalls mit durchschnittlicher Qualität rechnet und in dieser Hinsicht einer Fehlvorstellung unterliegt. Wir verw
ehren das Anfechtungsrecht hier auch nicht "mal eben so", @[ajboby90](222400). Der Ausschluss des Anfechtungsrechts in Bezug auf Handelsbräuche dürfte nicht nur der deutlich hM entsprechen (s nur die umfangreichen Nachweise bei Ebenroth/Boujong/, 5. Aufl 2024, § 346 Rn 172, Fn 533), sondern sich auch inhaltlich gut begründen lassen: Das Handelsrecht will zunächst Abläufe erleichtern (deswegen gibt es ja die Handelsbräuche) und klare Verhältnisse schaffen, die nicht nachträglich leicht wieder aufgehoben werden können. Weil Verbraucher nicht beteiligt sind und man an Kaufleute höhere Anforderungen stellen darf, besteht hier mE kein Grund, ggü K nachsichtig zu sein. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Shark
24.9.2024, 19:42:01
@[Sebastian Schmitt](263562) Gilt das im Erst-Recht-Schluss auch für "Nicht-Handelsbräuche" und auch für die anderen Irrtumsanfechtungen (Erklärungsirrtum, Irrtum über
verkehrswesentliche Eigenschaftenund § 120) ?
Marc-Randolph
25.9.2024, 07:43:51
@[Shark](264930) Könntest du etwas genauer erläutern, was du dir für eine Konstellation hinter deiner Frage vorstellst?
Shark
30.9.2024, 17:08:20
Situationen in denen der Kaufmann ganz normal irrt, der Irrtum also nicht daraus resultiert, dass er einen Handelsbrauch nicht kennt. Im Sinne von, wenn er schon Handelsbräuche kennen muss, dann dürfen ihm erst recht keine Fehler passieren, die schon für „Laien“ vermeidbar gewesen wären. Also zB Kaufmann K vertippt sich beim Ausfüllen des Bestellformulars und bestellt ausersehen die doppelte Menge.
Marc-Randolph
30.9.2024, 17:18:39
Nein, ich denke nicht, dass man das so pauschal übertragen kann. Das würde die Schutzrichtung verfehlen. Das Angechtungsrecht hier (beim Fall, der der Frage zugrunde liegt) auszuschließen liegt vom Gedanken her darin begründet, dass sich der Käufer (Achtung: unjuristisch formuliert um den Gedanken besser verständlich zu machen) freiwillig in das Gebiet des Handelskaufs begibt um von dessen Vorteilen zu profitieren. Dann wird auch vom ihm erwartet, dass er sich entsprechend auskennt, da ansonsten die Vorteile, wie die Erleichterung der Abläufe, unterlaufen würden. Bei Fällen, wie etwa versprechen oder vertippen, basiert der Irrtum nicht auf vermeidbarer Unkenntnis, sondern ist ein "honest mistake". Schlicht ein Fehler, ein Versehen. Das kann jedem passieren unabhängig von dessen "Handelsstatus", so dass es unbillig wäre, dem Irrenden in diesen Fällen das Anfechtungsrecht abzusprechen. Wie gesagt, bewusst unjuristisch formuliert, um die beschriebene Idee etwas besser vermitteln zu können.