Strafrecht
Examensrelevante Rechtsprechung SR
Entscheidungen von 2021
Erpresser müssen immer mit Selbstverteidigung rechnen
Erpresser müssen immer mit Selbstverteidigung rechnen
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
O fordert ununterbrochen nicht bestehende Schulden von T ein und wird dabei zunehmend gewalttätig. T plant O beim nächsten Übergabetreffen mit einer Waffe zu drohen, um O einzuschüchtern und dem Ganzen so ein Ende zu setzen. O bleibt davon unbeeindruckt, weil er die Waffe für unecht hält. Deshalb schießt T ihm in den Kopf.
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Einordnung des Falls
Der BGH hat eine Mordverurteilung im sogenannten „Porsche-Mord" Fall aufgehoben und in Totschlag geändert. Das Gericht entschied, dass ein Opfer von Erpressung, das aus Notwehr eine andere Person erschießt, nicht die Kriterien für die Mordmerkmale der Arg- und Heimtücke erfülle. Ferner sei ein Erpresser in dieser Situation nicht arglos, da er immer damit rechnen müsse, dass sein Opfer das Recht auf Selbstverteidigung ausübt. Das Merkmale der Heimtücke sei auch dann restriktiv auszulegen, wenn das Opfer die Grenzen der Notwehr überschreite.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Könnte T sich wegen Totschlags strafbar gemacht haben, indem er O in den Kopf schoss (§ 212 Abs. 1 StGB)?
Ja!
Jurastudium und Referendariat.
2. Ist die Tötung des O gerechtfertigt, wenn T in Notwehr gehandelt hat (§ 32 StGB)?
Genau, so ist das!
3. Lag ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des O auf T vor, als T dem O in den Kopf schoss?
Ja, in der Tat!
4. War der Kopfschuss erforderlich, um den Angriff des O abzuwenden?
Nein!
5. Ist Ts Handeln trotz Überschreitung der Notwehrgrenzen entschuldigt (§33 StGB)?
Nein, das ist nicht der Fall!
6. Liegen die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands vor (§ 35 StGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
7. Könnte T sich zudem wegen Mordes strafbar gemacht (§ 211 StGB)?
Ja!
8. Könnte T durch den Kopfschuss das Merkmal der Heimtücke verwirklicht haben (§ 211 Abs. 2 Gruppe 2 Var. 1 StGB)?
Genau, so ist das!
9. Könnte O zum Zeitpunkt der Schussabgabe arglos gewesen sein?
Ja, in der Tat!
10. Ist das Heimtückemerkmal in Anbetracht der Notwehrlage als erfüllt anzusehen?
Nein!
Jurastudium und Referendariat.
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Mangopüree
29.9.2022, 10:21:03
Habe ich das richtig verstanden, dass man hier nicht mit der Prüfung des schwersten Delikts beginnt, um eine Inzidentprüfung der Notwehr zu vermeiden?
Lukas_Mengestu
29.9.2022, 11:20:29
Hallo Mangopüree, der vorliegende Aufbau orientiert sich an der herrschenden Literatur, die den Totschlag als Grunddelikt und den Mord als Qualifikation einstuft. Dies hat in der Tat den Vorteil, dass man bei der Heimtückeprüfung eine Inzidentprüfung vermeidet und auf die vorangegangenen Ausführungen Bezug nehmen kann. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
24.10.2022, 00:07:46
Richtig, dies ist klausurtaktisch hier am sinnvollsten. Streng genommen müsstet ihr dann aber auch Mord als § 212 Abs. 1, § 211 Abs. 1 StGB und nicht "nur" § 211 StGB. Natürlich weiß aber jeder, dass es nur verkürzt gewesen ist. 😄
Mangopüree
29.9.2022, 10:24:16
Vielleicht könntet ihr bei der Vertiefung tatsächlich eine Erklärung anbieten und es nicht „offen lassen“, wie es der BGH getan hat 😅 So bringt mir die Vertiefung leider gar nichts
Lukas_Mengestu
29.9.2022, 11:27:52
Hallo Mangopüree, die Frage der Arglosigkeit ist letztlich immer eine Frage des konkreten Sachverhaltes. Wie dargestellt, sprechen hier einige Gründe dafür, die Arglosigkeit grundsätzlich anzunehmen. Aufgrund der hier vorgenommenen wertenden Korrektur kommt es darauf aber im Ergebnis nicht an. Denn jedenfalls im Hinblick auf die bestehende Notwehrlage nimmt der BGH eine normative Korrektur vor und lehnt das Merkmal der Arglosigkeit und damit auch die Heimtücke ab. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Philipp Paasch
24.10.2022, 00:04:40
Ich meine, der Erpesser war im konkreten Fall arglos, sonst hätte er sich anders verhalten.
Kätter
19.11.2022, 16:50:22
Ja, ich würde auch sagen, dass er arglos war, aber darauf kommt es nicht an, da der Täter hier jedenfalls nicht tückisch gehandelt hat.
jenny24
18.2.2023, 15:44:23
Mir hat für das Verständnis dieser Konstellation der kurze Satz geholfen:der Erpresser DARF NICHT arglos sein. Darin besteht für NORMATIVE Korrektur
jenny24
18.2.2023, 15:45:43
Dies gilt aber nur, wenn durch die Erpressung eine Notwehrlage begründet ist!
Marceli
10.10.2022, 12:39:36
Würde man in der Examensklausur erst den Streit um die restriktive Anwendung der Heimtücke bringen (Tatbestandslösung:
verwerflicher Vertrauensbruch, Rechtsfolgenlösung) und dann die normative Einschränkung diskutieren? Oder den Streit weglassen und direkt auf die Einschränkung springen? Wie würdet ihr das machen? :)
Tigerwitsch
10.10.2022, 15:25:44
Ich würde schauen, was du in deiner Klausur sonst noch für Tatkomplexe prüfen musst. Da würde ich taktisch vorgehen: Hast du Zeit, dann kannst du m.E. kurz auf die restriktive Anwendung eingehen. Ansonsten gleich sofort auf das Problem sich stürzen, das liegt hier in der normativen Einschränkung. Wie du siehst, wurde in der Lösung des Falls auch zuvor der Totschlag und mögliche Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe geprüft. Das diente dazu, Inzidentsprüfungen zu vermeiden, die du ansonsten in der folgenden Mord-Prüfung durchführen müsstest.
n00b
26.1.2023, 11:03:40
Schließt obrigkeitliche Hilfe das Nowehrrecht auch dann aus, wenn diese zum Zeitpunkt der Notwehrlage gar nicht verfügbar ist, sondern erst herbeigerufen werden müsste? Bin etwas verwirrt.
Nora Mommsen
26.1.2023, 12:39:32
Hallo n00b, die Polizei muss nicht dabei sein damit obrigkeitliche Hilfe erreichbar ist. Solange die gerufene Polizei rechtzeitig da wäre, und das Problem lösen könnte reicht dies aus. In der Regel vergehen zwischen Notruf und Eintreffen der Polizeibeamten nur wenige Minuten, sodass der Ausschluss obrigkeitlicher Hilfe nur bei akuten Gefahrenlagen angenommen werden kann. Viele Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
n00b
26.1.2023, 12:41:15
Danke
Juraluchs
9.7.2023, 21:54:16
Die Notwehr scheitert aber mE hier nicht auf Ebene der Erforderlichkeit, sondern der Gebotenheit. Obrigkeitliche Hilfe ist nicht geeignet, den Angriff hic et nunc abzuwenden. Lieben Gruß
Lukas_Mengestu
11.7.2023, 14:50:54
Hallo Juraluchs, in der Tat ist das Opfer eines Angriffes primär dann gehalten, die Hilfe des Staates in Anspruch zu nehmen, wenn diese auch bereit steht. Eine vorübergehende Duldungspflicht des Angriffes besteht nicht. Die Besonderheit des Falles liegt aber darin, dass es sich hier um einen fortdauernden Angriff handelt, der über einen längeren Zeitraum auf Ts freie Willensentschließung und sein Vermögen zielt. Aufgrund dieser zeitlichen Dimension hat der BGH es hier bereits an der Erforderlichkeit der
Notwehrhandlungscheitern lassen. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
QuiGonTim
4.9.2023, 12:24:04
Verstehe ich es richtig, dass der BGH hier einen Dauerangriff analog zur Dauergefahr angenommen hat? Wird damit die Reichweite des besonders scharfen Schwertes der Notwehr nicht überdehnt?
Leo Lee
9.9.2023, 10:19:17
Hallo QuiGonTim, so ist es! Der BGH hat in der Tat einen „Dauerangriff“ angenommen in Rn. 7 der Entscheidung (https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=0519b97704123cb30f44a2c3d20c04e6&Seite=10&nr=125696&pos=304&anz=69321). Eine Überdehnung kann man zwar bejahen; dies ist jedoch insoweit zweifelhaft, als die Erpressung durch den Täter selbst einen „Dauerzustand“ schafft, weshalb der Täter sich selbst ins Bein schießt hiermit, wenn er dieses Dauerunrecht ggü. Dem Opfer aufrechterhalten will. Merke: Bei Notwehr muss das Recht dem Unrecht (auch über eine längere Dauer) nicht weichen! Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
evanici
20.9.2023, 00:26:50
Die Merkhilfe ist etwas "nichtig"