Öffentliches Recht

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Entscheidungen von 2022

Isolierte Anfechtung von Nebenbestimmungen (BVerwG, Beschl. v. 29.03.2022 – 4 C 4.20)

Isolierte Anfechtung von Nebenbestimmungen (BVerwG, Beschl. v. 29.03.2022 – 4 C 4.20)

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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

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A beantragt eine Baugenehmigung für eine mobile Gastankstelle. Behörde B erteilt die Genehmigung mit einer Befristung von zwei Jahren. Als A gerichtlich gegen die Befristung vorgeht, stellt sich heraus, dass die Genehmigung auch mit Befristung rechtswidrig ist.

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Einordnung des Falls

Isolierte Anfechtung von Nebenbestimmungen (BVerwG, Beschl. v. 29.03.2022 – 4 C 4.20)

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 8 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Nebenbestimmungen zu einem Hauptverwaltungsakt sind nach herrschender Lehre und BVerwG grundsätzlich isoliert anfechtbar.

Ja, in der Tat!

Bei der isolierten Anfechtbarkeit geht es um die Frage, ob eine Nebenbestimmung unabhängig vom Hauptverwaltungsakt angefochten werden kann. Nach Auffassung des BVerwG und h.L. sollen Nebenbestimmungen grundsätzlich isoliert anfechtbar sein. Für diese Ansicht spricht neben dem effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) vor allem der Wortlaut von § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO („soweit“). Die isolierte Anfechtbarkeit ist ein absoluter Klassiker des Verwaltungsrechts und ein „Dauerbrenner“ in verwaltungsgerichtlichen Klausuren im 1. und 2. Staatsexamen!
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2. Ist die isolierte Anfechtbarkeit einer Nebenbestimmung nach der Rechtsprechung des BVerwG immer möglich?

Nein!

Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist die isolierte Anfechtung von Nebenbestimmungen nur dann begründet, wenn Hauptverwaltungsakt und Nebenbestimmung materiell teilbar sind (materielle Teilbarkeit). Dies setzt voraus, dass der (nicht angefochtene) Hauptverwaltungsakt ohne die Nebenbestimmung sinnvoller- und rechtmäßigerweise bestehen bleiben kann.Achtung: Bevor Du zur – hier maßgeblichen – Frage kommst, ob Du die Nebenbestimmung isoliert anfechten kannst, musst Du in Prüfungsarbeiten oft zunächst die Frage beantworten, ob es sich überhaupt um eine Nebenbestimmung handelt. Dafür musst Du die Nebenbestimmung von der sog. Inhaltsbestimmung abgrenzen. Wie die Abgrenzung erfolgt, erfährst Du in unserem Kurs zum Verwaltungsrecht AT.

3. Es bestand zwischen zwei Senaten des BVerwG Uneinigkeit darüber, ob die isolierte Anfechtbarkeit der Nebenbestimmung auch dann ausgeschlossen sein soll, wenn der verbleibende Hauptverwaltungsakt aus anderen Gründen rechtswidrig ist.

Genau, so ist das!

Die materielle Teilbarkeit von Hauptverwaltungsakt und Nebenbestimmung setzt nach st. Rspr. des BVerwG voraus, dass der Hauptverwaltungsakt ohne die Nebenbestimmung rechtmäßig bestehen bleibt. Es kommt also gerade auf die Frage an: Führt der Wegfall der Nebenbestimmung zur Rechtswidrigkeit des Hauptverwaltungsakts? Ob der Hauptverwaltungsakt für sich genommen rechtswidrig ist, ist nicht von Bedeutung. Anders entschied der 8. Senat des BVerwG im Jahre 2019: Die isolierte Anfechtung einer Nebenbestimmung solle auch dann unbegründet sein, wenn die Rechtswidrigkeit des Hauptverwaltungsakts nicht erst durch den Wegfall der Nebenbestimmung ausgelöst wird, sondern der Hauptverwaltungsakt aus anderen Gründen rechtswidrig ist. Denn auch in diesen Fällen habe der Adressat kein Recht auf die isolierte Anfechtung, „die mit der Konsequenz verbunden wäre, dass der materiell rechtswidrige und dem Adressaten zustehende Verwaltungsakt weiterhin Geltung“ beanspruche.

4. Der 4. Senat des BVerwG hat weiterhin den Standpunkt vertreten, dass es für die isolierte Anfechtbarkeit von Nebenbestimmungen nicht darauf ankommt, ob der Hauptverwaltungsakt selbst rechtswidrig ist.

Ja, in der Tat!

Der 8. Senat des BVerwG ließ mit Urteil vom 06.11.2019 (BVerwG 8 C 14.18) - entgegen der bisherigen Rechtsprechung des 4. Senats - eine isolierte Anfechtung einer Nebenbestimmung daran scheitern, dass der zurück bleibende Hauptverwaltungsakt für sich genommen aus anderen Gründen als dem Wegfall der Nebenbestimmung rechtswidrig war. Dem setzte sich der 4. Senat des BVerwG entgegen: Durch den wirksam erlassenen Hauptverwaltungsakt würde immer eine schutzwürdige Rechtsposition vermittelt. Eine rechtswidrige Nebenbestimmung beeinträchtige dieses subjektive Recht, unabhängig davon, ob der Hauptverwaltungsakt im Übrigen rechtmäßig oder rechtswidrig sei. Zudem werde der Hauptverwaltungsakt bei isolierter Anfechtung der Nebenbestimmung bestandskräftig und sei somit der inzidenten gerichtlichen Kontrolle entzogen. Im Anfechtungsprozess gegen die belastende Nebenbestimmung könne dem Kläger die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts daher nicht entgegengehalten werden. (Beschl. v. 29.03.2022, Az. BVerwG 4 C 4.20).

5. Besonders der effektive Rechtsschutz spricht dafür, zur ursprünglichen Rechtsprechung (vor der Entscheidung aus 2019) zurückzukehren.

Ja!

Wenn die isolierte Anfechtung einer Nebenbestimmung nur dann begründet und somit – prozessual – erfolgreich wäre, wenn der damit verbundene Hauptverwaltungsakt unter allen Gesichtspunkten rechtmäßig wäre, würden damit die Rechtsschutzmöglichkeiten des Adressaten eingeschränkt werden. Denn der Adressat könnte in diesem Fall entweder auf die Anfechtung der Nebenbestimmungen verzichten und einen rechtswidrigen Verwaltungsakt mit einer rechtswidrigen Nebenbestimmung in Bestandskraft erwachsen lassen. Oder er könnte den gesamten Verwaltungsakt samt Nebenbestimmungen anfechten. Der Adressat darf aber auf die Bestandskraft des erlassenen Hauptverwaltungsakt vertrauen. Es ist Aufgabe der Behörde, rechtswidrige Verwaltungsakte aufzuheben (§§ 48, 49 VwVfG). Nach dem 4. Senat des BVerwG sei es daher „weder geboten noch angemessen, dem Anfechtungsprozess gegen die Nebenbestimmung die Sanktionslast für sonstige Mängel des Verwaltungsakts aufzubürden, zumal der rechtswidrige Verwaltungsakt in diesem Prozess nicht beseitigt werden kann“ (RdNr. 15).

6. Für eine inzidente Rechtmäßigkeitsprüfung des Hauptverwaltungsakt spricht jedoch die präjudizielle Wirkung des Urteils.

Nein, das ist nicht der Fall!

Nach § 121 VwGO ist ein vorangegangenes Urteil für einen Folgeprozess dann bindend, wenn die rechtskräftige Zu- oder Aberkennung eines prozessualen Anspruchs für einen anderen prozessualen Anspruch vorgreiflich ist, der zwischen denselben Beteiligten streitig ist. Ob das der Fall ist, richtet sich nach dem Umfang der Rechtskraft der Entscheidung im Vorprozess. Diese umfasst den Streitgegenstand des Vorprozesses. Würde im Rahmen der isolierten Anfechtung einer Nebenbestimmung die inzidente Feststellung der Rechtswidrigkeit des Hauptverwaltungsakts in Rechtskraft erwachsen, liefe der Zweck der isolierten Anfechtung ins Leere. Denn die Rechtskraft würde eben nicht nur „isoliert” die Nebenbestimmungen, sondern – zumindest teilweise – auch den Hauptverwaltungsakt betreffen. Die juristische Argumentation in diesem Fall ist ausgesprochen anspruchsvoll. Du musst sie nicht bis ins letzte Detail darstellen können. Du solltest aber versuchen, sie nachzuvollziehen. In Deiner Klausur dürften die Argumente im Sachverhalt angesprochen werden – Du musst dann in der Lage sein, Dich dazu zu verhalten. Zentrales Argument: Es kann aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht darauf ankommen, ob der begünstigende Verwaltungsakt rechtmäßig ist, wenn der Kläger nur die belastende Nebenbestimmung anficht.

7. As Baugenehmigung ist unabhängig vom möglichen Wegfall der Befristung rechtswidrig. Ist die isolierte Anfechtung der Befristung bereits aus diesem Grund unbegründet?

Nein, das trifft nicht zu!

Die materielle Teilbarkeit setzt nach der Rechtsprechung des BVerwG voraus, dass der Hauptverwaltungsakt nicht dadurch rechtswidrig wird, dass die Nebenbestimmung entfällt. Ist der Hauptverwaltungsakt aus anderen Gründen rechtswidrig, kann jedoch materielle Teilbarkeit gegeben und die Anfechtung begründet sein. Danach scheitert As Anfechtungsklage gegen die Nebenbestimmung (Befristung) nicht bereits an der Rechtswidrigkeit des Hauptverwaltungsakts (Baugenehmigung). Denn der Grund für die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung liegt nicht im Wegfall der Nebenbestimmung. Diese Entscheidung ist keine echte Änderung der Rechtsprechung. Der 4. Senat hat den 8. Senat lediglich „aufgefordert“, seine „neue“ Ansicht wieder aufzugeben. Dies ist auch passiert: Auf Anfrage des 4. Senats hat sich der 8. Senat der Auffassung des 4. Senats angeschlossen (BVerwG, Beschl. v. 12.10.2022, Az. 8 AV 1.22).

8. Auf der Grundlage der Entscheidung des 8. Senats aus 2019 wäre As Anfechtung der Befristung unbegründet.

Ja, in der Tat!

Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG war es für die isolierte Anfechtbarkeit einer Nebenbestimmung immer unerheblich, ob der „übrig bleibende“ Hauptverwaltungsakt aus Gründen rechtswidrig ist, die nichts mit dem Wegfall der Nebenbestimmung zu tun haben. Davon ist der 8. Senat des BVerwG im Jahr 2019 abgewichen: Es sei nicht von Bedeutung, aus welchen Gründen der Kläger keinen Anspruch auf den begehrten Verwaltungsakt hat. Der an A adressierte Hauptverwaltungsakt ist – unabhängig von der Befristung – rechtswidrig. Nach der vom 8. Senat im Jahr 2019 vertretenen Ansicht wäre As Anfechtung der Befristung (= Nebenbestimmung) allein aus diesem Grund unbegründet.
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