Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Entscheidungen von 2020
Gutläubiger Erwerb eines Fahrzeugs, das im Rahmen einer Probefahrt entwendet wurde
Gutläubiger Erwerb eines Fahrzeugs, das im Rahmen einer Probefahrt entwendet wurde
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
D besucht das Autohaus A. Dort vereinbart er eine Probefahrt über eine Stunde mit einem Wohnmobil. Er bekommt den Schlüssel ausgehändigt und fährt davon. D verschwindet mit dem Wohnmobil. Danach verkauft und übereignet er dieses unter Vorlage von gefälschten, aber täuschend echt wirkenden KFZ-Zulassungsbescheinigungen (Teil I und II) am Hamburger Hauptbahnhof an das Ehepaar E, das D für den Eigentümer hält.
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Einordnung des Falls
Gutläubiger Erwerb eines Fahrzeugs, das im Rahmen einer Probefahrt entwendet wurde
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. E hat Eigentum an dem Auto nach § 929 S. 1 BGB erlangt.
Nein, das ist nicht der Fall!
Jurastudium und Referendariat.
2. E war hinsichtlich des Eigentums des D am Wohnmobil gutgläubig (§ 932 Abs. 2 BGB).
Ja!
3. Sofern kein Fall des Abhandenkommens (§ 935 BGB) vorliegt, könnte E hier gutgläubig Eigentum erwerben.
Genau, so ist das!
4. A hat den unmittelbaren Besitz am Wohnmobil verloren, als er D das Wohnmobil zur Probefahrt überließ.
Ja, in der Tat!
5. Ein unfreiwilliger Besitzverlust (§ 935 Abs. 1 BGB) kann auch durch das eigenmächtige Handeln eines Besitzdieners eintreten. D ist Besitzdiener des A.
Nein!
6. A ist das Wohnmobil zum Zeitpunkt der Überlassung zur Probefahrt an D abhanden gekommen (§ 935 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
7. A ist das Fahrzeug abhanden gekommen, als D nicht von der Probefahrt zurückkehrte.
Nein, das trifft nicht zu!
8. Nach Ansicht der Literatur ist § 855 BGB hier analog anzuwenden.
Ja!
9. Nach Ansicht des BGH kommt eine analoge Anwendung des § 855 BGB nur in Fällen in Betracht, in denen sich eine Person aus Gefälligkeit (nicht aufgrund eines Rechtsverhältnisses) den Weisungen des Besitzers unterwirft.
Genau, so ist das!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
Vincent
12.6.2021, 11:21:40
Kämen ansonsten keinerlei Ansprüche in Betracht? Ich denke nur klausurtaktisch.. eigentlich ja nicht, oder? Strafrechtlich käme mir nur Betrug in den Sinn
Lukas_Mengestu
12.6.2021, 17:06:59
Hallo Vincent, der Fall lässt sich natürlich noch unter vielen weiteren Facetten begutachten: Im Hinblick auf die Frage, ob A von E das Auto herausverlangen kann, kommt man letztlich tatsächlich zum Ergebnis, dass ein solcher
Herausgabeanspruchnicht in Betracht. Im Hinblick auf § 985 BGB fehlt es schon an der notwendigen Eigentümerstellung und § 812 I 1 S. 1 BGB scheidet aus, da E das Auto durch Leistung des D und nicht des A verlangen kann. A hat aber ggü. D natürlich eine Reihe von Schadensersatzansprüchen sowohl wegen der Verletzung einer vorvertraglichen Nebenpflicht (§ 280 I, 311 Abs. 2, 241 II BGB) als auch deliktisch (§ 823 I BGB bzw. §
823 II BGBiVm § 246 StGB). Zudem kann er über § 816 I BGB den erzielten Verkaufspreis herausverlangen. Im Hinblick auf die Frage, inwiefern D sich strafbar gemacht hat, dürfte ein vollendeter Betrug zulasten der E jedenfalls daran scheitern, dass E kein Vermögensschaden entstanden ist, denn im Saldo hat E zwar den Kaufpreis verloren, aber ja gutgläubig Eigentum erworben und damit ein Äquivalent erhalten (der vom RG vertretenen "Makeltheorie", wonach dem gutgläubigen Erwerb der Verdacht der Hehlereich anhafte ist der BGH schon früh entgegengetreten, vgl. Fischer, StGB, § 263 Rn. 151). Ein Betrug gegenüber E und zulasten des A dürfte beim Merkmal der Vermögensverfügung scheitern. In einer solchen Dreieckskonstellation werden unterschiedliche Anforderungen im Hinblick auf das Verhältnis getäuschter und Geschädigter verlangt (
Befugnistheorie, Lagertheorie...). Eine Zurechnung scheitert hier aber nach allen Theorien, da die bloße faktsiche Möglichkeit des Zugriffs nach allgemeiner Ansicht nicht genügt. Ein Diebstahl (§ 242 I StGB) scheidet aus, da kein
Gewahrsamsbruchvorlag, sodass hier primär eine Unerschlagung nach § 246 I StGB zu bejahen ist. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Beinhart
8.10.2021, 11:54:15
Ich hab noch grundlegende Probleme mit der Anwendung des EBV: warum prüft man hier nicht zunächst den Anspruch aus § 861?
Unberechtigter Untervermieter
26.6.2021, 11:18:10
A hat nur den unmittelbaren Besitz verloren als er das Wohnmobil zur Probefahrt überließ. Er war aber immer noch
mittelbarer Besitzer.
Ferdinand
26.6.2021, 17:34:21
Falls du darauf abstellst, dass A vorliegend den mittelbaren Besitz unfreiwillig verloren hat: das ist im Rahmen des § 935 I BGB unerheblich. Wie sich aus Satz 2 eindeutige ergibt, gilt eine Sache nur als abhanden gekommen, wenn der unmittelbare Besitz gegen den Willen des Besitzers aufgehoben worden ist. Daher ist im vorliegenden Fall die relevante Frage, ob A bei Gebrauchsüberlassung an D den bis dahin jedenfalls bestehenden unmittelbaren Besitz unfreiwillig verloren hat.
Unberechtigter Untervermieter
26.6.2021, 17:36:59
Ja, das ist mir auch klar. Die Frage differenziert aber nicht und ist somit mE falsch.
Lukas_Mengestu
28.6.2021, 13:26:33
Vielen Dank euch beiden, wir haben die Frage nun entsprechend präzisiert und fragen nun explizit nach dem "unmittelbaren" Besitz. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Beinhart
14.10.2021, 18:34:44
Warum kommen hier nicht Anspruch aus EBV in Betracht? Also warum prüft man nicht § 861 I zuerst?
Lukas_Mengestu
15.10.2021, 10:40:24
Hallo Beinhart, entschuldige bitte, wenn ich Dich falsch verstehe, aber kann es sein, dass Du Dir überlegst, welche Ansprüche A gegen D hat? Da kommen sicherlich einige in Betracht, zB ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280 I, 311 Abs. 2, 241 II BGB wegen vorvertraglicher Pflichtverletzung (Schädigung des Eigentums des A durch Verkauf des Wohnmobils). Im Fall geht es jedoch in erster Linie um die Frage, ob ein gutgläubiger Eigentumserwerb der E in Betracht kommt. Dies wäre ausgeschlossen, wenn das Fahrzeug abhandengekommen wäre (§ 935 BGB), was sodann geprüft wird. Auf §
861 BGBkommt es insoweit nicht an. Ist es jetzt etwas verständlicher geworden? Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Beinhart
15.10.2021, 14:35:34
Okay alles klar :) danke
evamarie
18.2.2022, 23:40:45
Habe von einer Freundin erzählt bekommen, dass der Fall heute in Rheinland-Pfalz im ersten Examen lief :)
Lukas_Mengestu
21.2.2022, 16:51:48
Klasse, vielen Dank für den Hinweis :-)
urheberrechtler
28.4.2022, 13:57:31
Kam heute in Berlin/Brandenburg Z2 und wahrscheinlich auch in NRW
evamarie
28.4.2022, 14:32:11
In MV lief der Fall u.a. mit den Zusatzfragen nach der Herausgabe eines zweitschlüssels und der original zulassungspapiere
Wendelin Neubert
28.4.2022, 15:23:35
Danke euch! Echt toll, dass ihr uns immer sofort auf dem laufenden haltet! Wir hoffen, dass ihr gut durchgekommen seid! Herzliche Grüße und alles Gute - Wendelin für das Jurafuchs-Team
Vincent
29.7.2022, 11:38:39
Lief auch in Brandenburg
Lukas_Mengestu
1.8.2022, 14:58:53
Super, vielen Dank für den Hinweis! Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
Edward Hopper
15.12.2023, 13:05:21
Analogie zu § 855 bei Probefahrt??? OVG Köln wieder Peak juristische Akrobatik.
azzardo
23.2.2024, 16:45:33
War heute Teil der ZR II Klausur in Hessen
Why
24.2.2024, 15:21:25
azzardo
24.2.2024, 15:22:05
Ja genau!
Natze
25.2.2024, 15:16:13
Habt ihr zufällig Bock das näher zu erläutern? Einfach nur was für eine Abwandlung es mit dem
Testamentauf sich hat. Hoffe, dass sowas in BaWü am Donnerstag dran kommt :) Viel Erfolg euch noch weiterhin :) 🫶🏼
azzardo
26.2.2024, 22:51:18
Versuche es mal grob aus meiner Erinnerung darzustellen. Der Erwerber (A) des Wohnmobils hatte mit seinem Ehepartner ein gemeinschaftliches
Testamentaufgesetzt, in welchem sie sich gegenseitig als Vor- und ihre Kinder als Nacherben eingesetzt haben. A ist kurz nach dem Erwerb des Wohnmobils gestorben. Der Ehepartner (nennen wir ihn mal K) des Erwerbers ist daraufhin eine neue Beziehung eingegangen und hat in dieser ein neues
Testamenterrichtet und den neuen Partner (G) als Alleinerben eingesetzt. K verstarb dann auch, woraufhin sowohl G als auch das Autohaus von den gemeinsamen Kindern von A und K das Wohnmobil herausforderten. Dir auch viel Erfolg! 😊
Natze
26.2.2024, 23:04:12
Ich schätze es sehr, dass du dir die Zeit genommen hast es auszuschreiben! Ich schließe dich in meine abendliche Gebete an den Jura-gott ein, dass ganz viele Punkte für dich regnen werden in der Korrektur 😁 vielen Dank :)
Lukas_Mengestu
27.2.2024, 12:59:04
@azzardo: Lieben Dank für die Meldung und auch die weiteren Erläuterungen!
Foxxy
2.8.2024, 16:48:07
Hallo azzardo, vielen Dank für Deinen Hinweis! Es ist großartig zu hören, dass einer unserer Fälle tatsächlich im Examen dran kam. Wir haben diese Information notiert und werden sie in unserer App entsprechend kennzeichnen, um die Examensrelevanz für die Community sichtbar zu machen. Deine Rückmeldung hilft uns, die Vorbereitung für alle Nutzer zielgerichteter zu gestalten und die Qualität unserer Inhalte stetig zu verbessern. Wir werden diesen Thread als erledigt markieren, sobald die Kennzeichnung in der App sichtbar ist. Beste Grüße, Foxxy, für das Jurafuchs-Team
Why
24.2.2024, 15:20:40
Das Problem war gestern (23.02.2024) Teil der Examensklausur ZR II in NRW.
Lukas_Mengestu
27.2.2024, 13:06:00
Klasse, vielen Dank für die Meldung!
Natze
25.2.2024, 15:20:52
wie würde es sich auf die grobe fahrlässigkeit auswirken, wenn sich der Käufer die Papiere nicht zeigen lässt, diese jedoch hochwertige Fälschungen waren und der Käufer die unechtheit gar nicht erkennen hätte können. (unabhängig davon wie man das beweisbar ist) 😅
Leo Lee
26.2.2024, 20:56:47
Hallo Natze, vielen Dank für die sehr gute Frage! Hierzu habe ich leider keine Entscheidungen oder Literaturstellen gefunden, da sich diese wenn schon singulär mit der Frage der 1. Nichtvorlage oder 2. Vorlage eines gefälschten KfZ-Briefs beschäftigen. Allerdings lässt sich ein Muster erkennen: Die erste Stufe ist immer, dass der Käufer/Erwerber sich diesen Brief VORLEGEN lassen muss. Tut er dies nicht, handelt er grob fahrlässig. Wenn er sich diesen vorlegen lässt, er aber täuschend echt ist, so handelt er nicht grob fahrlässig. Hieraus lässt sich also erschließen, dass der Erwerber sich den Brief auf jeden Fall erstmal vorlegen lassen muss, damit er überhaupt in den „Genuss“ der Gutgläubigkeit bzw. Nicht-grobe-Fahrlässigkeit kommen kann. Mithin lautet dann die Antworte auf die Frage, dass der Erwerber sich zunächst überhaupt den Brief vorlegen lassen muss, damit er – wenn diese sehr gut gefälscht sind – von der Gutgläubigkeit profitieren kann. Wenn er den Brief sich nicht vorlegen lässt, dann handelt er eben grob fahrlässig (ungeachtet dessen, ob der Brief täuschend echt war oder nicht; diesen hat er bislang noch nie gesehen)! I.Ü. kann ich hierzu die Lektüre vom MüKo-BGB 9. Auflage, Oechsler §
932Rn. 47 ff. und 55 ff. empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Natze
26.2.2024, 21:19:25
Super, vielen Dank Leo ☺️