Vorschuss für Störungsbeseitigung? - Anwendbarkeit des § 281 BGB auf § 1004 BGB („Pappelwurzel-Fall“)


+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)

Jurafuchs

E und N sind Eigentümer benachbarter Grundstücke. Als die Wurzeln von Es Pappel auf Ns Grundstück eindringen und die gepflasterte Einfahrt beschädigen, fordert N sie zur Beseitigung auf. Als E dies verweigert, verlangt N stattdessen €2.000 für die geplante Reparatur.

Einordnung des Falls

Die Frage, inwieweit Vorschriften aus dem allgemeinen Schuldrecht auf dingliche Ansprüche (zB § 985 BGB, §§ 987 ff. BGB, § 1004 BGB) anwendbar sind, beschäftigt die Rechtswissenschaft bereits seit der Schaffung des BGB. In dieser Entscheidung nimmt der BGH erstmalig Stellung zu der Frage, ob ein Eigentümer bei Verletzung der Beseitigungspflicht nach § 1004 Abs. 1 BGB vom Störer Schadensersatz statt der Beseitigung (§§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB) verlangen kann.

Dieser Fall lief bereits im 1./2. Juristischen Staatsexamen in folgenden Kampagnen
Examenstreffer Hamburg 2023
Examenstreffer Thüringen 2023
Examenstreffer Schleswig-Holstein 2023

Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt

1. Kann N von E die Beseitigung der Wurzeln verlangen (§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB)?

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Genau, so ist das!

Der Anspruch nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB setzt voraus, dass (1) der Anspruchsteller Eigentümer ist, (2) eine Eigentumsbeeinträchtigung vorliegt, (3) der Anspruchsgegner Störereigenschaft hat, und (4) keine Pflicht zur Duldung der Störung besteht. Die eindringenden Wurzeln beeinträchtigen Ns Grundstück, indem sie die gepflasterte Einfahrt zerstören. Unabhängig davon, ob E die Pappel gepflanzt hat (=Verhaltensstörer), haftet sie als Eigentümerin der Pappel jedenfalls als Zustandsstörerin. Eine Duldungspflicht (zB naturschutzrechtliche Regelungen) ist nicht ersichtlich. Daneben steht N auch ein Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB zu.

2. Kann N über § 1004 Abs. 1 BGB nach der Rechtsprechung auch die Reparatur der Einfahrt durch erneute Verlegung der Pflastersteine verlangen?

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Ja, in der Tat!

Die Reichweite des Beseitigungsanspruchs ist umstritten. Die Rspr. vertritt, der Störer sei nicht nur zur Beseitigung der Beeinträchtigung, sondern auch zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes verpflichtet. Dies sei notwendig, um einen dem Inhalt des Eigentums entsprechenden Zustand zu schaffen und den beeinträchtigten Eigentümer ausreichend zu schützen. Durch die eindringenden Wurzeln wurden die Pflastersteine beschädigt. Da nach der Rechtsprechung die Wiederherstellung des früheren Zustandes geschuldet ist, kann N auch die erneute Verlegung der Pflastersteine verlangen. Um die Grenze des verschuldensunabhängigen Beseitigungsanspruchs zum verschuldensabhängigen Schadensersatzanspruch (§ 823 Abs. 1 BGB) nicht zu verwischen, sieht ein Teil der Literatur die Wiederherstellung vom Beseitigungsanspruch nicht umfasst. Vielmehr sei lediglich der Rückzug in den eigenen Rechtskreis (Usurpationstheorie) bzw. die gegenteilie Handlung zur Störung (actus contrarius) erforderlich. Mehr zu dem Streit, findest Du: hier!

3. Der Beseitigungsanspruch des § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB umfasst zudem auch einen Anspruch auf Vorschuss für die Kosten der Selbstvornahme.

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Nein!

BGH: Bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift (Beseitigung der Beeinträchtigung) ergebe sich, dass der Anspruch auf Störungsbeseitigung und nicht die Zahlung eines Kostenvorschusses gerichtet ist. Dies werde auch durch die Gesetzessystematik gestützt, da das BGB Vorschussansprüche nur in Ausnahmefällen gewähre, etwa im Werkvertrags- oder Auftragsrecht (RdNr. 15).

4. N kann die geplanten Kosten aber über den nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch als Vorschuss verlangen (§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog).

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Nein, das ist nicht der Fall!

Ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog setzt voraus: (1) Einwirkung von einem Grundstück auf ein anderes, (2) keine Duldungspflicht, (3) keine Unterbindungsmöglichkeit Die Einwirkung auf Ns Grundstück durch die Wurzeln übersteigt das zumutbare Maß einer entschädigungslos hinzunehmenden Beeinträchtigung. Insbesondere besteht keine Duldungspflicht nach § 906 BGB. BGH: N sei allerdings nicht an der Durchsetzung seines Abwehr- und Beseitigungsanspruches gehindert. Insbesondere umfasse dieser auch die Wiederherstellung der Einfahrt. Ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch scheide deshalb aus (RdNr. 16).

5. N könnte ein Vorschussanspruch als Schadensersatz nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281 BGB zustehen, wenn § 281 BGB auf den Unterlassungsanspruch anwendbar wäre.

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Ja, in der Tat!

Die Schadensersatzansprüche aus §§ 280 ff. BGB setzen zunächst ein bestehendes Schuldverhältnis voraus, also eine rechtliche Sonderverbindung zwischen den betreffenden Parteien kraft derer der Gläubiger berechtigt ist, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Infolge der Eigentumsstörung und dem dadurch bedingten Beseitigungsanspruch aus § 1004 BGB ist zwischen N und E ein (gesetzliches) Schuldverhältnis entstanden. Allerdings handelt es sich hierbei um einen dinglichen Anspruch, der im dritten Buch des BGB geregelt ist. Es ist umstritten, inwiefern Regelungen aus dem allgemeinen Teil des Schuldrechts (zweites Buch des BGB) auch auf dingliche Ansprüche angewendet werden können. Die Anwendbarkeit ist dabei für jede Regelung gesondert zu prüfen.

6. Steht der beeinträchtigte Eigentümer schutzlos da, wenn man § 281 BGB nicht auf den Beseitigungsanspruch anwendet?

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Nein!

Ein Teil der Rechtsprechung und Literatur lehnte bislang die Anwendung des § 281 BGB auf § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB ab: (1) Eine direkte Anwendung scheide aus. § 281 BGB setze nach seinem Wortlaut eine ursprünglich geschuldete „Leistung“ voraus. Durch eine Leistung werde das Vermögen des Gläubigers gemehrt. Daran fehle es, da es beim Beseitigungsanspruch von vornerherein nur um die Wiederherstellung der ursprünglichen Vermögenslage gehe. (2) Eine analoge Anwendung scheitere an der planwidrigen Regelungslücke. Weigere sich der Störer, könne der Eigentümer die Störung selbst beseitigen. Die Kosten hierfür könne er über die GoA oder das Bereicherungsrecht (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) ersetzt verlangen. (3) Schließlich könne auch die in § 281 Abs. 4 BGB vorgesehene Rechtsfolge (Erlöschen des Primäranspruchs) bei § 1004 BGB nicht eintreten. Der Anspruch sei mit dem Eigentum verknüpft, sodass ihn jedenfalls ein Rechtsnachfolger des Eigentümers erneut geltend machen könnte ohne an schuldrechtliche Absprachen gebunden zu sein. Es drohe damit eine doppelte Inanspruchnahme des Störers.

7. Für die Anwendbarkeit des § 281 BGB spricht die größere Flexibilität des geschädigten Eigentümers.

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Genau, so ist das!

Überwiegend wurde bislang vertreten, dass bei schuldhafter Verletzung der Beseitigungspflicht Schadensersatz statt der Leistung gefordert werden könne: (1) Hierdurch würden sachgerechtere Ergebnisse erzielt. Komme der Störer seiner Beseitigungspflicht nicht nach, könne der Eigentümer direkt über den Schadensersatz entschädigt werden. Ohne diesen Anspruch bliebe ihm nur die Möglichkeit (a) in Vorleistung zu gehen oder (b) zunächst ein Urteil auf Beseitigung zu erstreiten, um dann ggfs. im Rahmen der Zwangsvollstreckung Vorschuss zu verlangen (§ 887 Abs. 2 ZPO). (2) Auch auf die Verletzung des dinglichen Herausgabeanspruches (§ 985 BGB) werde § 281 BGB angewendet, sodass hierdurch ein Gleichlauf geschaffen werde. (3) Der Schadensersatzanspruch reiche weiter, da anders als bei einem bereicherungsrechtlichen Anspruch der Eigentümer seinen vollen Schaden und nicht nur die Ersparnis des Störers (=Bereicherung) verlangen könne. (4) Schließlich sei es unbillig, den dinglichen Gläubiger gegenüber einem persönlichen Gläubiger zu benachteiligen, indem man ihm den Schadensersatz verwehre.

8. Auch nach Auffassung des BGH sprechen die besseren Argumente für die Anwendbarkeit des § 281 BGB auf den Beseitigungsanspruch und damit letztlich für einen Vorschussanspruch.

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Nein, das trifft nicht zu!

Mit dieser Entscheidung nimmt der BGH erstmalig Stellung in dem Streit und lehnt die Anwendung letztlich ab (RdNr. 23 ff.): (1) Entsprechend der sachenrechtlichen Zielrichtung der Norm (=Telos), sei die Anwendung ausgeschlossen. Der Beseitigungsanspruch diene allein der Verteidigung des Vermögens (=Integritätsinteresse), während schuldrechtliche Ansprüche auf die Vermögensmehrung (=Leistungsinteresse) abzielen. (2) Gewähre man den Schadensersatzanspruch, so könnte der geschädigte Eigentümer Schadensersatz verlangen, ohne den Schaden zu beseitigen (=dulde und liquidiere). Dies entspräche nicht der Konzeption des Beseitigungsanspruchs. Ferner weist er auch darauf hin, dass (3) § 281 Abs. 4 BGB der Anwendung entgegenstünde, (4) es kein praktisches Bedürfnis für die Anwendung gäbe und (5) eine Gleichstellung zwischen dinglichen und persönlichem Gläubiger nicht zwingend notwendig sei (RdNr. 33-36). Wortlaut, Systematik und Historie (=Gesetzesmotive) gäben dagegen keine klare Antwort (vgl. RdNr. 24 ff.) Schau Dir die entsprechende Stelle im Urteil (RdNr. 23 ff.) am besten noch einmal an. Du wirst merken, dass der BGH sich „einfach“ des klassischen Auslegungskanons bedient, dessen Beherrschung Du auch in der Klausur unter Beweis stellen sollst.

9. Steht N gegen E vor Reparatur der Einfahrt ein Anspruch auf Kostenersatz zu?

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Nein!

(1) Ein Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1, 3 Abs. 281 BGB scheitert an der fehlenden Anwendbarkeit. (2) Ein Anspruch aus berechtigter oder unberechtigter GoA daran, dass N die Reparatur noch nicht vorgenommen und damit kein Geschäft geführt hat. (3) Weder aus § 1004 BGB noch aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog folgt ein Kostenersatz. (4) Deliktische Ansprüche (zB § 823 Abs. 1 BGB) scheitern am fehlenden Verschulden. (5) Vor der Reparatur der Einfahrt hat E noch nichts erlangt (Befreiung von Beseitigungsanspruch), sodass auch kein bereicherungsrechtlicher Anspruch (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) besteht. Denk daran, in der Klausur ist regelmäßig danach gefragt, dass Du „alle in Betracht kommenden Ansprüche“ prüfst. Viel = Vertraglich, Quatsch = Quasivertraglich schreibt = Sachenrechtlich der = deliktisch Bearbeiter = Bereicherungsrechtlich

10. Nach Auffassung des BGH besteht aber jedenfalls dann ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281 BGB, wenn der Geschädigte die Störung tatsächlich beseitigt hat.

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Nein, das ist nicht der Fall!

BGH: Zwar bestehe bei erfolgter Selbstvornahme kein Konflikt mit der Rechtsfolge des § 281 Abs. 4 BGB mehr. Aber (1) es fehle es weiterhin an dem Bedürfnis für die Anwendung des § 281 BGB, da andere Ansprüche zur Verfügung stünden. (2) Systematisch spräche zudem dagegen, dass § 281 BGB von seiner Konzeption ein Wahlrecht des Gläubigers zwischen der geschuldeten Leistung und dem Schadensersatz vorsehe (=elektive Konkurrenz). Dies habe der Eigentümer aber nicht: Vor der Beseitigung stehe ihm der Schadensersatzanspruch nicht zu. Nach der Beseitigung sei dagegen sein Erfüllungsanspruch entfallen. Die Ansprüche bestehen insoweit nie gleichzeitig, sodass kein Wahlrecht bestehe. Im Fall der Selbstvornahme steht dem Eigentümer aber ein bereicherungsrechtlicher Anspruch aufgrund der Befreiung des Störers vom Beseitigungsanspruch (§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) bzw. aus (un-)berechtigter GoA (§§ 677, 683, 670 BGB bzw. § 684 S. 1 iVm § 818 BGB) zu.

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