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Vorschuss für Störungsbeseitigung? - Anwendbarkeit des § 281 BGB auf § 1004 BGB („Pappelwurzel-Fall“)
Vorschuss für Störungsbeseitigung? - Anwendbarkeit des § 281 BGB auf § 1004 BGB („Pappelwurzel-Fall“)
14. Juli 2025
25 Kommentare
4,6 ★ (97.677 mal geöffnet in Jurafuchs)
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
E und N sind Eigentümer benachbarter Grundstücke. Als die Wurzeln von Es Pappel auf Ns Grundstück eindringen und die gepflasterte Einfahrt beschädigen, fordert N die E zur Beseitigung auf. E verweigert dies. Daraufhin verlangt N stattdessen €2.000 für die geplante, bevorstehende Reparatur.
Diesen Fall lösen 73,2 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Die Frage, inwieweit Vorschriften aus dem allgemeinen Schuldrecht auf dingliche Ansprüche (z. B. § 985 BGB, §§ 987 ff. BGB, § 1004 BGB) anwendbar sind, beschäftigt die Rechtswissenschaft bereits seit der Schaffung des BGB. In dieser Entscheidung nimmt der BGH erstmalig Stellung zu der Frage, ob ein Eigentümer bei Verletzung der Beseitigungspflicht nach § 1004 Abs. 1 BGB vom Störer Schadensersatz statt der Beseitigung (§§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB) verlangen kann.
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 10 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. Kann N von E die Beseitigung der Wurzeln verlangen (§ 1004 Abs. 1 S. 1 BGB)?
Genau, so ist das!
2. Kann N über § 1004 Abs. 1 BGB nach der Rechtsprechung auch die Reparatur der Einfahrt durch erneute Verlegung der Pflastersteine verlangen?
Ja, in der Tat!
3. Der Beseitigungsanspruch des § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB umfasst zudem auch einen Anspruch auf Vorschuss für die Kosten der Selbstvornahme.
Nein!
4. N kann die geplanten Kosten aber über den nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch als Vorschuss verlangen (§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog).
Nein, das ist nicht der Fall!
5. N könnte ein Vorschussanspruch als Schadensersatz nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281 BGB zustehen, wenn § 281 BGB auf den Unterlassungsanspruch anwendbar wäre.
Ja, in der Tat!
6. Steht der beeinträchtigte Eigentümer schutzlos da, wenn man § 281 BGB nicht auf den Beseitigungsanspruch anwendet?
Nein!
7. Für die Anwendbarkeit des § 281 BGB spricht die größere Flexibilität des geschädigten Eigentümers.
Genau, so ist das!
8. Auch nach Auffassung des BGH sprechen die besseren Argumente für die Anwendbarkeit des § 281 BGB auf den Beseitigungsanspruch und damit letztlich für einen Vorschussanspruch.
Nein, das trifft nicht zu!
9. Steht N gegen E vor Reparatur der Einfahrt ein Anspruch auf Kostenersatz zu?
Nein!
10. Nach Auffassung des BGH besteht aber jedenfalls dann ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 3, 281 BGB, wenn der Geschädigte die Störung tatsächlich beseitigt hat.
Nein, das ist nicht der Fall!
Fundstellen
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community

CR7
2.9.2023, 12:02:32
Cool, dass ihr das so schnell aufbereitet habt - Examenstreffer Thüringen 2023/II :-)

Lukas_Mengestu
4.9.2023, 10:17:45
Sehr gerne! Danke Dir für den guten Hinweis :-) Beste Grüße, Lukas

medoLaw
11.1.2024, 08:53:58
@[CR7](145419) war das im ersten oder zweiten Staatsexamen in Thüringen? (Frage, weil ich im zweiten bin)

CR7
11.1.2024, 11:26:29
@medoLaw das war im Ersten!
P K
11.9.2023, 23:56:33
Das Wortlautargument bzgl.
§ 281 BGBist m.E. sehr schwach. Der
Schadensersatz statt der Leistungbaut auf
§ 280 BGBauf. Dort liest man aber nicht von "Leistung", sondern von "Pflicht" aus dem
Schuldverhältnis. Auch der
Beseitigungsanspruchist aber ein
Schuldverhältnis im engeren Sinne, weil der Eigentümer berechtigt ist, von dem Störer ein Tun iSv § 241 I BGB zu verlangen. Bei §
985 BGBlässt die Rspr. meines Wissens nach Schadensersatz wegen Herausgabeunwilligkeit zu. Auch hier schützt der Herausgabeanspruch aber nur schon vorhandenes Vermögen, nämlich das Eigentum. Ob die Rspr. dies ausdrücklich auf eine Analogie stützt, weiß ich nicht. Zu begründen wäre daher m.E. eher, warum § 281 keine Anwendung finden sollte.
Sherwien
13.10.2023, 09:18:40
Lief im August 23 in Hamburg

Nora Mommsen
13.10.2023, 10:57:35
Danke für den Hinweis! :)
Isabelle.Sophie
1.1.2024, 12:33:22
Ich bin der Meinung der Fall lief auch in Schleswig-Holstein im Juli 2023. Mein Wissen stammt allerdings aus einem Examensreport.

Lukas_Mengestu
3.1.2024, 19:04:51
Vielen Dank, Isabelle.Sophie!

antoniasophie
7.1.2024, 22:30:10
Inwiefern mangelt es am Ver
schulden der E? also wie führe ich zu dem Ergebnis hin? Sie lässt ja zu, dass der Baum sich auf das Nachbargrundstück ausweitet, indem sie Maßnahmen unterlässt, sodass man ja zunächst an ein Ver
schulden denken könnte. oder setzt man nur an den Punkt an, wo die Wurzeln schon auf Ns Grundstück übertraten und E sich dann weigert?
Max S
11.1.2024, 19:04:11
ME wird im Ver
schulden in 823 I zu beachten sein, dass der Anküpfungspunkt das Unterlassen geeigneter Schutzmaßnahmen darstellen wird. Daher sind sowohl
Rechtswidrigkeit als auch Ver
schulden positiv festzustellen. In der
Rechtswidrigkeit lässt sich die
Verkehrspflichtverletzung mit 906 I 1 begründen. Jedoch muss auf Ver
schuldensebene der Geschädigte beweisen, dass der Nachbar gem 278 I, II fahrlässig handelte, also insbesondere dass es einem durchschnittlichen Nachbarn ersichtlich war, dass dieser Zustand eintreten würde sowie man im Verkehr unter Nachbarn regelmäßig Schutzmaßnahmen für Bäume dieser Größe und Position auf dem Grundstück erwarten könne. Der Sachverhalt gibt hierfür einfach keine Anhaltspunkte, sodass (mangels Vermutung wie im 280) vom fehlenden Ver
schulden auszugehen ist. Hinsichtlich der Weigerung stellt diese für 823 I nicht das kausale integritätsschadensbegründende Ereignis dar, auch wenn dies
schuldhaft gewesen sein mag. Sie könnte mE jedoch einen weiteren Schadensersatzanspruch auf Verzugsschaden gemäß 280 I, II, 286 iVm dem gesetzlichen
Schuldverhältnis des
Beseitigungsanspruches aus 1004 begründen, soweit der Kläger einen solchen Verzugsschaden geltend machen kann, wenn ich mich nicht irre.
Max S
11.1.2024, 19:04:49
ME wird im Ver
schulden in 823 I zu beachten sein, dass der Anküpfungspunkt das Unterlassen geeigneter Schutzmaßnahmen darstellen wird. Daher sind sowohl
Rechtswidrigkeit als auch Ver
schulden positiv festzustellen. In der
Rechtswidrigkeit lässt sich die
Verkehrspflichtverletzung mit 906 I 1 begründen. Jedoch muss auf Ver
schuldensebene der Geschädigte beweisen, dass der Nachbar gem 276 I, II fahrlässig handelte, also insbesondere dass es einem durchschnittlichen Nachbarn ersichtlich war, dass dieser Zustand eintreten würde sowie man im Verkehr unter Nachbarn regelmäßig Schutzmaßnahmen für Bäume dieser Größe und Position auf dem Grundstück erwarten könne. Der Sachverhalt gibt hierfür einfach keine Anhaltspunkte, sodass (mangels Vermutung wie im 280) vom fehlenden Ver
schulden auszugehen ist. Hinsichtlich der Weigerung stellt diese für 823 I nicht das kausale integritätsschadensbegründende Ereignis dar, auch wenn dies
schuldhaft gewesen sein mag. Sie könnte mE jedoch einen weiteren Schadensersatzanspruch auf Verzugsschaden gemäß 280 I, II, 286 iVm dem gesetzlichen
Schuldverhältnis des
Beseitigungsanspruches aus 1004 begründen, soweit der Kläger einen solchen Verzugsschaden geltend machen kann, wenn ich mich nicht irre.

antoniasophie
11.1.2024, 20:20:01
Vielen Dank für deine ausführliche und sehr nachvollziehbare Antwort! Sehe den Punkt und finde das Ergebnis auf jeden Fall schlüssig. Nur zählt ja bei Jura der Weg dahin! 👍

Sebastian Schmitt
21.12.2024, 20:26:49
Hallo @[antoniasophie](62488), der BGH führt das in seiner unserem Fall zugrunde liegenden Entscheidung nicht näher aus und stellt nur knapp fest: "Ein
schuldhaftes Verhalten der Beklagten in Bezug auf den Wurzelüberwuchs ist weder festgestellt noch sonst ersichtlich." (DNotZ 2023, 674, 675) Inhaltlich geht die Antwort von @[Max S](210195) aber sicher schon in die richtige Richtung. In der Tat haben wir in der Sachverhaltsdarstellung keinerlei Anhaltspunkte, aus denen wir auf ein Ver
schulden der E schließen könnten. Bloßes "Wachsenlassen" der Wurzeln allein wird für einen Fahrlässigkeitsvorwurf kaum ausreichen. Gehen wir mal von dem häufigen Fall aus, dass die Wurzeln vollständig unterirdisch und von außen nicht erkennbar wachsen - wie hätte E dann erkennen sollen, dass die Wurzeln sich immer weiter in Richtung/auf das Grundstück des N ausbreiten? Sofern das für sie von außen tatsächlich erkennbar gewesen wäre oder es zB einen entsprechenden vorherigen Hinweis von N gegeben hätte, könnte man über Fahrlässigkeit sicher eher nachdenken. Ohne nähere Anhaltspunkte können wir aber insoweit kaum Ver
schulden annehmen. Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team

Wesensgleiches Minus
13.3.2025, 10:41:46
§ 906 I 1 BGB erfasst doch nur Imponderabilien oder? Wurzeln sind nicht solche „unwägbaren Stoffe“. Sodass für die
Rechtswidrigkeit (bzw. mögliche Rechtfertigung) nicht auf § 906 I BGB abgestellt werden kann. Ansonsten ist aber auch keine anderweitige Duldungspflicht ersichtlich, sodass die
Rechtswidrigkeit zu bejahen ist.
Mandy
13.6.2025, 15:11:17
@[Sebastian Schmitt](263562) wie sieht es denn aus mit einer
Verkehrssicherungspflicht? Geht man davon aus, dass die Pappel durch den Eigentümer nah an die Grundstücksgrenze des Nachbarn gepflanzt wurde, trifft doch den Eigentümer der Pappel die Pflicht, dass von dieser Sache keine Schäden an fremden Rechtsgütern entstehen. Er müsste daher zumutbare Vorkehrungen treffen, die dafür Sorge tragen, dass die Wurzeln sich nicht auf das Grundstück des Nachbarn ausbreiten. In Betracht käme dann z.B. aufgrund der Nähe zum Nachbargrundstück eine Wurzelsperre in den Boden einzusetzen. Dies wäre doch grds. Auch zumutbar, vor allem, wenn aufgrund der Nähe zum Nachbargrundstück ein überwachsen der Wurzeln nahe liegt. Dies hat der Nachbar dann ja auch fahrlässig nicht getan. Anders wäre es natürlich, wenn die Pappel da schon stand und nicht ersichtlich ist, dass die Wurzeln rüberwachsen. Dann ist es ihm mE nicht zumutbar, die Erde aufzubuddeln, um sicher zu gehen, dass die Wurzeln nicht in Richtung des Nachbargrundstück wachsen. Oder wäre das zu weit hergeholt?

Gigachad1
17.4.2024, 01:53:12
Ist es nicht eine berechtigte?

Merle_Breckwoldt
23.4.2024, 13:44:09
Hallo Gigachad1, ganz genau, im Ergebnis läge eine berechtigte GoA vor! Im Fall wurde das bloß kaum mehr als angedacht, da ja bereits keine
Geschäftsbesorgungvorlag. Deshalb ist auch der Anspruch selbst aus praktischen Gründen erst einmal offen gelassen (s. auch zuvor "berechtigte oder
unberechtigte GoA"). Viele Grüße, Merl für das Jurafuchs-Team
hardymary
6.4.2025, 16:28:11
Es muss ja nur vorher der Kommentar von der Nachbarin gekommen sein, dass sie auf keinen Fall damit einverstanden wäre, dass die Wurzeln etc. von ihm weggemacht werden. Dann hat man den ausdrücklichen Willen, darf nicht auf einen mutmaßlichen Willen abstellen und es würde die echte, berechtigte GoA ausscheiden :)
Anne
15.1.2025, 10:25:57
Vielleicht könntet ihr gesondert den Fall noch hinzufügen, in welchem der BGH die Anwendbarkeit von §
985 BGBauf die §§ 280 I, III,
281 BGBbejaht hat (Urteil vom 18.03.2015). Dann könnte man mMn die Argumentation hier besser verstehen wieso § 1004 nicht auf
§ 281 BGBanwendbar ist.

Dodo S.
25.3.2025, 17:59:10
Hallo Anne, vielen Dank für Deinen Vorschlag! Wir haben ihn notiert und werden in einer der nächsten Redaktionssitzungen prüfen, inwiefern wir hierzu unsere Lerninhalte entsprechend anpassen bzw. noch weitere Aufgaben mit aufnehmen können. Beste Grüße, Dodo Shi, für das Jurafuchs-Team
sikijackson
6.4.2025, 10:03:07
Wenn man im Rahmen des 1004
Naturalrestitutionverlangen kann, wieso ist dann ein Vorschuss über 249 II nicht möglich? Sieht man die Störung des Eigentums nie als dessen Beschädigung?

Sebastian Schmitt
8.4.2025, 09:40:17
Hallo @[sikijackson](275326), zunächst mal: Selbst nach dem sehr weiten Verständnis des Anspruchsumfangs durch die Rspr wird man keine
Naturalrestitutionverlangen können, weil § 1004 I 1 BGB sonst einen ver
schuldensunabhängigen Anspruch auf SchE gäbe, der § 823 I BGB überflüssig machen und
Gefährdungshaftungstatbestände im Allgemeinen in Frage stellen würde. Dementsprechend benutzen wir den Begriff der
Naturalrestitutionauch in unserer Aufgabe nicht. Worin nun genau der Unterschied zwischen
Naturalrestitutionund § 1004 I 1 BGB liegt, ist eine einzelfallabhängige, sehr schwierige und sehr umstrittene Frage. Ich verweise dazu mal auf diesen Thread, in dem ich dazu mehr geschrieben habe: https://applink.jurafuchs.de/95k3yTWsoSb. Zu Deiner eigentlichen Frage: Unmittelbar aus § 1004 I 1 BGB geht das nicht, weil der Wortlaut der Norm offensichtlich nicht auf Kostenvorschuss gerichtet ist. Kostenvorschuss gäbe es aber über
§ 281 BGB, sofern er denn auf § 1004 I 1 BGB anwendbar wäre. Das diskutiert der BGH in der unserem Fall zugrunde liegenden Entscheidung ausführlich (BGH NJW 2023, 3722), lehnt es aber letzlich ab und begründet das eben insbesondere mit der "dinglichen Natur dieses Anspruchs [des § 1004 I 1 BGB] und seiner sachenrechtlichen Zielrichtung" (BGH NJW 2023, 3722, 3724, Rn 26). Viele Grüße, Sebastian - für das Jurafuchs-Team
Max-i
1.5.2025, 22:30:27
warum würde man einen Anspruch aus 812 abs. 1 s.1 alt.2 prüfen und nicht aus alt.1 ?
sparfüchsin
11.6.2025, 19:35:57
Gute Frage. Das Erlangte dürfte ja die Befreiung von der Verbindlichkeit aus 1004 sein. Aber genau die hat der Eigentümer ja an den Nachbarn bewusst geleistet, wenn er die Wurzeln selbst abgeschnitten hat.