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Gefährliche Weintraube - Umfang der Verkehrssicherungspflicht und Beweislastverteilung bei Sturz in Geschäftsräumen
Gefährliche Weintraube - Umfang der Verkehrssicherungspflicht und Beweislastverteilung bei Sturz in Geschäftsräumen
17. Februar 2025
42 Kommentare
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+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Kundin K sucht im Geschäft der Möbeloase GmbH (M) eine neue Couch. Dabei rutscht sie auf einer am Boden liegenden Weintraube aus, die ein Kunde verloren hat. K bricht sich die Hüfte. Es ist unklar, wann der entsprechende Teil des Geschäftes zuletzt gereinigt wurde. K verlangt Schmerzensgeld.
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Einordnung des Falls
Der vorliegende Fall ähnelt der berühmte Salatblatt-Entscheidung des BGH. Grund des Sturzes der Klägerin ist dieses Mal zwar kein Salatblatt, sondern eine Weintraube. Auch dieser Fall beschäftigt sich aber mit Verkehrssicherungspflichten in Geschäftsräumen. Da Teile des Sachverhalts unklar blieben, hatte sich der BGH zudem mit der Frage zu beschäftigen, wer denn für die Einhaltung dieser Verkehrspflicht beweisbelastet ist und knüpft dabei an seine ständige Rechtsprechung an. Der Fall enthält also alle notwendigen Zutaten für eine Examensklausur, gerade für das zweite Staatsexamen!
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K könnte einen Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB gegen M haben.
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Bestand zwischen K und M eine vertragliche Beziehung (§ 433 BGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
3. Zwischen K und M bestand allerdings ein vorvertragliches Schuldverhältnis (§ 311 Abs. 2 BGB).
Ja!
4. Da M selbst K nicht direkt geschädigt hat, scheidet eine Pflichtverletzung von vorneherein aus (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Ms Verkehrssicherungspflichten beschränken sich allerdings auf die Verhinderung von Schäden, die von Waren aus ihrem Sortiment ausgehen.
Nein, das trifft nicht zu!
6. Aus dem Umstand, dass sich K verletzt hat, folgt automatisch, dass M ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt hat.
Nein!
7. Kann K Schmerzensgeld verlangen (§ 253 BGB)?
Genau, so ist das!
8. Könnte K auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch zustehen (§ 823 Abs. 1 BGB)?
Ja, in der Tat!
9. Als Anspruchsstellerin muss K grundsätzlich die Pflichtverletzung beweisen. Obliegt ihr damit die Beweislast, dass M ihre Verkehrssicherungspflicht nicht eingehalten hat?
Nein!
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Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
ehemalige:r Nutzer:in
13.9.2023, 17:03:40
Ich finde es super, dass ihr auf die Fundstelle im Grüneberg hinweist! Das hilft sehr in der Vorbereitung aufs 2.StEx 🙏🏻

Nora Mommsen
14.9.2023, 13:18:52
Halloo Charlotte, danke dir für das Feedback! Wir
bemühen uns, neben den Kapiteln passend zum Referendariat auch die Aufgaben zum materiellen Recht mit entsprechenden Hinweisen zu ergänzen, wo es sich ergibt. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Dolusdave
14.9.2023, 14:57:48
Ist das spannende an diesem
Urteilfür das Assessorexamen nicht auch die Beweislastverteilung bei 280 I 2 BGB, dass der
Schuldner diese beweisen muss, da der Schaden in seiner Risikosphäre fällt?

Nora Mommsen
15.9.2023, 08:42:15
Hallo dolusdave, so ist es: Der BGH geht aus von der grundsätzlichen Beweislastverteilung des § 280 Abs. 1 S. 1 BGB wonach der Gläubiger die Beweislast für die Pflichtverletzung trägt, und der
Schuldner nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB der
Schuldner für das fehlende Vertretenmüssen. Er stellt dann fest, dass hier die Grenze zwischen Pflichtverletzung und Ver
schulden verschwimmt und daher diese Beweislastregel bei Schutzpflichtverletzungen nicht sinnvoll ist. Die Rechtsprechung ist nicht neu, aber der Fall ist ein schönes Beispiel, dass hinsichtlich der Verletzung von
Schutzpflichteneine Beweislastverteilung nach Gefahren- und Organisationsbereichen vorgenommen wird. Der
Schuldner muss darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass ihn keine Pflichtverletzung trifft, wenn die für den Schaden in Betracht kommenden Ursachen allein in seinem Gefahrenbereich liegen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs -Team
mcharlotte
21.11.2023, 14:54:50
Hallo, warum genau verschwimmt denn die Grenze von Pflichtverletzung und Vertretenmüssen im Rahmen der Schutzpflichtverletzungen? Wo liegt die Überschneidung? Viele Grüße!

reserle
26.11.2023, 09:27:32
Wüsstet ihr ggf. wo das im Grüneberg kommentiert ist?
P K
10.2.2024, 23:27:15
@[mcharlotte](205108) Die "Überschneidung" liegt darin begründet, dass eine
Verkehrspflichtverletzung eine handlungsbezogene Pflicht ist. Ich muss bestimmte Dinge tun, um Rechtsgüter anderer zu schützen. Im Leistungsstörungsrecht hat man es dagegen typischerweise mit erfolgsbezogenen Pflichten zu tun. Die Nichtleistung, Schlechtleistung oder
Unmöglichkeitist an sich die Pflichtverletzung. Man würde erst beim Vertretenmüssen fragen, ob der
Schuldner etwas dafür kann. Bei den
Verkehrspflichten ist das "etwas dafür können" aber immanent im Pflichtenprogramm enthalten. Lies dir mal den Maßstab der Rspr. durch und du wirst feststellen, dass er mit § 276 II BGB praktisch identisch ist. Deswegen ist im Deliktsrecht bei der Ver
schuldensprüfung auch nur zu prüfen, ob ein Ent
schuldigungsgrund (Deliktsunfähigkeit,
Sturztrunkenheit etc.) vorliegt. Eine "innere" bzw. subjektive Sorgfalt gibt es nicht.
David.
14.9.2023, 15:22:17
Das verstehe ich jetzt nicht. Im zugrundeliegenden
Urteilwäre der Anspruch aus
§ 823zu verneinen, oder nicht. Das Berufungsgericht hatte doch einen Anspruch aus 280 verneint, da die Verletzung von
Verkehrssicherungspflichten nicht feststehe. Dabei hatte das Berufungsgericht ja die Beweislastverteilung von 280 eben nicht berücksichtigt.

Paulah
14.9.2023, 17:10:57
Ich verstehe das
Urteilauch so, dass der Fall an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird. Aber nur, weil die Begründung für die Ablehnung und nicht die Ablehnung selbst
rechtsfehlerhaftwar. Also: keine Ansprüche aus
§ 823
medoLaw
8.10.2023, 12:31:57
Also wird sie wohl final kein Schmerzensgeld bekommen, oder? 🤔 Das OHG hatte lediglich eine falsche Beweislastverteilung angenommen. Es sollte wohl ein leichtes sein, die regelmäßige Reinigung nachzuweisen: zB Zeugen durch Mitarbeiter des Reinigungsunternehmens oder eigene Mitarbeiter oder auch die angesprochene Dokumentation. Wenn alle zumutbaren Maßnahmen getroffen wurden, erfolgt ja keine Zurechnung. Der BGH hat letztlich "nur" die Beweislastverteilung korrigiert.

Denislav Tersiski
22.11.2023, 16:39:35
Ist die richtige Zurechnungsnorm für einfache Angestellte nicht eher 278 S. 1 Alt 2 BGB statt
31 BGB analog, der eher für leitende Angestellte gilt?
Leo Lee
25.11.2023, 12:30:24
Hallo Denislav Tersiski, Beachte, dass
§ 278 BGBaufgrund der Systematik niemals auf den
§ 823I anwendbar ist (denn § 278 setzt ein bereits bestehendes SV voraus, während bei
§ 823I ein solches gerade erst entsteht)! Hierzu kann ich die Lektüre von MüKo-BGB 9. Auflage, Grundmann § 278 Rn. 15 ff. empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo

Vermieterpfandrechtbelastetes Anwartschaftsrecht
11.1.2024, 12:17:39
@[Denislav Tersiski](209599) Ich habe mir dieselbe Frage gestellt und bin der Meinung, dass man jedenfalls im Rahmen der deliktischen Haftung für die Zurechnung des Ver
schuldens anderer Personen als der Gesellschafter/Geschäftsführer, auf
§ 831 BGBanalog abstellen kann. Nach mE nimmt man
§ 31 BGB analoggrds. nur für die Zurechnung des Verhaltens der Gesellschafter/Geschäftsführer selbst, was auch dem Wortlaut des
§ 31 BGBentspricht, der auf einen Schaden "den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstands oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter" verursacht, abstellt.
Dogu
11.1.2024, 18:07:11
@[ozymand1as](169486) 831 ist keine Zurechnungsnorm, sondern eine Anspruchsgrundlage. Außerdem passt der Wortlaut des 31 nicht auf Gesellschafter, ansonsten wäre ja jedes Mitglied gemeint und nicht Mitglied des Vorstands.
fabiogrk
6.2.2024, 16:52:33
s.o.

Lukas_Mengestu
6.2.2024, 17:52:02
Klasse, danke für den Hinweis!
AdW
6.2.2024, 19:15:55
Lief heute auch in NRW im 2. Examen

Lukas_Mengestu
12.2.2024, 09:32:47
Klasse, danke AdW!
Katharina
30.9.2024, 16:32:14
ebenfalls Examenstreffer in Mecklenburg-Vorpommern 2024 (Assessorexamen)
dm266
5.3.2024, 11:37:24
Der Fall lief 2024 nicht in Schleswig-Holstein 😄

Lukas_Mengestu
5.3.2024, 15:07:42
Hallo dm266, kann es sein, dass Du Dich auf das erste Examen beziehst? Laut einem anderen Nutzer lief der Fall im zweiten Examen im GPA Nord, zu dem auch Schleswig-Holstein (gemeinsam mit Bremen und Hamburg) gehört. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
dm266
6.3.2024, 13:32:19
Hallo, ja, ich bezog mich auf das erste Examen. Dann nehme ich natürlich alles zurück. Sorry für den falschen Einwand

Lukas_Mengestu
7.3.2024, 11:27:13
Gar kein Problem :D
Johannes
24.4.2024, 15:05:30
Wenn die Pflichtverletzung in der Verletzung einer
Verkehrssicherungspflichtbesteht, fällt sie mit dem Vertretenmüssen zusammen, ansonsten folgt sie bereits aus der Rechtsgutsverletzung - welche eigenständige Relevanz hat dieser Prüfungspunkt dann überhaupt?
Florian
12.5.2024, 09:25:21
Leider fehlt in der Aufzählung der Funktionen die Würdefunktion.
der D
8.1.2025, 11:09:23
Hallo zusammen! Zur Lösung des Problems Beweislast Pflichtverletzung/Vertretenmüssen erschien mir folgender Ansatz sinnvoll und ich würde gerne eure Meinung hierzu hören bzw. was dagegen sprechen würde. Meiner Meinung nach liegt bei einer
Verkehrssicherungspflichtnicht zwingend eine Überschneidung von Pflichtverletzung und Vertretenmüssen und ein hieraus resultierendes Problem mit der Beweislastverteilung vor. Grundsätzlich ergibt sich aus 241 II BGB die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des (potentiellen) Vertragspartner. Ich würde jetzt so argumentieren, dass in dem Moment, in dem dieser auf der Weintraube ausrutscht schon eine Pflichtverletzung, also eine Zurückbleiben hinter dem (vor-)vertraglichen Pflichtenprogramm vorliegt, da sich die Verkaufsräumlichkeiten als Gefahrenquelle herausgestellt haben und hieraus eine Rechtsgutverletzung beim Anderen resultiert ist. Bei der Frage des Vertretenmüssen, also der Frage, ob die
im Verkehr erforderliche Sorgfaltbeachtet wurde, würde ich dann die Begriffe der Notwendigkeit und Zumutbarkeit thematisieren und an die Frage knüpfen, ob der Betreiber des Geschäfts in ausreichenden Abständen gereinigt hat. So müsste der Geschädigte nur das Ausrutschen in den Geschäftsräumlichkeiten nachweisen, während der potentiell Schadensersatzpflichtige den Nachweis zu erbringen hätte, ob er den Anforderungen an seine
Verkehrssicherungspflichten gerecht geworden ist.
P K
8.1.2025, 22:51:59
Das Problem an dieser Lösung ist doch aber letztlich, dass man dadurch objektiv auch nicht zumutbare
Verkehrspflichten anerkennen würde. Das widerspricht dem Grundsatz, dass das Unmögliche nicht verlangt werden kann. Im Ergebnis gibt es kaum ein Beweisproblem, denn die Rspr. würde hier sagen, dass es ausreicht, wenn die Geschädigte darlegt, dass sie auf einer Banane ausgerutscht ist. Dann spricht eine
tatsächliche Vermutungdafür (Anscheinsbeweis), dass der Supermarktbetreiber nicht regelmäßig gereinigt hat. Diese
Vermutungmuss er erschüttern. Genauso wird auch bei den Ausrutschfällen bei Glätte verfahren. Im praktischen Ergebnis muss der Schädiger dann darlegen, dass er gestreut oder Warnschilder aufgestellt hat oder Ähnliches.

Simon
13.1.2025, 23:01:03
Ich stimme @[P K](196201) zu. Eine Pflicht besteht nach § 241 II BGB dahingehend, Rücksicht zu nehmen auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils. Bei der Pflichtverletzung muss mithin darauf abgestellt werden, dass diese Rücksichtnahme nicht erfolgte. Gerade bei einem so weichen Maßstab wie den
Schutzpflichtenmuss aber der konkrete Umfang im
Einzelfallbestimmt werden, insbesondere unter Heranziehung der Grundrechte (Stichwort:
mittelbare Drittwirkung) und von wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dass die Traube eine Gefahrenquelle darstellt, vermag für sich allein noch keine Pflichtverletzung zu begründen. Da man also auch bei der Pflichtverletzung schon eine Abwägung anstellen muss, liegt eine gewisse Überschneidung mit dem Vertretenmüssen vor, das ja in Form der Fahrlässigkeit nach § 276 I 1 Hs. 1 Alt. 2, II BGB mit der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" ebenfalls auf eine Abwägung angewiesen ist. Insofern finde ich die BGH-Entscheidung hier absolut überzeugend. Zumal man auch eine gewisse Parallele zu den Grundsätzen Produzentenhaftung anführen kann, bei der ebenfalls eine
Beweislastumkehrstattfindet.