Zivilrecht
Examensrelevante Rechtsprechung ZR
Entscheidungen von 2022
Gefährliche Weintraube - Umfang der Verkehrssicherungspflicht und Beweislastverteilung bei Sturz in Geschäftsräumen
Gefährliche Weintraube - Umfang der Verkehrssicherungspflicht und Beweislastverteilung bei Sturz in Geschäftsräumen
+++ Sachverhalt (reduziert auf das Wesentliche)
Kundin K sucht im Geschäft der Möbeloase GmbH (M) eine neue Couch. Dabei rutscht sie auf einer am Boden liegenden Weintraube aus, die ein Kunde verloren hat. K bricht sich die Hüfte. Es ist unklar, wann der entsprechende Teil des Geschäftes zuletzt gereinigt wurde. K verlangt Schmerzensgeld.
Diesen Fall lösen 90,6 % der 15.000 Nutzer:innen unseres digitalen Tutors "Jurafuchs" richtig.
Einordnung des Falls
Der vorliegende Fall ähnelt der berühmte Salatblatt-Entscheidung des BGH. Grund des Sturzes der Klägerin ist dieses Mal zwar kein Salatblatt, sondern eine Weintraube. Auch dieser Fall beschäftigt sich aber mit Verkehrssicherungspflichten in Geschäftsräumen. Da Teile des Sachverhalts unklar blieben, hatte sich der BGH zudem mit der Frage zu beschäftigen, wer denn für die Einhaltung dieser Verkehrspflicht beweisbelastet ist und knüpft dabei an seine ständige Rechtsprechung an. Der Fall enthält also alle notwendigen Zutaten für eine Examensklausur, gerade für das zweite Staatsexamen!
Die Jurafuchs-Methode schichtet ab: Das sind die 9 wichtigsten Rechtsfragen, die es zu diesem Fall zu verstehen gilt
1. K könnte einen Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB gegen M haben.
Genau, so ist das!
Jurastudium und Referendariat.
2. Bestand zwischen K und M eine vertragliche Beziehung (§ 433 BGB)?
Nein, das trifft nicht zu!
3. Zwischen K und M bestand allerdings ein vorvertragliches Schuldverhältnis (§ 311 Abs. 2 BGB).
Ja!
4. Da M selbst K nicht direkt geschädigt hat, scheidet eine Pflichtverletzung von vorneherein aus (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB).
Nein, das ist nicht der Fall!
5. Ms Verkehrssicherungspflichten beschränken sich allerdings auf die Verhinderung von Schäden, die von Waren aus ihrem Sortiment ausgehen.
Nein, das trifft nicht zu!
6. Aus dem Umstand, dass sich K verletzt hat, folgt automatisch, dass M ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt hat.
Nein!
7. Kann K Schmerzensgeld verlangen (§ 253 BGB)?
Genau, so ist das!
8. Könnte K auch ein deliktischer Schadensersatzanspruch zustehen (§ 823 Abs. 1 BGB)?
Ja, in der Tat!
9. Als Anspruchsstellerin muss K grundsätzlich die Pflichtverletzung beweisen. Obliegt ihr damit die Beweislast, dass M ihre Verkehrssicherungspflicht nicht eingehalten hat?
Nein!
Jurafuchs ist eine Lern-Plattform für die Vorbereitung auf das 1. und 2. Juristische Staatsexamen. Mit 15.000 begeisterten Nutzern und 50.000+ interaktiven Aufgaben sind wir die #1 Lern-App für Juristische Bildung. Teste unsere App kostenlos für 7 Tage. Für Abonnements über unsere Website gilt eine 20-tägige Geld-Zurück-Garantie - no questions asked!
Fragen und Anmerkungen aus der Jurafuchs-Community
ehemalige:r Nutzer:in
13.9.2023, 17:03:40
Ich finde es super, dass ihr auf die Fundstelle im Grüneberg hinweist! Das hilft sehr in der Vorbereitung aufs 2.StEx 🙏🏻
Nora Mommsen
14.9.2023, 13:18:52
Halloo Charlotte, danke dir für das Feedback! Wir bemühen uns, neben den Kapiteln passend zum Referendariat auch die Aufgaben zum materiellen Recht mit entsprechenden Hinweisen zu ergänzen, wo es sich ergibt. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs-Team
Dolusdave
14.9.2023, 14:57:48
Ist das spannende an diesem Urteil für das Assessorexamen nicht auch die Beweislastverteilung bei 280 I 2 BGB, dass der Schuldner diese beweisen muss, da der Schaden in seiner Risikosphäre fällt?
Nora Mommsen
15.9.2023, 08:42:15
Hallo dolusdave, so ist es: Der BGH geht aus von der grundsätzlichen Beweislastverteilung des § 280 Abs. 1 S. 1 BGB wonach der Gläubiger die Beweislast für die Pflichtverletzung trägt, und der Schuldner nach
§ 280 Abs. 1 S. 2 BGBder Schuldner für das fehlende Vertretenmüssen. Er stellt dann fest, dass hier die Grenze zwischen Pflichtverletzung und Verschulden verschwimmt und daher diese Beweislastregel bei Schutzpflichtverletzungen nicht sinnvoll ist. Die Rechtsprechung ist nicht neu, aber der Fall ist ein schönes Beispiel, dass hinsichtlich der Verletzung von Schutzpflichten eine Beweislastverteilung nach Gefahren- und Organisationsbereichen vorgenommen wird. Der Schuldner muss darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass ihn keine Pflichtverletzung trifft, wenn die für den Schaden in Betracht kommenden Ursachen allein in seinem Gefahrenbereich liegen. Beste Grüße, Nora - für das Jurafuchs -Team
mcharlotte
21.11.2023, 14:54:50
Hallo, warum genau verschwimmt denn die Grenze von Pflichtverletzung und Vertretenmüssen im Rahmen der Schutzpflichtverletzungen? Wo liegt die Überschneidung? Viele Grüße!
reserle
26.11.2023, 09:27:32
Wüsstet ihr ggf. wo das im Grüneberg kommentiert ist?
P K
10.2.2024, 23:27:15
@[mcharlotte](205108) Die "Überschneidung" liegt darin begründet, dass eine Verkehrspflichtverletzung eine handlungsbezogene Pflicht ist. Ich muss bestimmte Dinge tun, um
Rechtsgüteranderer zu schützen. Im
Leistungsstörungsrechthat man es dagegen typischerweise mit erfolgsbezogenen Pflichten zu tun. Die Nichtleistung, Schlechtleistung oder Unmöglichkeit ist an sich die Pflichtverletzung. Man würde erst beim Vertretenmüssen fragen, ob der Schuldner etwas dafür kann. Bei den Verkehrspflichten ist das "etwas dafür können" aber immanent im Pflichtenprogramm enthalten. Lies dir mal den Maßstab der Rspr. durch und du wirst feststellen, dass er mit § 276 II BGB praktisch identisch ist. Deswegen ist im Deliktsrecht bei der Verschuldensprüfung auch nur zu prüfen, ob ein Entschuldigungsgrund (Deliktsunfähigkeit, Sturztrunkenheit etc.) vorliegt. Eine "innere" bzw. subjektive Sorgfalt gibt es nicht.
David.
14.9.2023, 15:22:17
Das verstehe ich jetzt nicht. Im zugrundeliegenden Urteil wäre der Anspruch aus § 823 zu verneinen, oder nicht. Das Berufungsgericht hatte doch einen Anspruch aus 280 verneint, da die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten nicht feststehe. Dabei hatte das Berufungsgericht ja die Beweislastverteilung von 280 eben nicht berücksichtigt.
Paulah
14.9.2023, 17:10:57
Ich verstehe das Urteil auch so, dass der Fall an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird. Aber nur, weil die Begründung für die Ablehnung und nicht die Ablehnung selbst
rechtsfehlerhaftwar. Also: keine Ansprüche aus § 823
medoLaw
8.10.2023, 12:31:57
Also wird sie wohl final kein Schmerzensgeld bekommen, oder? 🤔 Das OHG hatte lediglich eine falsche Beweislastverteilung angenommen. Es sollte wohl ein leichtes sein, die regelmäßige Reinigung nachzuweisen: zB Zeugen durch Mitarbeiter des Reinigungsunternehmens oder eigene Mitarbeiter oder auch die angesprochene Dokumentation. Wenn alle zumutbaren Maßnahmen getroffen wurden, erfolgt ja keine Zurechnung. Der BGH hat letztlich "nur" die Beweislastverteilung korrigiert.
Denislav Tersiski
22.11.2023, 16:39:35
Ist die richtige Zurechnungsnorm für einfache Angestellte nicht eher 278 S. 1 Alt 2 BGB statt
31 BGB analog, der eher für leitende Angestellte gilt?
Leo Lee
25.11.2023, 12:30:24
Hallo Denislav Tersiski, Beachte, dass
§ 278 BGBaufgrund der Systematik niemals auf den § 823 I anwendbar ist (denn § 278 setzt ein bereits bestehendes SV voraus, während bei § 823 I ein solches gerade erst entsteht)! Hierzu kann ich die Lektüre von MüKo-BGB 9. Auflage, Grundmann § 278 Rn. 15 ff. empfehlen :). Liebe Grüße – für das Jurafuchsteam – Leo
Vermieterpfandrechtbelastetes Anwartschaftsrecht
11.1.2024, 12:17:39
@[Denislav Tersiski](209599) Ich habe mir dieselbe Frage gestellt und bin der Meinung, dass man jedenfalls im Rahmen der deliktischen Haftung für die Zurechnung des Verschuldens anderer Personen als der Gesellschafter/Geschäftsführer, auf § 8
31 BGB analogabstellen kann. Nach mE nimmt man
§ 31 BGB analoggrds. nur für die Zurechnung des Verhaltens der Gesellschafter/Geschäftsführer selbst, was auch dem Wortlaut des
§ 31 BGBentspricht, der auf einen Schaden "den der Vorstand, ein Mitglied des Vorstands oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter" verursacht, abstellt.
Dogu
11.1.2024, 18:07:11
@[ozymand1as](169486) 831 ist keine Zurechnungsnorm, sondern eine Anspruchsgrundlage. Außerdem passt der Wortlaut des 31 nicht auf Gesellschafter, ansonsten wäre ja jedes Mitglied gemeint und nicht Mitglied des Vorstands.
fabiogrk
6.2.2024, 16:52:33
s.o.
Lukas_Mengestu
6.2.2024, 17:52:02
Klasse, danke für den Hinweis!
AdW
6.2.2024, 19:15:55
Lief heute auch in NRW im 2. Examen
Lukas_Mengestu
12.2.2024, 09:32:47
Klasse, danke AdW!
Katharina
30.9.2024, 16:32:14
ebenfalls Examenstreffer in Mecklenburg-Vorpommern 2024 (Assessorexamen)
dm266
5.3.2024, 11:37:24
Der Fall lief 2024 nicht in Schleswig-Holstein 😄
Lukas_Mengestu
5.3.2024, 15:07:42
Hallo dm266, kann es sein, dass Du Dich auf das erste Examen beziehst? Laut einem anderen Nutzer lief der Fall im zweiten Examen im GPA Nord, zu dem auch Schleswig-Holstein (gemeinsam mit Bremen und Hamburg) gehört. Beste Grüße, Lukas - für das Jurafuchs-Team
dm266
6.3.2024, 13:32:19
Hallo, ja, ich bezog mich auf das erste Examen. Dann nehme ich natürlich alles zurück. Sorry für den falschen Einwand
Lukas_Mengestu
7.3.2024, 11:27:13
Gar kein Problem :D
Johannes
24.4.2024, 15:05:30
Wenn die Pflichtverletzung in der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht besteht, fällt sie mit dem Vertretenmüssen zusammen, ansonsten folgt sie bereits aus der Rechtsgutsverletzung - welche eigenständige Relevanz hat dieser Prüfungspunkt dann überhaupt?
Florian
12.5.2024, 09:25:21
Leider fehlt in der Aufzählung der Funktionen die Würdefunktion.